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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Einschätzung Medizinstudierender zu Relevanz und aktueller Vermittlung interprofessioneller Ausbildung und ihrer Umsetzung in Lehrformaten: Vergleich von Geschlecht und Vorausbildung

Artikel Interprofessionalität

  • Ronja Behrend - Charité – Universitätsmedizin Berlin, Prodekanat für Studium und Lehre, Dieter Scheffner Fachzentrum für medizinische Hochschullehre und Ausbildungsforschung, Berlin, Deutschland
  • Anja Czeskleba - Charité – Universitätsmedizin Berlin, Prodekanat für Studium und Lehre, Dieter Scheffner Fachzentrum für medizinische Hochschullehre und Ausbildungsforschung, Berlin, Deutschland
  • Torsten Rollinger - Charité – Universitätsmedizin Berlin, Prodekanat für Studium und Lehre, Dieter Scheffner Fachzentrum für medizinische Hochschullehre und Ausbildungsforschung, Berlin, Deutschland
  • Mandy Petzold - Charité – Universitätsmedizin Berlin, Prodekanat für Studium und Lehre, Arbeitsbereich Qualitätssicherung, Berlin, Deutschland
  • Yadira Roa Romero - Charité – Universitätsmedizin Berlin, Prodekanat für Studium und Lehre, Arbeitsbereich Qualitätssicherung, Berlin, Deutschland
  • Raphael Raspe - Charité – Universitätsmedizin Berlin, Fachschaftsinitiative Medizin, Berlin, Deutschland
  • Asja Maaz - Charité – Universitätsmedizin Berlin, Prodekanat für Studium und Lehre, Team Projektsteuerung B.A. Pflege, Berlin, Deutschland
  • corresponding author Harm Peters - Charité – Universitätsmedizin Berlin, Prodekanat für Studium und Lehre, Dieter Scheffner Fachzentrum für medizinische Hochschullehre und Ausbildungsforschung, Berlin, Deutschland

GMS J Med Educ 2020;37(2):Doc13

doi: 10.3205/zma001306, urn:nbn:de:0183-zma0013068

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2020-37/zma001306.shtml

Eingereicht: 30. Januar 2019
Überarbeitet: 31. Juli 2019
Angenommen: 12. August 2019
Veröffentlicht: 16. März 2020

© 2020 Behrend et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Zielsetzung: Der interprofessionellen Ausbildung wird eine zunehmende Bedeutung für die Zusammenarbeit in der Patient*innenversorgung zugeschrieben. Im nationalen Kontext gibt es nur wenig empirische Untersuchungen zur Einschätzung von Medizinstudierenden als wichtige Stakeholder für ihre Ausbildung.

Methodik: In einer semesterübergreifenden Studiengangsevaluation des Modellstudiengangs Medizin der Charité wurden Studierende (N=2.974) online-basiert befragt. Es wurden soziodemografischen Daten (u. a. Geschlecht, Abschluss einer Ausbildung/eines Studiums) und Einschätzungen zu Relevanz und Ausmaß der Vermittlung interprofessioneller Zusammenarbeit sowie der Wunsch nach interprofessioneller Lehre in verschiedenen Lehrformaten erhoben.

Ergebnisse: Insgesamt gingen Daten von 1.019 Studierenden in die Auswertung ein. Die Relevanz interprofessioneller Zusammenarbeit wurde von den Medizinstudierenden als hoch eingeschätzt. Studentinnen bewerteten die Relevanz höher als Studenten, eine abgeschlossene Vorausbildung (Berufsausbildung oder Studium) hatte keinen zusätzlichen Einfluss. Der Vermittlungsumfang interprofessioneller Ausbildung wurde von weiblichen und männlichen Studierenden gleich niedrig einschätzt. Medizinstudierende schätzen patient*innenzentrierte, interaktive Kleingruppenformate als besonders geeignet für interprofessionelle Lehre ein. Hier zeigten sich keine Geschlechterunterschiede, der Effekt war ausgeprägter bei Studierenden mit beruflicher Vorbildung.

