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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Stärkung der Patientenorientierung und Patientensicherheit im Gesundheitswesen – von der kompetenzorientierten und interprofessionellen Ausbildung zur sektorenübergreifenden Versorgung

Leitartikel Interprofessionelle Ausbildung

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  • corresponding author Jana Jünger - Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen (IMPP), Mainz, Deutschland
  • author Eckhard Nagel - Universität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften, Bayreuth, Deutschland

GMS J Med Educ 2019;36(3):Doc32

doi: 10.3205/zma001240, urn:nbn:de:0183-zma0012406

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2019-36/zma001240.shtml

Eingereicht: 16. April 2019
Überarbeitet: 7. Mai 2019
Angenommen: 7. Mai 2019
Veröffentlicht: 16. Mai 2019

© 2019 Jünger et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Leitartikel

Patientenorientierung und Patientensicherheit haben sich in der Diskussion um die Qualitätsverbesserung der Patientenversorgung zu immer bedeutsamer werdenden Aspekten entwickelt. Auf der Gesundheitsministerkonferenz 2018 wurde die Einbeziehung von Patienten*innen in sie betreffende Fragen und Entscheidungen der gesundheitlichen Versorgung als ein grundlegendes Element zukunftsweisender Gesundheitspolitik beschlossen. In gleicher Weise zielt auch der Nationale Krebsplan auf eine Stärkung der Patientenorientierung [1]. Dies steht im Einklang mit dem Masterplan Medizinstudium 2020 [2], der in der Ausbildung auf eine frühzeitige und konsequente Orientierung an den Patienten*innen und ihren Bedürfnissen hinwirkt. Erreicht werden soll dies insbesondere durch eine stärkere Bedeutung des fachübergreifenden Zusammenwirkens und eine effektive Zusammenarbeit mit den Angehörigen anderer Berufe des Gesundheitswesens, die im Wesentlichen in gemeinsamer Ausbildung gelernt werden soll (Maßnahme <7>1) sowie durch die Stärkung des Praxisbezugs in der Ausbildung und in den Prüfungen (u.a. Maßnahmen <6>, <14>, <15> und <23> bis <27>2).

Folgerichtig werden Patientenorientierung und Kompetenzvermittlung im Rahmen der Weiterentwicklung des Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkataloges Medizin und der Neugestaltung und Umstrukturierung der fakultären Prüfungen und medizinischen Staatsexamina und der dazugehörigen Gegenstandskataloge (GKs) aufgegriffen und als wesentliche Ziele der Ausbildung definiert. Diese Themen gewinnen jedoch nicht nur in der Medizin an Bedeutung, sondern auch in Ausbildungsgängen anderer Gesundheitsberufe. Die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände beispielsweise fordert analog zu den Innovationen im Medizinstudium die Kompetenzorientierung in der Ausbildung von Pharmazeuten*innen [3]. Ein entsprechender Lernzielkatalog [3] hat jedoch bislang kaum Eingang in die pharmazeutische Ausbildung und keine Berücksichtigung im pharmazeutischen GK und in den Staatsexamina gefunden. Bei der geplanten Reform der Ausbildung von Psychotherapeuten*innen soll ebenfalls eine vermehrte Kompetenzorientierung sichergestellt werden. Heilberufe wie Gesundheits- und Krankenpflege, Physiotherapie, Logopädie oder Hebammen erweitern ihre Ausbildung in Anlehnung an internationale Entwicklungen auch im deutschsprachigen Raum durch Hochschulstudiengänge und befassen sich dabei ebenfalls zunehmend mit der Patienten- und Kompetenzorientierung im Versorgungsprozess [4]. Damit können bereits in der Ausbildung Brücken zwischen den jeweiligen Fachberufen gestärkt werden und dazu beitragen, dass die vielfältig geforderte engere Zusammenarbeit zwischen den Berufsgruppen im Sinne einer interprofessionellen Ausbildung und Einübung von Kooperation für eine qualitativ hochwertige Patientenversorgung genutzt wird.

