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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Möglichkeiten der Dissemination von Fachwissen und Handlungskompetenzen im Bereich Kinderschutz in der Medizin: eine qualitative Erhebung

Artikel Kinderschutz

  • author Anna Maier - Uniklinikum Ulm, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie, Ulm, Deutschland
  • author Miriam Rassenhofer - Uniklinikum Ulm, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie, Ulm, Deutschland
  • author Ulrike Hoffmann - Uniklinikum Ulm, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie, Ulm, Deutschland
  • corresponding author Jörg M. Fegert - Uniklinikum Ulm, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie, Ulm, Deutschland

GMS J Med Educ 2020;37(1):Doc10

doi: 10.3205/zma001303, urn:nbn:de:0183-zma0013037

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2020-37/zma001303.shtml

Eingereicht: 3. Juni 2019
Überarbeitet: 9. November 2019
Angenommen: 12. Dezember 2019
Veröffentlicht: 17. Februar 2020

© 2020 Maier et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Zielsetzung: Fachkräftemangel und zeitliche Überlastung erschweren die Fortbildung von Gesundheitsfachkräften. Kinderschutz ist zudem kein systematischer Bestandteil des Medizinstudiums. Die Evaluation eines Online-Kurses zu Kinderschutz in der Medizin zeigt dessen positive Beurteilung, aber auch, dass der Hauptgrund für den Abbruch der Kursbearbeitung Zeitmangel ist. Dissemination, als aktive zielgerichtete Verbreitung von Wissen, kann helfen, Wissen zu Kinderschutz weiter in der Zielgruppe zu verbreiten. Ziel dieses Beitrages ist es, zu untersuchen, ob und wie die Inhalte des Online-Kurses von Absolvent_innen disseminiert werden können.

Methodik: Die Daten wurden mittels einer quantitativen Online-Evaluation und qualitativer Telefoninterviews mit ärztlichen Absolvent_innen des Online-Kurses erhoben und mit einer interpretativ-reduktiven Analyse ausgewertet.

Ergebnisse: Der Bedarf an Fortbildungen und Disseminationsmaßnahmen zum Thema Kinderschutz in der Medizin wird von den Befragten als hoch angesehen. Zeitmangel, eine zu geringe Relevanz des Themas wären allerdings Hürden für die Durchführung solcher Maßnahmen. Die Sinnhaftigkeit, eine Freistellung von der Arbeit oder Entlohnung würde wiederrum Anreize zur Durchführung schaffen. Teilnehmende an Disseminationsmaßnahmen könnten, z.B. durch Fortbildungspunkte, motiviert werden. Des Weiteren konnten Ansätze für die Umsetzung solcher Maßnahmen ermittelt werden.

Schlussfolgerung: Verschiedene Parameter beeinflussen die Motivation von Ärzt_innen bzgl. Durchführung/Wahrnehmung von Disseminationsmaßnahmen. Basierend darauf werden Handlungsempfehlungen für verschiedene Bereiche des Gesundheitssystems gegeben, wie z.B. die Ergänzung der Ausbildungscurricula und das Angebot von vorgefertigten Disseminationsmaterialien.

Schlüsselwörter: Gesundheitsfachkräfte, Dissemination, Fortbildung, Kindesmisshandlung, Qualitative Forschung


1. Einleitung

Der Fachkräftemangel und die damit einhergehende zeitliche Überlastung in der Medizin sind ein bekanntes und aktuelles Thema [1], [2], [3]. Gerade im medizinischen Bereich, mit stetig neuen Entwicklungen und Erkenntnissen, ist Fortbildung, die aber mit zeitlichem Mehraufwand verbunden ist, besonders wichtig. Auch im Bereich des medizinischen Kinderschutzes gab und gibt es zahlreiche neue Erkenntnisse und Gesetzesänderungen, die noch zu wenig bekannt sind und zu Unsicherheiten in der Handlungsbefugnis bei Gesundheitsfachkräften führen [4]. Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass 90% der Missbrauchsfälle in medizinischen Institutionen nicht wahrgenommen werden [5].