Schlussfolgerung: Die Einschätzung der weiblichen und männlichen Studierenden zeigt eine große Differenz zwischen eingeschätzter Relevanz und tatsächlicher Vermittlung von interprofessioneller Zusammenarbeit im Medizinstudium auf. Diese Studie liefert eine empirische Basis für eine Einschätzung des Ausmaßes und der von den Studierenden gewünschten Umsetzung in verschiedenen Lehrformaten.

Schlüsselwörter: Interprofessionelle Ausbildung, Geschlecht, Diversität, Medizinstudierende


1. Einleitung

Die interprofessionelle Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe spielt eine beständig wachsende Rolle für die bedarfsgerechte Versorgung von Patient*innen. Im Bereich der Medizin ist die Schlüsselrolle von interprofessioneller Ausbildung für die Vorbereitung auf die interprofessionelle Praxis erkannt worden [1], [2], [3]. Obgleich für den deutschen Kontext in den letzten Jahren verschiedene interprofessionelle Lehrveranstaltungen erfolgreich konzipiert und pilotiert wurden [4], sind eine Reihe grundlegender, inhaltlicher sowie struktureller Fragen bezüglich der Umsetzung interprofessioneller Lehre für diesen Kontext unbeantwortet [5], [6], [7]. Die Medizinstudierenden selbst bilden eine relevante Interessensgruppe für den Prozess der Weiterentwicklung der bestehenden Curricula, jedoch gibt es kaum empirische Untersuchungen zu den studentischen Perspektiven in Hinblick auf interprofessionelle Ausbildung. In diesem Artikel soll daher die Einschätzung der Relevanz von interprofessioneller Ausbildung, deren aktuelle Vermittlung im Studium sowie Wege für die zukünftige Curriculumsgestaltung in einer Kohorte von weiblichen und männlichen Medizinstudierenden sowie Studierenden mit und ohne einer beruflichen Vorbildung berichtet werden.

Ein Kernelement interprofessioneller Ausbildung bildet das Prinzip „miteinander, voneinander und übereinander lernen“ [8]. Die Konzepte Interprofessionalität und Diversität haben viele Gemeinsamkeiten. Hierzu gehören das Verstehen, Akzeptieren und Respektieren der Unterschiedlichkeiten von Individuen bzw. ihrer Profession, des Geschlechts und Alters, sowie des ökonomischen und soziales Status [9]. Unterschiede in den Kulturen bilden eine zentrale Dimension von Diversität. Interprofessionelle Zusammenarbeit kann als Zusammentreffen verschiedener Berufskulturen verstanden werden [10], [11]. Beiden Konzepten ist auch gemein, dass sie über ein einfaches Nebeneinander hinausgehen wollen. Die Unterschiedlichkeiten sollen vielmehr aktiv für ein gelungenes Miteinander genutzt werden. Als soziale Gelingensbedingungen bedürfen beide eines sicheren, positiven und förderlichen Umfelds.

Interprofessionelle Ausbildung ist in Deutschland ein relativ junges und wenig umgesetztes Themenfeld, insbesondere in der Medizin. „Operation Team“, eine Initiative der Robert Bosch Stiftung, hat es ermöglicht, dass eine Reihe von Pilotprojekten zu interprofessioneller Ausbildung konzipiert und erprobt wurden [4]. Diese Pilotprojekte explorierten die Umsetzung interprofessioneller Ausbildung in unterschiedlichen Inhaltsfeldern, Unterrichtsformaten und an verschiedenen Fakultäten, meist in kleinen Unterrichtsgruppen und Kohorten und häufig als extracurriculare Veranstaltungen. Im Rahmen des Programms konnten an der Fakultät der Autor*innen zwei Lehrveranstaltungen im regulären Curriculum verankert werden, in denen Interprofessionalität unterrichtet wird und die zum Teil interprofessionell auf Seiten der Dozierenden und Studierenden durchgeführt werden [12], [13]. Weiterhin sind im Rahmen des Tutorienangebots sechs verschiedene interprofessionelle Tutorien für die Studierenden wähl- und anrechenbar [14]. Beides sind jedoch punktuelle Angebote.

