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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Wenn die Strategie der Struktur folgen muss…

Leitartikel Medizinstudium

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  • corresponding author Sigrid Harendza - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, III. Medizinische Klinik, Hamburg, Deutschland

GMS J Med Educ 2019;36(4):Doc47

doi: 10.3205/zma001255, urn:nbn:de:0183-zma0012550

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2019-36/zma001255.shtml

Eingereicht: 23. Juni 2019
Überarbeitet: 3. Juli 2019
Angenommen: 5. Juli 2019
Veröffentlicht: 15. August 2019

© 2019 Harendza.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Leitartikel

Der „Masterplan Medizinstudium 2020“ gibt für das Medizinstudium Strukturen vor. Beispielsweise sollen die Auswahl von Studienplatzbewerberinnen und -bewerbern zielgerichteter und das Studium selbst praxisnäher gestaltet werden [Masterplan Medizinstudium 2020, https://www.bmbf.de/files/2017-03-31_Masterplan%20Beschlusstext.pdf, abgerufen am 22.6.2019]. Doch müsste nicht eigentlich die Struktur der Strategie folgen? Dieser vom Wirtschaftshistoriker Alfred D. Chandler Jr. in den 1960er Jahren geprägte Leitsatz „die Struktur folgt der Strategie“ [1], der noch heute bei der Gestaltung von Unternehmen Gültigkeit hat, dürfte auch bei der Auswahl von Medizinstudierenden und bei der Weiterentwicklung eines praxisnäheren Medizinstudiums nicht unwichtig sein. Für Unternehmen gilt, dass sich ohne einen Kundennutzen, auf den die Unternehmensstrategie abzielt, gemäß derer die erforderlichen Unternehmensstrukturen gestaltet werden, kein wirtschaftlicher Erfolg einstellt. Für das Medizinstudium sind jedoch die Strukturen politisch gesetzt. Daher werden alle in der medizinischen Aus- und Weiterbildung Tätigen noch stärker gefordert, zukunftsfähige und wissenschaftlich gut begründbare Strategien für die Auswahl und Ausbildung von Medizinstudierenden innerhalb dieses Rahmens zu entwickeln, damit die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung langfristig in angemessener Weise gewährleistet ist.

In dem derzeit vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Verbundprojekt zur Studierendenauswahl „stav“ [Studierendenauswahl – Verbund; https://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/stav-studierendenauswahl-verbund-8229.php, abgerufen am 22.6.2019] beschäftigen sich Studiengangsentwicklerinnen und -entwickler sowie Lehrende mehrerer deutscher Universitäten damit, die Auswahlverfahren für das Medizinstudium neu zu gestalten. Im Fokus stehen hierbei einerseits Tests, die die kognitive Studierfähigkeit messen, z.B. der Test für Medizinische Studiengänge (TMS) [2], oder Tests, die naturwissenschaftliche Grundkenntnisse erfassen, z.B. der Hamburger Naturwissenschaftstest (HAM-Nat) [3]. Andererseits werden Auswahlfahren weiter entwickelt und erprobt, die sich mit ärztlicher Haltung beschäftigen. Ein solches Verfahren ist beispielsweise der sogenannte Situational Judgement Test (SJT) für professionelles Verhalten [4]. Bei diesem Verfahren bewerten die Studienplatzbewerberinnen und -bewerber den Fortgang von dargebotenen Situationsschilderungen, in denen der Situation angemessenes oder unangemessenes Verhalten für den nächsten Handlungsschritt beschrieben oder bewertet werden soll. SJTs, bei denen der Situation unangemessene Verhaltensweisen ausgewählt werden sollten, weisen offenbar eine bessere konvergente Validität auf als SJTs, bei denen Verhaltensweisen ausgewählt werden sollten, die man professioneller Weise zeigen sollte [5]. Studierende auszuwählen, die neben den gewünschten kognitiven Fähigkeiten für ein Medizinstudium auch geeignete Persönlichkeitseigenschaften mitbringen, die späteres professionelles Verhalten vorhersagen, scheint ein guter Ansatz für die weitere Entwicklung ärztlicher Haltung zu sein. Der wissenschaftliche Nachweis hierfür ist jedoch durch weitere longitudinale Ausbildungsforschungsprojekte erst noch zu erbringen.