Wissen bzw. Bildung zur Thematik ist eine wichtige Kompetenz beim Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Misshandlungen [6]. Daher ist es wichtig, möglichst viele Gesundheitsfachkräfte zu schulen, da Fälle von Kindeswohlgefährdung in allen Bereichen der Medizin zu Tage treten können. Je weiter diesbezüglich essentielles Wissen also in der Zielgruppe verbreitet wird, desto besser kann mit (Verdachts-) Fällen umgegangen bzw. Kinder und Jugendliche entsprechenden Hilfen zugeführt werden. Der durch das Bundesministerium für Gesundheit geförderte Online-Kurs „Kinderschutz in der Medizin – ein Grundkurs für alle Gesundheitsberufe“ der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie der Uniklinik Ulm greift diese Problematik auf [https://grundkurs.elearning-kinderschutz.de/]. Der Kurs ist modular aufgebaut und enthält Lerneinheiten zu verschiedenen Themen des Kinderschutzes. Neben der Vermittlung von theoretischem Wissen durch Grundlagen- und Rechtstexte wird besonderer Wert auf fallbasiertes Lernen und den Aufbau von praktischen Handlungs- und emotionalen Kompetenzen und somit den Abbau von Handlungsunsicherheiten im Bereich des Kinderschutzes gelegt. Die Kursteilnahme ist in der Förderphase bis September 2020 kostenlos.

Die pseudonymisierte Evaluation des Kurses durch die ärztlichen Absolvent_innen zeigt eine große Zufriedenheit mit den Inhalten und deren Relevanz für die medizinische Berufspraxis. Daher ist es besonders wichtig dieses Potential zu nutzen. Deutlich wurde zudem, dass Fortbildungen zur Thematik Kinderschutz in der Medizin von den Fachkräften als zu gering eingeschätzt werden und der Zugang zu diesen flexibler werden muss. Der häufigste Grund, warum der Kurs nicht abgeschlossen wurde, ist Zeitmangel [7].

Neben der klassischen Vermittlung von Wissen, durch z.B. Fachzeitschriften oder durch externe Fortbildungsveranstaltungen, gewinnt die aktive und zielgerichtete Verbreitung von bereits vorhandenem Wissen (Dissemination) durch Kolleg_innen, Vorgesetzte etc. (Multiplikator_innen) als Teil der Fortbildung von Gesundheitsfachkräften immer mehr an Bedeutung bei der Überwindung der Problematik von Zeitmangel für Fortbildung im medizinischen Bereich [8], [9], [10].

Ziel dieses Artikels ist es daher, zu untersuchen, inwiefern eine Dissemination der Lerninhalte des Online-Kurses von Absolvent_innen an Kolleg_innen effektiv durchgeführt werden kann. Der Fokus liegt hierbei auf Motivationen und Hürden für zukünftige Teilnehmende und Multiplikator_innen, aber auch auf konkreten Möglichkeiten der Umsetzung.


2. Methoden

2.1. Teilnehmendenrekrutierung

Die Voraussetzung für die Teilnahme an einem Interview war der erfolgreiche Abschluss des Pilot-Online-Kurses „Kinderschutz in der Medizin – ein Grundkurs für alle Gesundheitsberufe“ von Juni bis November 2016, an welchem alle Gesundheitsfachkräfte teilnehmen konnten, und die Approbation als Ärzt_in. Im November 2016 wurden alle ärztlichen Absolvent_innen des Kurses schriftlich um ein Telefoninterview gebeten. Interessent_innen konnten sich einen Monat lang online registrieren und wurden anschließend mit Terminvorschlägen für das Interview kontaktiert (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]).

Mit der Teilnahme an den Interviews verpflichteten die Interviewten sich nicht zu einer Tätigkeit als Multiplikator_innen, sondern bezeugten lediglich ihr Interesse daran und wurden gebeten im Interview aus Sicht einer/eines zukünftigen Multiplikator_in zu sprechen.

Die Interviews wurden im Januar und Februar 2017 durchgeführt.

2.2. Datenerhebung

Alle Absolvent_innen des Online-Kurses mussten diesen in einem quantitativen Online-Fragebogen evaluieren. Der Fragebogen erhob auch, ob und wie Inhalte und Materialien des Online-Kurses von den Absolvent_innen bereits disseminiert wurden. Zuvor wurde den Evaluierenden erklärt, was unter Dissemination von Inhalten und Materialien des Online-Kurses verstanden wird.

