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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Lehr- und Lernraum hausärztliche Famulatur – eine qualitative Studie zu Erfahrungen von Medizinstudierenden und Hausärzten

Artikel Allgemeinmedizin

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  • author Kirsten Gottlob - Universitätsklinikum Tübingen, Institut für Allgemeinmedizin und Interprofessionelle Versorgung, Tübingen, Deutschland
  • author Stefanie Joos - Universitätsklinikum Tübingen, Institut für Allgemeinmedizin und Interprofessionelle Versorgung, Tübingen, Deutschland
  • corresponding author Hannah Haumann - Universitätsklinikum Tübingen, Institut für Allgemeinmedizin und Interprofessionelle Versorgung, Tübingen, Deutschland

GMS J Med Educ 2019;36(3):Doc28

doi: 10.3205/zma001236, urn:nbn:de:0183-zma0012369

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2019-36/zma001236.shtml

Eingereicht: 17. Juli 2018
Überarbeitet: 10. Januar 2019
Angenommen: 1. Februar 2019
Veröffentlicht: 16. Mai 2019

© 2019 Gottlob et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Zielsetzung: Seit der Änderung der Approbationsordnung für Ärzte im Jahr 2012 ist eine vierwöchige Famulatur im hausärztlichen Bereich abzuleisten. Bisher ist kaum bekannt, wie diese Lehr- bzw. Lernsituation von den Beteiligten wahrgenommen wird. Ziel dieser Untersuchung ist es, Erfahrungen von Medizinstudierenden und Hausärzten auf die Lehr- und Lernsituation in der Famulatur in der hausärztlichen Versorgung zu explorieren.

Methoden: Es erfolgte eine qualitative Analyse mit Leitfaden-gestützten Einzelinterviews mit 12 Studierenden der Universität Tübingen sowie 17 Hausärzten aus dieser Region. Die Auswertung erfolgte analog der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring.

Ergebnisse: Neben dem Aufgabenspektrum und dem besten Zeitpunkt der Famulatur wurden die Teilnehmer vor allem zu Stärken, Schwächen sowie Verbesserungsvorschlägen der Famulatur befragt. Die Famulatur wurde überwiegend positiv wahrgenommen, wobei der Pflichtcharakter kritisiert wurde. Insbesondere positiv bewertet wurde die 1:1-Betreuung und der im Vergleich zum Blockpraktikum längere Zeitraum. Hausärzte und Studierende beanstandeten das Fehlen von Lernzielen zur Orientierung und Strukturierung der Famulatur.

Schlussfolgerung: Die Famulatur in der hausärztlichen Versorgung bietet insgesamt gute Lernmöglichkeiten für Medizinstudierende und die Möglichkeit, für den Hausarztberuf zu begeistern. Auch wenn die Verpflichtung im Zuge des Masterplans 2020 entfallen sollte, wäre es wünschenswert Möglichkeiten zur Verbesserung der Famulatur Allgemeinmedizin zu erarbeiten. Die Entwicklung eines Logbuchs für Studierende sowie eines Lernzielkatalogs stellen hilfreiche Ideen dar.

Schlüsselwörter: Famulatur, Allgemeinmedizin, medizinische Ausbildung


1. Einleitung

Die Famulatur ist ein wichtiger praxisorientierter Abschnitt des Medizinstudiums. Seit der Änderung der Approbationsordnung für Ärzte (ÄAppO) 2012 muss gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 3 ÄAppO eine einmonatige Famulatur in einer Einrichtung der hausärztlichen Versorgung, d.h. in einer Allgemeinarztpraxis, bei einem hausärztlich tätigen Internisten oder bei einem niedergelassenen Pädiater, abgeleistet werden. Im Jahr 2002 wurde ferner ein Blockpraktikum Allgemeinmedizin in das Curriculum aufgenommen, welches seit 2012 für eine Mindestdauer von zwei Wochen durch alle Studierenden absolviert werden muss. Ziel dieser Änderungen der Approbationsordnung war es, zukünftige Ärzte für eine spätere Tätigkeit in der hausärztlichen Versorgung zu begeistern [1]. Bekannt ist, dass ein früher Kontakt mit dem Fach Allgemeinmedizin im Studium, und auch eine längere Praktikumszeit beim Hausarzt positive Faktoren für eine spätere Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin und eine Niederlassung sind [2], [3], [4], [5]. Eine Studie aus den USA zeigt, dass Studierende nach einem 3-wöchigen curricularen Praktikum in der Allgemeinmedizin ein erhöhtes Interesse gegenüber der Allgemeinmedizin aufweisen [6].