Um Strategien zu entwickeln, mit denen sich die strukturell geforderte größere Praxisnähe im Medizinstudium erreichen lässt, scheinen Persönlichkeitseigenschaften und Motivation ebenfalls wichtig zu sein, da in der ärztlichen Tätigkeit Wissen, Fertigkeiten und Haltung als Voraussetzungen für kompetentes Verhalten miteinander verwoben sind. Die verschiedenen Aspekte der ärztlichen Rollen sind in den Lernzielen der medizinischen Kompetenzen zusätzlich im Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog Medizin (NKLM) [NKLM, http://www.nklm.de, abgerufen am 22.6.19] abgebildet. Verschiedene Facetten ärztlicher Kompetenzen, beispielsweise das Erlernen kommunikativer Fertigkeiten, sind in den meisten medizinischen Curricula schon umgesetzt. Eine Synthese der Kompetenzen, wie sie in der ärztlichen Praxis erforderlich ist, wäre als strategische Entwicklung in den medizinischen Curricula wünschenswert, da hier noch Defizite bei den Medizinstudierenden zu entdecken sind. Im Rahmen des vom BMBF geförderten Verbundprojektes „ÄKHOM“ [Ärztliche Kompetenzen: Hamburg – Oldenburg – München; https://www.kompetenzen-im-hochschulsektor.de/aekhom/ abgerufen am 22.6.19], in dem fortgeschrittene Medizinstudierende in der ärztlichen Rolle an einem simulierten ersten Arbeitstag mit einer 360-Grad Bewertung ärztlicher Kompetenzen teilnahmen, ließen sich einige Defizite beispielhaft zeigen. In der Ausprägung der Kompetenzfacette „Struktur, Arbeitsplanung und Dringlichkeit“ erhielten die Teilnehmenden die niedrigsten Bewertungen [6], während sie sich gleichzeitig in der Managementphase des Assessments mit interprofessionellen Interaktionen, wo diese Kompetenzfacette besonders wichtig ist, am stärksten beansprucht fühlten [7]. Besonders bedeutsam für die ärztliche Praxis sind in der Zusammenführung der Kompetenzen das Erlernen des klinischen Argumentierens [8], der Umgang mit Unsicherheit, der bereits als Kriterium in Auswahlverfahren für Medizinstudierende eingesetzt wurde [9], und die Entwicklung einer schuldzuweisungsfreien medizinischen Arbeitskultur [10]. Vor diesem Hintergrund bieten sich gute Ansatzpunkte zu weiteren strategischen Entwicklungen medizinischer Curricula mit größerer Praxisnähe.

Wie sich damit umgehen lässt, wenn bei der Weiterentwicklung des Medizinstudiums aufgrund politischer Vorgaben die Strategie der Struktur folgen muss, ist in der vorliegenden Ausgabe im Positionspapier zum Masterplan 2020 zu lesen [11]. Über verschiedene Feedbackmethoden, die Studierende bei der Selbstreflexion und beim Einüben professioneller Haltung unterstützen, und deren Einsatz im Medizinstudium berichten Kunz et al. in dieser Ausgabe [12]. Dass sich klinisches Argumentieren – und damit gleichzeitig das Aushalten von Unsicherheit – auch mit modernen Lernmethoden wie virtuellen Patientinnen und Patienten studieren lässt, beschreibt Huwendiek in seiner Arbeit in dieser Ausgabe [13]. Ebenso scheint bewusstes Üben eine geeignete Methode zu sein, spezifische Kompetenzen zu erwerben, wie Waechter et al. darstellen [14]. Die Herausforderungen, für den ärztlichen Beruf geeignete Medizinstudierende auszuwählen und zu kompetenten Ärztinnen und Ärzten mit professioneller Haltung auszubilden, sind groß. Medizinische Ausbildungsforschung, die Evidenzen dafür liefert, mit welchen Methoden sich Medizinstudierende auswählen und die Ziele des Medizinstudium mit größerer Praxisnähe am besten erreichen lassen, bleibt für die Weiterentwicklung der Auswahlverfahren und bei der Gestaltung der medizinischen Curricula also weiterhin unerlässlich.