Um Hypothesen generieren zu können, wie die Dissemination von Inhalten des Online-Kurses möglichst effektiv gestaltet werden kann, wurden, über die quantitative Befragung hinaus, individuelle und detaillierte Meinungen zu Motivation, Hürden und Umsetzungsmöglichkeiten mit einem qualitativen Forschungsdesign anhand halbstrukturierter, leitfadengestützter, telefonischer Einzelinterviews erhoben. Die strukturelle und inhaltliche Konzeption des Interviewleitfadens wurde, basierend auf Fachliteratur und Vorerfahrungen der Autor_innen, diskutiert und entwickelt.

Zu Beginn der Interviews wurden demographische Daten abgefragt und eine stimulierende Einstiegsfrage gestellt. Der Interviewleitfaden beinhaltete die Bereiche „Fortbildungen im Bereich Kinderschutz in der Medizin“, „Dissemination der Lerninhalte des Online-Kurses“ und „Tätigkeit als Multiplikator_in“ und befragte, getrennt nach Hürden und Motivation, zur Teilnahme/Durchführung einer Disseminationsmaßnahme. Abgeschlossen wurden die Interviews jeweils mit einer resümierenden Frage, die zum Bilanzieren der Thematik anregen sollte [11], [12], [13], [14], [15] (siehe Leitfaden im Anhang 1 [Anh. 1]).

Um den Interviewten den Zugang zu gängigen Methoden der Erwachsenenbildung zu erleichtern, da im Online-Kurs selbst keine diesbezüglichen didaktischen Kompetenzen vermittelt werden, wurde ein Methodenblatt entwickelt [16], [17], [18] (siehe Anhang 2 [Anh. 2]). Dieses wurde den Interviewten zusammen mit einem Infoblatt, in welchem u.a. das Ziel des Interviews dargestellt wurde, per E-Mail zugesandt.

Die Dauer des Interviews war auf circa 30 Minuten angelegt.

2.3. Transkription

Die Interviews wurden mit Einverständnis der Interviewten mit einem Diktiergerät aufgenommen. Anschließend wurden die Daten anonymisiert und vollständig transkribiert. Jedes Interviewtranskript wurde anschließend nochmals mit den Originalaufnahmen verglichen, um Fehler zu korrigieren und nonverbale Aspekte zu definieren.

2.4. Datenauswertung

Die quantitativen Daten aus dem Online-Fragebogen zu bisherigen Disseminationstätigkeiten wurden anhand der Analysesoftware SPSS® Version 25 ausgewertet [19].

Für die Auswertung der qualitativen Interviews wurde die interpretativ-reduktive Analyse als eine Kombination von qualitativen und quantitativen Analysen durchgeführt. Diese ordnet und kategorisiert die analysierten Daten zunächst, um anschließend relevante Aspekte herauszuarbeiten. Somit konnten starke Tendenzen sowie neue Aspekte und Innovationen aus den Interviews ermittelt werden [13], [20], [21], [22], [23]. Um die Objektivität der Auswertung so weit wie möglich abzusichern, haben unabhängige Rater mittels einer Intercoder-Reliabilitätsprüfung zwölf zufällig ausgewählte Interviews ebenfalls analysiert und Kategorien aus deren Inhalten erstellt [24].

2.5. Ethikvotum

Es liegt ein positives Ethikvotum der Ethikkommission der medizinischen Fakultät der Universität Ulm vom 16.06.2016 für das quantitative Forschungsdesign und vom 20.09.2016 für das qualitative Forschungsdesign vor.


3. Ergebnisse

An dem Online-Kurs nahmen im Pilot-Kurs insgesamt 79 Ärzt_innen teil, 63 (79,7%) haben den Kurs bestanden. Die verbleibenden 16 (20,3%) brachen den Kurs vorzeitig ab (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]). Die Hauptursache hierfür war Zeitmangel. Die Kursevaluation des Online-Kurses zeigte, dass 60,3% (n=38) der ärztlichen Absolvent_innen bereits Inhalte oder Materialien des Kurses disseminiert hatten. 88% (n=16) der verbleibenden 25 ärztlichen Absolvent_innen könnten sich vorstellen, die Inhalte oder Materialien des Kurses künftig zu disseminieren. Gründe für die Dissemination von Inhalten und Materialien waren Fortbildungsbedarf bei Kolleg_innen und die Eignung der Materialien und Inhalte aus dem Kurs. Die Weitergabe fand überwiegend mündlich und im informellen Rahmen statt (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]).