Für die Entwicklung oder Weiterentwicklung von Medizinstudiengängen gibt es national und international gute Erfahrungen damit, Studierende aktiv in die Curriculumsentwicklung einzubeziehen. Die Studierenden kennen das „curriculum in action“, sie repräsentieren das Produkt ihres Studiengangs und sind stimmberechtigte Mitglieder der akademischen Gemeinschaft [15], [16], [17], [18], [19]. Eine Schlüsseldomäne für studentische Partizipation bilden die Curriculumsgestaltung und -verbesserung. Diese Erfahrungen sind insbesondere für die monoprofessionelle Gestaltung von Medizinstudiengängen beschrieben. Für die interprofessionelle Weiterentwicklung der bestehenden Studiengänge gibt es im nationalen Kontext nur wenig publizierte Daten zur Perspektive der Studierenden. In einer qualitativen Analyse zur studentischen Partizipation wurde beschrieben, dass die aktive Beteiligung von Studierenden aus verschiedenen Professionen einen positiven, komplementären Effekt auf die Entwicklung und Ausgestaltung interprofessioneller Lehrveranstaltungen hatte [20]. In einer weiteren Vorarbeit wurden studentische Einschätzungen zum Ergebnis der Implementierung des Modellstudiengangs Medizin (MSM) an der Charité – Universitätsmedizin Berlin (Charité) erhoben. In dieser semesterübergreifenden Querschnittsbefragung zu 14 übergeordneten Ausbildungszielen zeigte sich, dass die interprofessionelle Zusammenarbeit von 93% der Medizinstudierenden als relevant eingeschätzt wurde, aber nur 28% der Meinung waren, dass diese auch gut in ihrem Medizinstudium vermittelt wurde [21]. In keinem der 14 Bereiche war die Lücke zwischen eingeschätzer Relevanz und Vermittlung größer als in der Domäne „Interprofessionelle Zusammenarbeit“. In der internationalen Literatur gibt es Hinweise auf Einflüsse des Geschlechts in Hinblick auf die Einschätzung und den Mehrwert interprofessioneller Lehre [22], [23].

Des Weiteren wird Unterricht in Kleingruppenformaten oder in Formaten mit Praxis- und Patientenbezug für interprofessionelle Ausbildung als geeignet beschrieben [24], [25]. Um für den nationalen Kontext empirische Informationen zur Einschätzung der Studierenden zu gewinnen, wurde der Datensatz, der zuvor genannten Querschnittsuntersuchung, an der Charité unter diesen Perspektiven weiter analysiert.

Ziel dieser Arbeit ist es, zu untersuchen, wie Studierende des MSM der Charité erstens die interprofessionelle Zusammenarbeit für ihre zukünftige ärztliche Tätigkeit bezüglich ihrer Relevanz und des Ausmaßes der Vermittlung im Curriculum einschätzen. Als Forschungsfragen (FF) wird differenziert geprüft, ob sich Unterschiede hinsichtlich dieser Einschätzungen zwischen dem Geschlecht der Medizinstudierenden (FF1.1) oder einer bereits abgeschlossenen Berufsausbildung/Studium (FF1.2) finden. Zweitens wird untersucht, in welchen aktuell bestehenden Lehrformaten Studierende sich die Integration von interprofessioneller Ausbildung wünschen (FF2). Auch für diese Forschungsfrage werden die Ergebnisse differenziert nach Geschlecht (FF2.1) und einer bereits abgeschlossenen Berufsausbildung/Studium (FF2.2) geprüft und berichtet.


2. Methode

Setting

Im Zeitraum von 2010-2016 wurde an der Charité ein integrierter, outcomeorientierter und kompetenzbasierter Modellstudiengang Medizin (MSM) entwickelt und implementiert [26]. Die Entwicklung erfolgte in einem fakultätsweiten, standardisierten und transparenten Entwicklungsprozess, in dem Studierende aktiv – im Sinne studentischer Partizipation – mitgewirkt haben. Der Studiengang umfasst 40 Module in 10 Semestern, auf die das Praktische Jahr folgt. Rund 300 Medizinstudierende werden jedes Semester immatrikuliert. Ein Merkmal sind longitudinal verankerte Lehrformate, wie z. B. „Kommunikation, Interaktion, Teamarbeit“ (KIT) oder „Problemorientiertes Lernen“ (POL). Tabelle 1 [Tab. 1] gibt einen Überblick zu den verschiedenen Lehrformaten im MSM. Wie in der Einleitung beschrieben, erfolgt interprofessionelle Lehre im Studiengang nur punktuell.