Abgesehen vom zeitlichen Rahmen macht die ÄAppO keine Vorgaben für die Famulatur, insbesondere sind der ÄAppO keine Lehr- oder Lernziele für die Famulatur zu entnehmen. Auch der Wissenschaftsrat greift in seinen „Empfehlungen zur Weiterentwicklung des Medizinstudiums in Deutschland“ vom Juli 2014 das Thema Famulatur nicht auf [7]. Die jeweiligen medizinischen Fakultäten haben keinen Einfluss auf die Wahl der Praxis durch die Studierenden. Somit ist davon auszugehen, dass es Struktur- und Qualitätsunterschiede zwischen den Hausarztpraxen gibt, in denen Medizinstudierende famulieren. Um dem entgegen zu wirken, hat sich eine 2013 „gemeinsame Arbeitsgruppe Pflichtfamulatur“ u.a. von Deutscher Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), Hausärzteverband und der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland (bvmd) zusammengefunden und eine „Lern- und Lehrhilfe in der Famulatur“ veröffentlicht, anhand derer sich Studierende und Lehrärzte orientieren können [8].

Eine Befragung zu Lerninhalten der Famulatur unter Haus- und Lehrärzten in Niedersachsen zeigte, dass insbesondere klassische hausärztliche Tätigkeiten wie Anamnese und körperliche Untersuchung als relevante Lerninhalte eingestuft wurden [9]. Am Institut für Allgemeinmedizin der Technischen Universität (TU) München wird seit 2011 ein fachübergreifendes Konzept zur Famulatur Allgemeinmedizin angeboten. Das Münchner Modell FAMULATUM bietet Famulaturmentoren, begleitendes E-Learning und zielorientiertes Lernen anhand eines Lernzielkatalogs. Es hat zum Ziel, die Famulatur Allgemeinmedizin zu verbessern und in ihrer Attraktivität zu steigern [10]. Im europäischen wie auch außereuropäischen Ausland ist das Konzept Famulatur weniger bekannt, es dominieren curricular verankerte klinische Praktika [11], [12]. In Österreich beispielsweise wurde an der Medizinischen Universität Graz 2007 eine fünfwöchige Pflichtfamulatur Allgemeinmedizin eingeführt, welche sowohl durch die Lehrpraxen als auch durch die Studierenden sehr gut evaluiert wurde [13]. Die Pflichtfamulatur wurde dort 2014 durch ein 4-wöchiges Praktikum im Rahmen des klinisch praktischen Jahres ersetzt [14].

Auch in anderen Fachgebieten ist die Famulatur ein bisher wenig untersuchter Bereich. Eine Studie aus der Orthopädie und Unfallchirurgie zeigt, dass es große Unterschiede innerhalb der Famulatur bzgl. „Praxisbezug der studentischen Tätigkeiten, Aufbau und Struktur [...] und [dem] Erreichen der Lernziele“ gibt [15]. Auch in einer qualitativen Studie in der Chirurgie wurden das „Fehlen definierter Ausbildungsziele für praktische Fertigkeiten“ und eine starke „Abhängigkeit von der Motivation und dem Interesse einzelner Lehrender“ kritisiert [16].

Wenig bekannt ist über das Erleben der Famulatur in der hausärztlichen Versorgung durch Studierende und die anbietenden niedergelassenen Hausärzte. An der Medizinischen Fakultät Tübingen wird die Famulatur in der hausärztlichen Versorgung in der Regel durch die Studierenden vor dem curricularen Blockpraktikum, welches im 10. Semester kurz vor dem Praktischen Jahr stattfindet, absolviert. Allen Hausarztpraxen in Baden-Württemberg steht die Möglichkeit einer Famulaturförderung (160 €/Monat, max. 2 Monate je Famulus), welche an den Famulus weitergegeben werden soll, über die Kassenärztliche Vereinigung zu. Ob und wie sich Studierende auf die Famulatur vorbereiten und wie im Umfeld der Medizinischen Fakultät Tübingen Famulaturplätze in der hausärztlichen Versorgung ausgewählt werden, ist unbekannt. Die im Folgenden dargestellte explorative Untersuchung hat zum Ziel, Erfahrungen mit der Lehr- und Lernsituation Famulatur in der hausärztlichen Versorgung von Medizinstudierenden und Hausärzten im Umfeld der Medizinischen Fakultät Tübingen zu explorieren. Hierbei sollen insbesondere die Aspekte Akzeptanz, Umsetzung und bisherige Erfahrungen mit der Famulatur in der hausärztlichen Versorgung beleuchtet werden.