Mit 25 der 63 ärztlichen Absolvent_innen konnte schließlich ein Interview geführt werden. Tabelle 2 [Tab. 2] zeigt die demographischen Charakteristika der Interviewten.

Im Folgenden werden die Ergebnisse der Interviews bezüglich Motivation, Hürden und Umsetzungsmöglichkeiten der Dissemination von Lerninhalten aus dem Online-Kurs durch die Absolvent_innen dargestellt.

3.1. Bewusstsein und Bedeutung

In den Interviews zeigte sich, dass laut Meinung der Befragten ein zu geringes Bewusstsein für Kinderschutz in der Medizin bestehe. Dieses müsse stärker gefördert werden, um dem Thema die notwendige Aufmerksamkeit entgegen zu bringen. Die Dissemination von Wissen könne dieses Bewusstsein erhöhen, da sie über das reine Lesen von Texten hinaus hin zum Austausch mit Kolleg_innen gehe. Außerdem solle auch die mediale Verbreitung des Themas zunehmen.

3.2. Motivation zur Teilnahme an einer Disseminationsmaßnahme

Der Beurteilung der Relevanz des Themas Kinderschutz für die eigene Arbeitsrealität wird großer Einfluss für die Motivation zur Fortbildung zugeschrieben. Facharztrichtung, Konfrontation mit einem akuten Fall und Aktualität des Themas in den Medien seien wichtige Faktoren für die Beurteilung der Relevanz von Kinderschutz.

Eine weitere Motivation für Ärzt_innen sei der Zugewinn an Wissen, zu z.B. Abläufen, Rollen und Vernetzungspartner_innen im Kinderschutz, und somit an Handlungssicherheit. Dies baue Berührungs- und andere Ängste, z.B. falsche Entscheidungen zu treffen oder jemanden zu Unrecht zu beschuldigen, ab und schaffe Vertrauen in die eigenen Kompetenzen. Zudem führe dies langfristig auch zu einer Zeitersparnis, was wiederrum motivierend wirken würde.

„Und weil viel Nichtwissen auch zum Weggucken führt […]. Oder zum Nicht-Hin-Gucken führt.“
/// Ärztin zur Bedeutung von Wissen im Kinderschutz

Eine starke Motivation für Ärzt_innen, sich fortzubilden, seien zudem Fortbildungspunkte.

3.3. Motivation für die Durchführung einer Disseminationsmaßnahme durch Multiplikator_innen

Das Problem mangelnder Zeitressourcen im medizinischen Bereich ist bekannt und auch bei den potentiellen Multiplikator_innen von Bedeutung. Eine Freistellung von der Arbeit zur Vorbereitung/Durchführung einer Disseminationsmaßnahme in der Arbeitszeit würde die Interviewten motivieren, sich als Multiplikator_in zu engagieren. Die Interviewten nannten auch Bezahlung oder Aufwandsentschädigung als möglichen Anreiz.

Zudem sei die Relevanz des Themas als Motivation für das Engagement als Multiplikator_in bedeutend. Wissen zum Thema Kinderschutz im Kolleg_innen-Kreis weiterzugeben und somit schlussendlich Kindern helfen zu können, sei für viele der Interviewten eine große Motivation. Die Tatsache, dass das Fortbildungsangebot im Bereich Kinderschutz in der Medizin noch stark lückenhaft ist, würde diese intrinsische Motivation noch verstärken.

„Sinnhaftigkeit.“
/// Arzt auf die Frage, was ihn motiviert, Inhalte zum Thema Kinderschutz weiterzugeben.

Wie auch schon in der quantitativen Befragung ersichtlich wurde, seien die Inhalte des Online-Kurses nach Meinung der Interviewten geeignet zur Dissemination, müssten allerdings für eine solche Maßnahme entsprechend aufbereitet werden. Diesbezüglich bereits vorbereitete Materialien würden die Motivation zur Durchführung einer Disseminationsmaßnahme fördern. Solche Materialien könnten konkret, z.B. Präsentationsvorlagen und Übungen, aber auch Materialien zum Mitgeben oder Aushängen sein. Bei allen Materialien sollte eine Anleitung zur Umsetzung beigefügt werden, da im Online-Kurs keine didaktischen Fähigkeiten zur Dissemination vermittelt werden.