Datenerhebung und Stichprobe

Um den MSM zu evaluieren, wurden alle Medizinstudierenden, die das 1.-10. Semester abgeschlossen hatten, zu einer semesterübergreifenden Studiengangsevaluation eingeladen (N Gesamt=2.974).

Die Evaluation erfolgte als Online-Befragung von November 2017 bis Januar 2018 und wurde mithilfe der Evaluationssoftware EvaSys (Electric Paper Evaluationssysteme GmbH, Lüneburg, Deutschland) durchgeführt. Insgesamt wurden innerhalb dieses Zeitraums nach einer Einladungsmail zur Umfrage noch vier Erinnerungsmails in wöchentlichem Abstand versendet. Zusätzlich wurde mit Plakaten auf dem Campus und durch Hinweise in Semestergruppen auf Facebook für die Teilnahme an der Befragung geworben. Die Teilnahme an der Befragung war freiwillig und erfolgte pseudonymisiert. Das Vorgehen wurde im Vorfeld der Befragung datenschutzrechtlich geprüft.

Fragebogeninstrument

Die studentische Fachschaftsinitiative Medizin hat gemeinsam mit dem Qualitätssicherungsbereich und dem Dieter Scheffner Fachzentrum einen umfangreichen Fragebogen konzipiert, der neben Freitextkommentaren, single und multiple choice Fragen auch Skalafragen (5-Punkt-Likert-Skala) enthielt. Es wurden verschiedene soziodemographische Daten abgefragt, darunter das Geschlecht und ob vor Aufnahme des Medizinstudiums eine Ausbildung oder ein Studium angefangen oder abgeschlossen wurde. Inhaltlich abgefragt wurden u. a. Fragenkomplexe zur gelungenen Integration grundlagenmedizinischer und klinischer Inhalte in den Studiengang, zur Zufriedenheit der Studierenden mit den longitudinalen Lehrformaten (z. B. KIT und POL), zur Relevanz und Vermittlung der für den MSM definierten Outcomes (ergänzt um gendersensiblen und kultursensiblen Patient*innenumgang und interprofessionelle Ausbildung) sowie zur Bereitschaft zum interprofessionellen Lernen. Im Anhang 1 [Anh. 1] finden sich die für diese Veröffentlichung ausgewerteten Items des Fragebogens.

Datenauswertung

Die Verteilungen bezüglich eingeschätzter Relevanz und Ausmaß der Vermittlung sowie der Wunsch nach interprofessionellen Unterrichtsformaten wurden deskriptiv statistisch berechnet. Zur Prüfung, ob sich weibliche und männliche Studierende (F1.1) und Studierende mit und ohne vorher abgeschlossener Berufsausbildung/Studium (FF1.2) hinsichtlich der eingeschätzten Relevanz und wahrgenommenen Vermittlung von interprofessioneller Zusammenarbeit im MSM unterscheiden, wurden Zweistichproben-t-Tests eingesetzt. Mit Hilfe eines Zweistichproben-t-Tests lassen sich Unterschiedshypothesen hinsichtlich der Mittelwerte zweier Gruppen testen. Anhand einer Reihe von χ2-Verteilungstests wurde geprüft, ob sich der Wunsch nach interprofessionellem Unterricht hinsichtlich Geschlecht (männlich/weiblich; FF2.1) und Vorausbildung (abgeschlossene/s Berufsausbildung/Studium vs. kein/e Berufsausbildung/Studium begonnen oder abgeschlossen) (FF2.2) unterscheidet. Um dem Problem des multiplen Testens zu begegnen, wurden die p-Werte mittels Benjamini-Hochberg-Prozedur korrigiert [27].