2. Methoden

Für die vorliegende explorative Studie wurde ein qualitativer Forschungsansatz mit leitfaden-gestützten Einzelinterviews von Hausärzten und Studierenden gewählt. Es wurden Einzelinterviews geführt, um eine gegenseitige Beeinflussung der Teilnehmer zu vermeiden. Die Rekrutierung der Hausärzte erfolgte über das Arztverzeichnis der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg in den Regionen Tübingen, Reutlingen und Rottenburg. Insgesamt wurden 76 Hausärzte in zwei Rekrutierungswellen per Zufall aus der Liste ausgewählt und daraufhin angeschrieben, von denen sich 17 Hausärzte zur Teilnahme bereit erklärten (erste Rekrutierungswelle jeder vierte Arzt aus dem Arztverzeichnis, zweite Rekrutierungswelle jeder zweite Arzt aus dem Arztverzeichnis mit Ausnahme derer, die bereits kontaktiert worden waren; Rücklaufquote 22%). Um den Hausärzten einen zusätzlichen Zeitaufwand zu ersparen, wurden die Interviews telefonisch durchgeführt. 12 Studierende der Medizinischen Fakultät Tübingen wurden interviewt, welche sich nach einem Studienaufruf per E-Mail an alle Studierenden zwischen dem sechsten und zehnten Fachsemester zur freiwilligen Teilnahme bereit erklärt hatten. Da die genaue Anzahl der angeschriebenen Studierenden nicht bekannt war, konnte keine Rücklaufquote ermittelt werden. Alle Studierenden hatten die Famulatur in der hausärztlichen Versorgung absolviert. Alle Interviews wurden transkribiert. Die inhaltsanalytische Auswertung erfolgte durch ein Team von zwei Auswertenden, einer Studentin der Humanmedizin und einem Facharzt für Allgemeinmedizin. In Anlehnung an Mayring wurden deduktiv und induktiv geleitet inhaltliche Haupt- und Unterkategorien gebildet [17]. Abschließend wurde das Material vergleichend bearbeitet: erst wurden die Textstellen innerhalb einer Kategorie verglichen und dann ein Vergleich zwischen den Kategorien durchgeführt. Für die vorliegende Studie lag ein positives Ethikvotum durch die Ethikkommission der Medizinischen Fakultät Tübingen vor (Aktenzeichen 694/2015BO2).


3. Ergebnisse

Es nahmen 17 Hausärzte und 12 Studierende an den Interviews teil. Tabelle 1 [Tab. 1] beschreibt die soziodemographischen Daten und Praxischarakteristika. Hausärzte und Studierende beantworteten unter anderem Fragen zu den im Folgenden dargestellten, ausgewählten deduktiv gebildeten Hauptkategorien „Assoziationen zur Famulatur Allgemeinmedizin“, „Stärken der Famulatur“, „Schwächen der Famulatur“ sowie „Verbesserungsvorschläge“. Zusätzlich war die Abgrenzung zwischen Blockpraktikum Allgemeinmedizin und Famulatur in der hausärztlichen Versorgung Bestandteil der Fragen an die Lehrärzte unter den befragten Hausärzten. Die detaillierten Ergebnisse sind aus Gründen der Übersichtlichkeit in Anhang 1 [Anh. 1] (Inhaltliche Haupt- und ausgewählte Unterkategorien aus Interviews mit den Hausärzten) und Anhang 2 [Anh. 2] (Inhaltliche Haupt- und ausgewählte Unterkategorien aus Interviews mit Studierenden) dargestellt.