3.4. Hürden für die Teilnahme und Durchführung einer Disseminationsmaßnahme

Aufgrund des bestehenden Zeitmangels müssten Disseminationsmaßnahmen sowohl für Teilnehmende als auch für Multiplikator_innen in den Arbeitsalltag integrierbar und verpflichtend sein. Anrechnung von Arbeitszeit oder die Aufnahme des Themas Kinderschutz in das Facharztcurriculum oder in die bestehenden Fortbildungsstrukturen im Arbeitsalltag wären dabei eine Option. Für die Teilnehmenden sei zudem eine Hürde, dass Kinderschutz häufig nicht als ursprünglich medizinisches Thema angesehen werde. Ursächlich hierfür könnte der oftmals präventive Charakter des Kinderschutzes sein, der dem ursprünglich kurativen Auftrag der Medizin nicht entspreche.

„Wir werden erst tätig, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist.“
/// Ärztin zu Bewusstsein für Kinderschutz in der Medizin
3.5. Möglichkeiten und Ideen der Umsetzung einer Disseminationsmaßnahme

Für die Umsetzung der Disseminationsmaßnahmen seien auch praktische und interaktive Methoden wichtig, wobei jeder praktischen Übung ein Theorieteil vorausgehen sollte. Als Möglichkeit der Dissemination im Arbeitsalltag wurden, neben (klinik)-internen Fortbildungen, auch das Intranet angeführt, welches Informationen für alle Mitarbeitenden bereitstellen könnte.

Es wurde zudem die Wichtigkeit eines/einer Kinderschutzexpert_in für jeden medizinischen Arbeitsplatz hervorgehoben. Diese wären dann auch im Speziellen dafür qualifiziert entsprechende Disseminationsmaßnahmen durchzuführen.

Im Hinblick auf die Nachhaltigkeit einer Disseminationsmaßnahme wurde die Idee eingebracht, neben der Verbreitung von grundlegenden Kenntnissen zu Kinderschutz regelmäßige Auffrischungen des erlernten Wissens anzubieten. Hierfür könnten ebenfalls etablierte Strukturen, wie z.B. Newsletter oder Aushänge, genutzt werden.

Indem ich das halt immer wieder thematisiere. […] Vielleicht zweimal das Thema habe, mit einer Veranstaltung als Intro und die zweite als Vertiefung und dann ein halbes Jahr später, immer wieder als Refresher.
/// Ärztin zum Thema Nachhaltigkeit in der Fortbildung

4. Diskussion

Der Online-Kurs „Kinderschutz in der Medizin – ein Grundkurs für alle Gesundheitsbereiche“ hat zum Ziel, Wissen und Kompetenzen im Bereich Kinderschutz an Gesundheitsfachkräfte zu vermitteln. Die Inhalte des Online-Kurses wurden bereits positiv und als relevant für den medizinischen Berufsalltag evaluiert, allerdings zeigte sich auch, dass das Angebot an Fortbildungen zu Kinderschutz in der Medizin insgesamt als zu niedrig empfunden wird und oftmals die zeitlichen Ressourcen fehlen, um den Online-Kurs abzuschließen [7]. Um eine nachhaltige und umfassende Vermittlung von Wissen und Kompetenzen zu Kinderschutz unter medizinischem Personal zu erreichen, wurden, neben einer allgemeinen quantitativen Evaluation des Kurses, über qualitative, halbstrukturierte Interviews mit Absolvent_innen individuelle und detaillierte Meinungen zu Motivation, Hürden und Umsetzungsmöglichkeiten im Bereich der aktiven und zielgerichteten Verbreitung (Dissemination) von Inhalten aus dem Online-Kurs erhoben und ausgewertet. Die Absolvent_innen sollten dabei aus der Perspektive von künftigen Multiplikator_innen sprechen.