Aufgrund des explorativen Charakters der Studie sind die p-Wert-Angaben deskriptiv zu interpretieren. Die deskriptiven und explorativen inferenzstatistischen Berechnungen wurden mit IBM SPSS Version 24 durchgeführt.


3. Ergebnisse

Rücklauf

An der Befragung beteiligten sich 1.019 der angeschriebenen 2.974 MSM-Studierenden (Rücklauf 34,3%). 653 (64,1%) der Studierenden gaben „weiblich“ als Geschlecht an, 345 (33,9%) „männlich“, vier (0,4%) „anderes“ und 17 (1,6%) machten keine Angabe. Die „weiblich“/„männlich“-Ratio entspricht der derzeitigen Geschlechterverteilung im Studiengang (64,5% weiblich, 35,5% männlich) [28]. Aufgrund der geringen Gruppengröße wurden diejenigen von der Auswertung ausgeschlossen, die sich nicht eindeutig dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zugeordnet haben.

Insgesamt gaben 215 Studierende (21,1%) an, bereits eine Vorausbildung (Berufsausbildung oder Studium) abgeschlossen zu haben. In den Analysen wurde diese Gruppe mit der Gruppe der Studierenden verglichen, die keine Vorausbildung begonnen oder abgeschlossen hatten (n=659). Nicht eingeschlossen wurden diejenigen, die keine Angabe machten (n=13) und diejenigen, die eine Ausbildung/Studium begonnen, aber nicht abgeschlossen haben (n=132), da aus den Daten nicht hervorgeht, wie lange die Ausbildung/das Studium bis dahin andauerte.

Das Spektrum der abgeschlossenen Ausbildungen und Studiengänge ist groß, jedoch zeigt sich eine Häufung von Gesundheitsausbildungen und -studiengängen, wie der Gesundheits- und Krankenpflege (n=65), Rettungssanitäter (n=17), Therapeutischen Berufe (n=13) sowie der Psychologie (n=16).

FF1: Einschätzung der Relevanz und des Ausmaßes der Vermittlung interprofessioneller Zusammenarbeit
Vergleich Frauen und Männer

Wie in der Einleitung beschrieben, schätzt die Gesamtkohorte der Studierenden im MSM die Relevanz interprofessioneller Zusammenarbeit insgesamt hoch ein [21]. Ein Geschlechtervergleich derselben Kohorte zeigt auf, dass Frauen die Relevanz signifikant höher einschätzen als Männer (t(966)=4,25; p<,001; MWw=4,47; SDw=,72; MWm=4,25; SDm=0,80). Die Stärke des Unterschieds (d=0,29) entspricht einem kleinen Effekt nach Cohen [29]. Für die Bewertung des Ausmaßes der Vermittlung zeigen sich keine Unterschiede zwischen weiblichen (MW=2,92, SD=1,10) und männlichen (MW=2,89, SD=1,11) Studierenden (t(913)=0,31; p=,755) (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]).

Vergleich mit und ohne abgeschlossene Berufsausbildung/Studium

Zudem wurden Studierende, die eine Ausbildung oder ein Studium abgeschlossen haben, mit Studierenden ohne Vorausbildung verglichen. Es zeigen sich keine Unterschiede zwischen Studierenden mit und ohne Vorausbildung in Hinblick auf die eingeschätzte Relevanz und das Ausmaß der Vermittlung (Relevanz: t(847)=0,22; p=,826; MWohne BA/Stud=4,40; SDohne BA/Stud=0,76; MWmit BA/Stud=4,41; SDmit BA/Stud=0,73; Ausmaß der Vermittlung: t(798)=0,47; p=,637; MWohne BA/Stud=2,90; SDohne BA/Stud=1,11; MWmit BA/Stud=2,86; SDmit BA/Stud=1,06).