Dies kann auch Auswirkungen auf die sogenannte sektorenübergreifende Versorgung haben, die bereits seit längerer Zeit als ein zentrales Desiderat zur Stärkung der Patientenorientierung im Gesundheitssystem angestrebt wird. So wurden in den letzten Jahren zahlreiche Gesetze verabschiedet, die die Patientenorientierung in der Versorgung und der sektorenübergreifenden Gestaltung von Behandlungspfaden verbessern sollen [5]. Beispiele hierfür sind das Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der Gesetzlichen Krankenversicherung [6], das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und Prävention, das Krankenhaus-Entlassmanagement nach § 39 Abs. 1a SGB V sowie das Gesetz für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen („E-Health Gesetz“ – Etablierung digitaler medizinischer Anwendungen, z. B. elektronischer Arztbrief, einheitlicher Medikationsplan, elektronische Patientenakte). Dennoch kommt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen zu dem Schluss, dass bei geringen Gestaltungsmöglichkeiten seitens der potentiellen Vertragspartner*innen und unverändert engen Reglementierungen eine starke Abschottung der einzelnen Leistungssektoren weiterbesteht [7].

Inwieweit hängt dies nun mit der Ausbildung und den Prüfungen in den Gesundheitsberufen zusammen? Bedarfsgerechte Versorgung orientiert sich vor allem auch an der Kompetenz der in den bestehenden Strukturen handelnden Personen und Professionen. Veränderungen im Hinblick auf die Ausbildung der Berufsgruppen können somit eine zentrale Strategie bei der Etablierung einer integrierten und sektorenübergreifenden Versorgung werden. Bisher wurde dieser Bereich jedoch kaum dahingehend genutzt und ein sektorenübergreifendes, interprofessionelles, arbeitsplatzbasiertes Training spielt – abgesehen von Modellprojekten – bisher weder in der Aus- und Weiterbildung noch in den staatlichen Prüfungen eine relevante Rolle. Wenn man aber davon ausgeht, dass die frühe berufliche Sozialisation in den klassischen professionellen Silostrukturen prägend für die Absolventen und Berufsanfänger ist, dann kann hier bereits in den Professionen eine Offenheit für Innovationen und sektorenübergreifende Verbesserungsprozesse gefördert werden. Derzeit werden im Ausbildungs- und hochverdichteten Arbeitsalltag gesetzgeberische Initiativen zur Stärkung der Patientenorientierung häufig als zusätzliche Belastung erlebt. Diese Wahrnehmung ist konträr zu dem gerade bei Absolventen*innen und Berufsanfängern*innen stark ausgeprägten ärztlichen und heilberuflichen Ethos. Es kann angenommen werden, dass resignative Zustände und Burnout-Raten von 20% der Studierenden bereits im Praktischen Jahr und Zustände der Überforderung im ersten Berufsjahr bei ca. der Hälfte der Assistenzärzte*innen hier in einem Zusammenhang stehen könnten. Burnout und Überforderung führt nachgewiesenermaßen zu einer Beeinträchtigung der Patientensicherheit und Patientenorientierung [8], [9], [10].

Konsequente Patientenorientierung bedeutet im Praxisalltag darüber hinaus auch eine gezielte Stärkung der patientenseitigen Gesundheitskompetenz. Patienten*innen informieren sich vor ihrer Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen häufig im Internet anhand qualitativ unterschiedlicher Quellen [11]. Um diese Information adäquat bewerten zu können, müssten in Deutschland mindestens die Hälfte der Patienten*innen eine umfassende Schulung in ihrer Gesundheitskompetenz erhalten [12]. Zudem verändert sich durch die zunehmende Digitalisierung die Arzt-Patient*in-Beziehung, die von zentraler Bedeutung für eine erfolgreiche diagnostische und therapeutische Planung ist [13].

Es stellt sich also die Frage, wie eine Stärkung der Patientenorientierung und Patientensicherheit durch Fortschritte in der Ausbildung und den fakultären und staatlichen Prüfungen erzielt werden kann. Dazu bedarf es vornehmlich einer Integration der interprofessionellen und intersektoralen Inhalte, sowohl in die Ausbildung, als auch in die jeweiligen Prüfungen aller Gesundheitsberufe. Diese Inhalte sollten kompetenzorientiert ausgerichtet werden, sich in den professionsspezifischen Gegenstandskatalogen wiederfinden und im Voraus interprofessionell abgestimmt werden. Unter anderem deshalb hat das Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen (IMPP) im Januar 2019 zusätzlich zu der Medizin mit der Neugestaltung der Gegenstandskataloge in der Pharmazie und Psychotherapie begonnen. Zu den fächer- und professionsübergreifenden Inhalten gehören u. a. Kommunikation, intra- und interprofessionelle Zusammenarbeit, professionelles Handeln, wissenschaftliches Arbeiten sowie Führung und Management. Ein übergeordneter Schwerpunkt ist dabei die interprofessionelle Gestaltung der Lernziele zu Patientensicherheit und Patientenorientierung.