Es zeigte sich, dass 60,3% der ärztlichen Absolvent_innen bereits von sich aus Inhalte oder Materialien des Online-Kurses, auf Grund von Fortbildungsbedarf im Kolleg_innenkreis und der Eignung der Inhalte und Materialien, disseminiert hatten. In den qualitativen Interviews wurde dann ergänzend deutlich, dass Dissemination von Wissen zu Kinderschutz unter Gesundheitsfachkräften von den Befragten als notwendig angesehen wird, wobei oft Bedenken bezüglich der Motivation zur Fortbildung auf diesem Gebiet bestehen. Dies ist unter anderem auf die bereits bekannte Überlastung von Gesundheitsfachkräften zurückzuführen [1], [2], [3]. Des Weiteren kann ein Mangel an Wissen auch zu Berührungsängsten mit der Thematik führen. Das Bewusstsein für das Thema Kinderschutz in der Medizin wird noch als gering eingeschätzt.

Die Interviews zeigten aber auch, dass verschiedene Parameter eine wichtige Rolle für die Motivation von Ärzt_innen bezüglich der Fortbildung allgemein und der Dissemination im Speziellen im Bereich Kinderschutz spielen. Basierend darauf können Schlussfolgerungen für verschiedene Bereiche des Gesundheitssystems gezogen werden.

4.1. Möglichkeiten auf Seiten öffentlicher Institutionen

Fort- und Weiterbildungen im ärztlichen Bereich sind in Deutschland durch die Bundesärztekammer, als bundesweites Gremium der Landesärztekammern, geregelt [25]. Aktuell ist das Thema Kinderschutz lediglich für die Facharztweiterbildung in der Kinder- und Jugendmedizin, Kinderchirurgie, Kinderradiologie und Rechtsmedizin verpflichtend [26].

Da Kindesmisshandlung aber verschiedenste Fachgebiete tangieren kann, sollten auch Ärzt_innen in anderen Facharztweiterbildungen Grundkenntnisse hierzu besitzen. Daher muss Kinderschutz in die Weiterbildungscurricula aller Fachrichtungen, die mit Kindern oder Jugendlichen arbeiten, aufgenommen werden.

Zudem liegt es in den Händen des Staates, mehr Stellen für Fachkräfte zu schaffen, die sich überwiegend dem Kinderschutz widmen. Dies bestätigt auch die Empfehlung des Deutschen Ärztetages von 2017, welcher die Etablierung von Kinderschutzgruppen in allen Einrichtungen, die Kinder betreuen, empfiehlt [27]. Die Steigerung medialer Präsenz könnte außerdem eine Möglichkeit sein, dem Thema mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

4.2. Möglichkeiten auf Seiten stationärer und ambulanter Einrichtungen

Die Ergebnisse der Interviews haben bestätigt, dass Mitarbeitende durch die Freistellung bzw. Anrechnung von Arbeitszeit oder Entlohnung dazu motiviert würden, Disseminationsmaßnahmen anzubieten bzw. wahrzunehmen. Darüber hinaus sollten Einrichtungen die Möglichkeit schaffen, eine Kinderschutzfortbildung regelmäßig und zum aktuellen Stand abzuhalten. Außerdem kann das Intranet als Austauschplattform für Inhalte und Materialien zur Verfügung gestellt werden.

4.3. Möglichkeiten auf Seiten der Multiplikator_innen

Die finale Wissensdissemination liegt bei den Multiplikator_innen. Ein wesentlicher Punkt dabei ist, die Inhalte in möglichst knapper Form weiterzugeben und Priorisierungen vorzunehmen. Die Maßnahmen sollten außerdem so gestaltet sein, dass sie langfristig zu einer Zeitersparnis im Arbeitsalltag führen. Dies sollte schon vor der Veranstaltung klar verdeutlicht werden, um die Motivation der Zielgruppe zu steigern.

Wichtig bei der Umsetzung der Maßnahmen ist außerdem ein Mix zwischen Theorie- und Praxismethoden. Theoriemethoden können dabei der Einführung und dem Erlangen grundlegenden Wissens, Praxismethoden dem Erlernen praktischer Fähigkeiten dienen. Zudem werden Fortbildungspunkte als starke Motivation zur Teilnahme an Fortbildungsveranstaltungen genannt. Eine entsprechende Zertifizierung der Disseminationsmaßnahme kann bei der entsprechenden Landesärztekammer beantragt werden.

Auf Grund der begrenzten zeitlichen Ressourcen von Gesundheitsfachkräften sollte das zu Grunde liegende Fortbildungsangebot bereits vorbereitete Disseminationsmaterialien bereitstellen.