FF2: Wunsch nach Unterricht mit Auszubildenden/Studierenden anderer Gesundheitsberufe in den verschiedenen Lehrformaten
Vergleich Frauen und Männer

Mehr als Dreiviertel der weiblichen Studierenden (77,4%) gaben an, in mindestens einem Unterrichtsformat interprofessionell mit Auszubildenden/Studierenden anderer Gesundheitsberufe lernen zu wollen. Von den männlichen Studierenden stimmen 72,5% mindestens einem Unterrichtsformat zu (siehe Abbildung 2 [Abb. 2]). Beide Geschlechter präferieren das longitudinale Kleingruppenformat KIT für den interprofessionellen Unterricht, gefolgt von Unterricht am Krankenbett (UaK) und Praktika. Bei den meisten Lehrformaten geben tendenziell mehr Frauen als Männer an, gerne mit Studierenden oder Auszubildenden anderer Gesundheitsberufe unterrichtet zu werden. Männer zeigen darüber hinaus die Tendenz, häufiger in keinem Format interprofessionelle Lehre zu wünschen. Keine der beobachteten Zustimmungsraten weicht signifikant von den erwarteten Häufigkeiten ab.

Vergleich mit und ohne abgeschlossene Berufsausbildung/Studium

Während 75,2% der Studierenden ohne Berufsausbildung oder Studium interprofessionelle Lehre in mindestens einem Unterrichtsformat wünschen, geben 77,3% der Studierenden mit Berufsausbildung oder Studium an, in mindestens einem Unterrichtsformat interprofessionell unterrichtet werden zu wollen (siehe Abbildung 3 [Abb. 3]). Studierende mit Vorausbildung präferieren insbesondere die klinisch-praktischen Unterrichtsformaten UaK und Untersuchungskurs (U-Kurs) für interprofessionellen Unterricht. Die statistischen Analysen zeigen, dass die beobachteten von den erwarteten Häufigkeiten signifikant bei den Wünschen nach gemeinsamen Unterricht in U-Kursen (χ2(1)=8,88; p=,012) und UaK (χ2(1)=16,55; p=,001) abweichen.


4. Diskussion

Ziel dieser Studie war es, die eingeschätzte Relevanz und das Ausmaß der Vermittlung interprofessioneller Zusammenarbeit sowie die potentielle curriculare Umsetzung aus Sicht weiblicher und männlicher Medizinstudierender zu ermitteln. Insgesamt wird deutlich, dass die Studierenden die Relevanz interprofessioneller Zusammenarbeit als Lehrinhalt deutlich höher einschätzen als es dem derzeitigen Ausmaß der Vermittlung im Studium entspricht. Dieser Effekt verstärkt sich, wenn man die Relevanz interprofessioneller Zusammenarbeit nach Geschlecht differenziert. So schätzen Frauen die Relevanz interprofessioneller Zusammenarbeit höher ein als Männer. Das Ausmaß der Vermittlung hingegen wird von Frauen und Männern gleichermaßen niedrig eingeschätzt. Offenkundig besteht aus Studierendensicht – unabhängig vom Geschlecht – ein Bedarf an Lehrinhalten zur interprofessionellen Zusammenarbeit. Dieser ermittelte Bedarf deckt sich mit den von Bildungs- und Gesundheitsexperten formulierten Forderung nach Qualifikation Medizinstudierender für interprofessionelle Zusammenarbeit und ergänzt diese aus studentischer Perspektive [2], [5].

Die befragten weiblichen und männlichen Medizinstudierenden nannten gleichermaßen vor allem praxisorientierte Kleingruppenformate als geeignet für die interprofessionelle Lehre, die die Möglichkeit zur interaktiven Auseinandersetzung miteinander bieten. Dies befindet sich im Einklang mit der internationalen Literatur, die Formate empfiehlt, die einen Praxisbezug haben und den direkten Austausch der Teilnehmenden, sowie das mit-, von- und übereinander Lernen ermöglichen [24], [25]. Männer zeigen hier die Tendenz, häufiger in keinem Format interprofessionelle Lehre zu wünschen. Dieser Befund knüpft an Forschungsergebnisse von Lindh Falk und Kolleg*innen [22], sowie Wilhelmsson und Kolleg*innen [23] an, die gezeigt haben, dass männliche Studierende weniger positiv gegenüber interprofessioneller Lehre eingestellt waren.