Interessenkonflikt

Die Autorin erklärt, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel hat.


Literatur

1.
Chandler AD. Strategy and structure: chapters in the history of the American industrial enterprise. Boston: MIT Press; 1962.
2.
Kadmon G, Kirchner A, Duelli R, Resch F, Kadmon M. Warum der Test für Medizinische Studiengänge (TMS)? [What is the purpose of the German Aptitude Test for Medical Studies (TMS)?] Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes. 2012;106(2):125-130. DOI: 10.1016/j.zefq.2011.07.022 Externer Link
3.
Hissbach JC, Klusmann D, Hampe W. Dimensionality and predictive validity of the HAM-Nat, a test of natural sciences for medical school admission. BMC Med Educ. 2011;11:83. DOI: 10.1186/1472-6920-11-83 Externer Link
4.
Schubert S, Ortwein H, Dumitsch A, Schwantes U, Wilhelm O, Kiessling C. A situational judgement test of professional behaviour: development and validation. Med Teach. 2008;30(5):528-533. DOI: 10.1080/01421590801952994 Externer Link
5.
De Leng WE, Stegers-Jager KM, Born MP, Themmen AP. Integrity situational judgement test for medical school selection: judging 'what to do' versus 'what not to do'. Med Educ. 2018;52(4):427-437. DOI: 10.1111/medu.13498 Externer Link
6.
Prediger S, Fürstenberg S, Berberat PO, Kadmon M, Harendza S. Interprofessional assessment of medical students' competences with an instrument suitable for physicians and nurses. BMC Med Educ. 2019;19(1):46. DOI: 10.1186/s12909-019-1473-6 Externer Link
7.
Fürstenberg S, Prediger S, Kadmon M, Berberat PO, Harendza S. Perceived strain of undergraduate medical students during a simulated first day of residency. BMC Med Educ. 2018;18(1):322. DOI: 10.1186/s12909-018-1435-4 Externer Link
8.
Custers EJFM. Theories of truth and teaching clinical reasoning and problem solving. Adv Health Sci Educ Theory Pract. 2019. DOI: 10.1007/s10459-018-09871-4 Externer Link
9.
Geller G. Tolerance for ambiguity: an ethics-based criterion for medical student selection. Acad Med. 2013;88(5):581-584. DOI: 10.1097/ACM.0b013e31828a4b8e Externer Link
10.
Collins ME, Block SD, Arnold RM, Christakis NA. On the prospects for a blame-free medical culture. Soc Sci Med. 2009;69(9):1287-1290. DOI: 10.1016/j.socscimed.2009.08.033 Externer Link
11.
Schnabel K, Bauer D. Position of the Advisory and Executive Board of the German Association for Medical Education (GMA) regarding the "Masterplan for Medical Studies 2020". GMS J Med Educ. 2019;36(4):Doc46. DOI: 10.3205/zma001254 Externer Link
12.
Kunz K, Burkert M, Heindl F, Schüttpelz-Brauns K, Giesler M. The frequency of using certain feedback methods in the teaching of medicine: A survey of teachers at the medical faculties in Baden-Wurttemberg. GMS J Med Educ. 2019;36(4):Doc45. DOI: 10.3205/zma001253 Externer Link
13.
Huwendiek S. Design and implementation of virtual patients for learning of clinical reasoning. GMS J Med Educ. 2019;36(4):Doc33. DOI: 10.3205/zma001241 Externer Link
14.
Waechter J, Reading D, Lee CH, Walker M. Quantifying the medical studuent learning curve for ECG rhythm strip interpretation using deliberate practice. GMS J Med Educ. 2019;36(4):Doc40. DOI: 10.3205/zma001248 Externer Link