4.4. Limitationen

Abschließend muss einschränkend erwähnt werden, dass die Interviewten nur eine Auswahl an Gesundheitsfachkräften darstellen. Ärzt_innen sind maßgebliche Akteur_innen im Bereich der Fortbildung von Gesundheitsfachkräften und die Ergebnisse aus diesem Grund eine gute Basis für weitere Rückschlüsse auf andere medizinische Berufsgruppen. Ob die Ergebnisse aber auf die Gesamtgruppe der Ärzt_innen bzw. auf andere Gesundheitsbereiche übertragbar sind, wurde nicht untersucht. Es kann davon ausgegangen werden, dass vor allem diejenigen, die ein erhöhtes Interesse am Thema Kinderschutz haben und den Online-Kurs positiv beurteilen, an einem Interview teilgenommen haben. Da Ziel der Untersuchung die Identifikation von Möglichkeiten und Hürden von Dissemination und nicht eine Evaluation des Online-Kurses war, ist die Zusammensetzung der Interviewten aber angebracht. Des Weiteren kann soziale Erwünschtheit bei den Antworten auftreten. Um dem entgegenzuwirken, wurde im Interview auf die Wertungsfreiheit aufmerksam gemacht, die Fragen im Interview-Leitfaden wurden offen formuliert, um Vorabbeeinflussungen auszuschließen. Die Daten wurden pseudo- bzw. anonymisiert, dies wurde den Teilnehmenden vor der jeweiligen Befragung mitgeteilt, um sozial erwünschte Antworten zu vermeiden.


5. Schlussfolgerungen

Zusammenfassend berichten die Interviewten von einem hohen Bedarf und der Wichtigkeit von Fortbildungen zum Thema Kinderschutz in der Medizin. Es zeigt sich außerdem die Motivation, unter bestimmten Voraussetzungen eine Disseminationsmaßnahme durchzuführen und als Multiplikator_in zu fungieren. Dabei sind die Inhalte des Online-Kurses „Kinderschutz in der Medizin – ein Grundkurs für alle Gesundheitsberufe“ gut geeignet, um disseminiert zu werden. Diese sollten aber in entsprechenden Materialien, wie z.B. Präsentationsvorlagen oder Übungen, so aufbereitet werden, dass die Inhalte möglichst einfach und effektiv von Multiplikator_innen disseminiert werden können.


6. Erklärungen

7.1. Ethik

Ein positives Ethikvotum der medizinischen Fakultät der Universität Ulm liegt vor. Es handelt sich nicht um medizinische Forschung am Menschen, daher ist die Übereinstimmung mit den ethischen Standards der Deklaration von Helsinki und dem Genfer Gelöbnis gegeben.

7.2. Beiträge der Autor_innen

AM entwickelte das Forschungsdesign, führte die Datenerhebung durch, wertete die Ergebnisse aus und verfasste das Manuskript. MR, UH und JMF unterstützen bei allen Schritten der Studie, und trugen zur Interpretation der Daten und der Erstellung des endgültigen Manuskriptes bei. Alle Autor_innen haben das endgültige Manuskript gelesen und genehmigt.

7.3. Finanzielle Unterstützung

Das Projekt „Entwicklung eines E-Learning Programms „Kinderschutz in der Medizin – ein Grundkurs für alle Gesundheitsberufe““ wird vom Bundesministerium für Gesundheit im Rahmen „Förderung der Kindergesundheit“ unter dem Förderkennzeichen [ZMVI1-2515KIG002] gefördert. Planung, Durchführung und Auswertung der Interviews und Erstellung des Manuskriptes ist Teil der Doktorarbeit von AM und erhielt somit keine finanzielle Unterstützung.

7.4. Verwendetes Interviewmaterial

Maier A. Dissemination von Inhalten des Online-Kurses "Kinderschutz in der Medizin - ein Grundkurs für alle Gesundheitsberufe" [Motivationen, Hürden, Umsetzungsmöglichkeiten und Methoden]. Telefoninterview.


Danksagung

Dank geht an alle 25 Freiwilligen, welche für ein Interview zur Verfügung standen und das Forschungsprojekt somit maßgeblich unterstützt haben.

Frau Anne Straube und Frau Lena Preiß unterstützten die Arbeit mit der Durchführung der Intercoder-Reliabilitätsprüfung.

Dank geht außerdem an das „Transkriptionsbüro Birgit Maier“, welches die Interviews transkribiert hat.


Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


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