Studierende, die bereits eine Berufsausbildung oder ein Studium absolviert hatten, wünschen interprofessionelle Lehre häufiger in den Formaten U-Kurs und UaK, die einen stärkeren Patient*innen- und Praxisbezug haben, als Studierende ohne eine entsprechende Vorausbildung. Dies könnte dadurch erklärt werden, dass Studierende die Bedeutsamkeit interprofessioneller Kooperation für die Patient*innenversorgung vor dem Hintergrund ihrer beruflichen Vorerfahrungen in der Gesundheitsversorgung anders einschätzen.

Das Besondere an dieser Studie ist, dass sie quantitativ und auf Basis einer großen Zahl an weiblichen und männlichen Studierenden aufzeigt, wie groß die Lücke zwischen Bedarf an interprofessioneller Ausbildung und Vermittlung im Medizinstudium tatsächlich ist. Die verstärkte Integration interprofessioneller Ausbildung ist eines der zentralen Elemente im kürzlich vom Berliner Senat genehmigten Konzept für die Weiterentwicklung des MSM. Um interprofessionelle Ausbildung weiterzuentwickeln, ist 2018 ein professionsübergreifendes „Charité-Netzwerk für interprofessionelle Ausbildung“ ins Leben gerufen worden. Ein Ziel ist es, in den kommenden Jahren ein longitudinales, interprofessionelles Curriculum für den MSM zu implementieren. Dafür werden unter aktiver Beteiligung von Studierenden und Auszubildenden übergreifende Ausbildungsziele (Outcomes) für die Gesundheitsberufe und die Medizin entwickelt, die die Basis für das interprofessionelle Curriculum darstellen sollen. Studierende sind, wie es an der Charité zur Tradition geworden ist, wieder aktiv und umfänglich in alle Entwicklungsschritte als Expert*innen ihres Curriculums beteiligt.

Die vorliegende Studie hat Limitationen. Es wurden lediglich Medizinstudierende eines Modellstudiengangs von einer Medizinischen Fakultät befragt. Eine Übertragbarkeit der Aussagen auf Studierende in Regelstudiengängen, von anderen Fakultäten oder anderer Professionen ist daher nur bedingt gegeben. Der Einfluss der Vorausbildung wurde dichotom betrachtet (abgeschlossene Berufsausbildung/Studium versus keine Vorausbildung). Begonnene Ausbildungen/Studiengänge könnten ebenfalls einen Einfluss auf die Einschätzung von Relevanz haben. In folgenden Studien könnten weitere Diversitätsmerkmale, wie z.B. der kulturelle Hintergrund, betrachtet werden. Insbesondere die Befragung weiterer Professionen könnte das Bild der Studierendenperspektive sinnvoll ergänzen und eventuell vorhandene berufskulturelle Unterschiede aufzeigen.


5. Schlussfolgerung

Weibliche und männliche Medizinstudierende schreiben der interprofessionellen Zusammenarbeit eine sehr hohe Relevanz zu, wobei Studentinnen noch höhere Werte angeben. Das Ausmaß der Vermittlung wird von weiblichen und männlichen Studierenden gleichermaßen als deutlich niedriger eingeschätzt, sodass auch aus studentischer Sicht offenkundig ein großer Bedarf an Vermittlung interprofessioneller Inhalte und Kompetenzen im Medizinstudium besteht. Studierende beider Geschlechter benennen interaktive und patient*innennahe Kleingruppenformate als besonders geeignet für interprofessionelle Lehre. Dieser Effekt zeigt sich besonders bei Studierenden mit zuvor abgeschlossener Ausbildung/Studium. Das Hinzufügen der studentischen Perspektive, durch die Ergebnisse dieser empirischen Studie, ergänzt die aktuell geführte Diskussion zur interprofessionellen Weiterentwicklung des Medizinstudiums in Deutschland.


Danksagung

Die Autor*innen danken allen Studierenden, die an der Befragung teilgenommen haben, sowie der Fachschaftsinitiative, die an der Konzeption der Befragung beteiligt war. Ein besonderer Dank geht an alle Studierenden, Kolleg*innen sowie die Mitglieder der Projektsteuerung, die an der Entwicklung und Weiterentwicklung des Modellstudiengangs Medizin an der Charité beteiligt waren.


Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


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