Um eine inhaltliche Verbindung von professionsspezifischer und interprofessioneller Ausbildung zur sektorenübergreifenden Versorgung herzustellen, wurde ein Gremium (GK-Kommission) geschaffen, in dem auf nationaler Ebene thematische Schwerpunktsetzungen diskutiert und reflektiert werden. Mit Repräsentant*innen aus insgesamt 50 Einrichtungen und Institutionen der Gesundheitsversorgung sind alle wichtigen Instanzen in dieser GK-Kommission vertreten: von den Krankenkassen bis zur Selbstverwaltung, von der Qualitätssicherung bis zur Politik, von den Patienten*innen bis zu den Studierenden-Vertretungen. Eine Übersicht der beteiligten Institutionen ist unter folgender URL einsehbar: [https://www.impp.de/informationen/kompetenzorientierte-gegenstandskataloge.html]. Aufgabe der GK-Kommission ist es, anhand von Versorgungsdaten, die Ausrichtung und Schwerpunktsetzung in den Absolventenprofilen und Kompetenzen zu reflektieren sowie ggf. Impulse für neue Inhalte zu geben. Dieses Gremium begleitet die Entwicklung der IMPP-Gegenstandskataloge für Medizin, Pharmazie und Psychotherapie.

In conclusio können Patientenorientierung und Patientensicherheit durch die konsequente Weiterentwicklung einer kompetenzorientierten Ausbildung sowie der staatlichen Prüfungen professionsspezifisch wie interprofessionell gestärkt werden. Gemeinsam mit der Stärkung der patientenseitigen Gesundheitskompetenz wird dadurch ein substantieller Beitrag zu einer sektorenübergreifenden und damit qualitativ hochwertigeren Gesundheitsversorgung geleistet.


Anmerkungen

1<7> Wir erwarten, dass die Hochschulen aufbauend auf den gemachten Erfahrungen gemeinsame Lehrveranstaltungen mit Auszubildenden bzw. Studierenden anderer Gesundheitsfachberufe verstärkt in ihre Curricula aufnehmen.

2<6> Das IMPP wird bei der Überarbeitung der Gegenstandskataloge die bisherigen Prüfungsinhalte reduzieren und den neuen Lernzielen anpassen, einen größeren Praxisbezug herbeiführen und allgemeinmedizinische Inhalte stärker in den Fokus nehmen.
<14> In Zukunft werden klinische und theoretische Inhalte vom ersten Semester an und bis zum Ende der Ausbildung miteinander verknüpft. Teilstudienplätze gehören damit der Vergangenheit an.
<15> Lehrpraxen werden verstärkt in die ärztliche Ausbildung einbezogen. Um ein ausreichendes Netz an Lehrpraxen aufzubauen, werden die medizinischen Fakultäten neue Praxen rekrutieren und Lehrärztinnen und Lehrärzte qualifizieren. Wir erwarten, dass Ärztekammern und Kassenärztliche Vereinigungen sowie die ärztlichen Berufsverbände dies unterstützen. Die Ausbildung selbst steht weiterhin unter der Aufsicht der medizinischen Fakultäten.
<23> Nach dem ersten Studienabschnitt wird eine einheitliche staatliche Prüfung vorgegeben. Diese besteht aus einem schriftlichen (nach vier Semestern) und einem mündlich-praktischen Teil (nach sechs Semestern). Der mündlich-praktische Teil wird ggfs. als eine strukturierte klinisch-praktische Prüfung im Sinne des Prüfungsformats „Objective Structured Clinical Examination“ (OSCE) durchgeführt.
<27> Das IMPP entwickelt für die Ein- und Durchführung der OSCE-Prüfungen in der Ärztlichen Prüfung verbindlichen Vorgaben; dies beinhaltet auch die Standardisierung der mündlich-praktischen Prüfung am Patientenbett und Vorgaben zur Prüferqualifizierung.


Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

1.
Bundesministerium für Gesundheit. Nationaler Krebsplan. Aktueller Stand. Handlungsfelder, Ziele, Umsetzungsempfehlungen und Ergebnisse. Berlin: Bundesministerium für Gesundheit; 2017. Zugänglich unter/available from: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/N/Nationaler_Krebsplan/Nationaler_Krebsplan-Zieluebersicht.pdf Externer Link
2.
Bundesminsterium für Bildung und Forschung. Masterplan Medizinstudium 2020. Berlin: Bundesministerium für Bildung und Forschung; 2017. Zugänglich unter/available from: https://www.bmbf.de/files/2017-03-31_Masterplan%20Beschlusstext.pdf Externer Link
3.
Bundesapothekerkammer. Kompetenzorientierter Lernzielkatalog Pharmazie – Perspektivpapier "Apotheke 2030". Empfehlungen der Bundesapothekerkammer. Verabschiedet von der Mitgliederversammlung der Bundesapothekerkammer am 29.11.2017. Berlin: Bundesapothekerkammer; 2017. Zugänglich unter/available from: https://www.abda.de/fileadmin/assets/Ausbildung_Studium_Beruf/KLPP/KLP-P_17_11_29_BAK-MV.pdf Externer Link
4.
Küther G. Die Akademisierung der therapeutischen Gesundheitsfachberufe in Deutschland. Eine Übersicht über bisherige Entwicklungen. Phys Rehab Kur Med. 2013;23(04):205-212. DOI: 10.1055/s-0033-1348260 Externer Link
5.
Jaeckel R, Schatz I. Einfluss innovativer Versorgungsformen auf eine stärkere Patientenorientierung im Gesundheitswesen. In: Amelung V E, Eble S, Hildebrandt H, Lägel R, Knieps F, Ozegowski S, Schlenker RU, Sjuts R, editors. Patientenorientierung: Schlüssel für mehr Qualität. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft; 2015. p.48-54.
6.
Bundestag der Bundesrepublik Deutschland. Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Versorgungsstärkungsgesetz) vom 16. Juli 2015. Bundesgesetzbl. 2015;30(I):1211-1244. Zugänglilch unter/available from: http://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl115s1211.pdf Externer Link
7.
Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Bedarfsgerechte Steuerung der Gesundheitsversorgung. Gutachten 2018. Berlin: Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen; 2018. Zugänglich unter/available from: https://www.svr-gesundheit.de/index.php?id=606 Externer Link
8.
Koehl-Hackert N, Schultz JH, Nikendei C, Möltner A, Gedrose B, van den Bussche H, Jünger J. Belastet in den Beruf - Empathie und Burnout bei Medizinstudierenden am Ende des Praktischen Jahres. Z Evid Fortbild Qual Gesundheitswes. 2012;106(2):116-124. DOI: 10.1016/j.zefq.2012.02.020 Externer Link
9.
Stefanescu MC, Sterz J, Hoefer SH, Ruesseler M. Young surgeons' challenges at the start of their clinical residency: a semi-qualitative study. Innov Surg Sci. 2018;3(4):235-243. DOI: 10.1515/iss-2018-0015 Externer Link
10.
Panagioti M, Geraghty K, Johnson J, Zhou A, Panagopoulou E, Chew-Graham C, Peters D, Hodkinson A, Riley R, Esmail A. Association between Physician Burnout and Patient Safety, Professionalism, and Patient Satisfaction: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA Intern Med. 2018;178(10):1317-1330. DOI: 10.1001/jamainternmed.2018.3713 Externer Link
11.
Bertelsmann Stiftung. Wer suchet, der findet - Patienten mit Dr. Google zufrieden. Gesundheitsinfos Daten, Analysen, Perspektiven. Nr. 2. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung; 2018. Zugänglich unter/available from: http://daebl.de/GH88 Externer Link
12.
Schaeffer D, Vogt D, Berens E-M, Hurrelmann K. Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland. Ergebnisbericht 2016. Bielefeld: Universität Bielefeld; 2016. Zugänglich unter/available from: http://www.uni-bielefeld.de/gesundhw/ag6/downloads/Ergebnisbericht_HLS-GER.pdf Externer Link
13.
Bork U, Weitz J, Penter V. Apps und Mobile Health - Viele Potenziale noch nicht ausgeschöpft. Dtsch Arztebl. 2018;115(3):62-66.