In den Interviews wurden die folgenden, ausgewählten positiven Aspekte zur Famulatur genannt: Studierende betonten die Vielseitigkeit des Faches und den engen Patientenkontakt, sowie auch die komplexen Krankheitsbilder, die sie intellektuell herausforderten. Die 1:1-Betreuung wurde von den Studierenden als klare Stärke bewertet. Von anderen Studierenden wurde hervorgehoben, dass „eigene Patienten übernommen“ werden konnten. Letzteres wurde von den Hausärzten nicht erwähnt. Die Hausärzte wiederum gaben an, dass sie Studierende für die Allgemeinmedizin begeistern konnten. An ausgewählten Kritikpunkten wurde z.B. von einigen Studierenden angeführt, dass die Famulatur teils zu passiv war bzw. es wenige Möglichkeiten gab, eigenständig zu arbeiten. Vereinzelt wurde von Studierenden die Allgemeinmedizin nicht als eigenes Fach wahrgenommen und die Famulatur nur als Pflicht angesehen. Ein weiterer Aspekt, der von Studierenden und Hausärzten als einschränkender Aspekt betont wurde, war der Zeitdruck in der Praxis. Außerdem wurde von einigen Hausärzten berichtet, dass es für Studierende in der Praxis schwieriger sei, Patientenkontakt aufzubauen, da die Patienten oft auf den Hausarzt als Behandler fixiert seien. Vereinzelt wurde von einigen Hausärzten die Sorge aufgegriffen, dass die Studierenden die Allgemeinmedizin unterschätzten.

Als Verbesserung wünschten sich die Studierenden einen Leitfaden, sowohl für sich selbst, als auch für Hausärzte, um eine bessere Aufgabenzuteilung und Lernzielorientierung zu gewähren. Bei den Hausärzten wurde unter anderem ein finanzieller Ausgleich für den größeren Zeitaufwand als Verbesserungsvorschlag erwähnt.

Als weitere Ergebniskategorie wurde die Abgrenzung zum Blockpraktikum Allgemeinmedizin gebildet (nicht im Anhang 1 [Anh. 1] und Anhang 2 [Anh. 2] dargestellt). Als Unterschied wurde genannt, dass die Famulanten ein geringeres klinisches Wissen hätten und weniger eigenständig arbeiten würden [Anmerkung: Das Blockpraktikum findet an der Medizinischen Fakultät Tübingen am Ende des klinischen Abschnitts im 10. Fachsemester statt.]: „Also die Blockpraktiker sind halt weiter, und können dann mehr. Mit denen kann man dann eher über komplexe Krankheitsbilder oder so diskutieren. […]“ {HA16}

Als positiv hervorgehoben wurde, dass man bei einer Famulatur zu einem früheren Zeitpunkt Interesse für das Fach wecken könne und man auch individueller auf die Studierenden eingehen könne: „Der Nachteil ist im Blockpraktikum, das sind Studenten, die überwiegend entschieden sind in der Berufswahl und einem dann auch klar signalisieren, sie machen das nur, weil sie müssen, haben aber kein Interesse in Allgemeinmedizin.“ {HA9} Außerdem wurde positiv angemerkt, dass die Famulatur im Vergleich zum achttägigen Blockpraktikum über einen längeren Zeitraum ginge. Die Blockpraktikanten seien häufig zu sehr auf ihre zu benotenden Leistungen fixiert, während die Famulanten hier freier wirkten. In Hinblick auf organisatorische Aspekte wurde angemerkt, dass Famulanten aufgrund der Mehrbelastung durch Blockpraktikanten abgelehnt werden müssten.


4. Diskussion

Ziel der vorliegenden Arbeit war es, Akzeptanz, Umsetzung und Erfahrungen mit der Famulatur Allgemeinmedizin von Hausärzten und Studierenden zu explorieren.

Aus dem vorliegendem Interviewmaterial wurde erkenntlich, dass das Interesse am Fach Allgemeinmedizin unter Medizinstudierenden durch die Famulatur beeinflusst und die Haltung gegenüber der Allgemeinmedizin verändert werden kann (vgl. Kategorien „Assoziationen mit dem Begriff „Famulatur Allgemeinmedizin““ sowie „Stärken der Famulatur“, Anhang 2 [Anh. 2]). Dieses Phänomen ist auch aus der internationalen Literatur bekannt. Aufgrund der international geringen Verbreitung des Konzepts Famulatur finden sich allerdings vor allem Untersuchungen zu curricularen Veranstaltungen, analog des Blockpraktikums. Eine Untersuchung von Morrison et al. zeigte, dass Studierende nach Abschluss eines Praktikums Allgemeinmedizin der Universität Glasgow (4 Wochen, letztes Studienjahr) eine positivere Einstellung gegenüber dem Fach zeigten, dieses Interesse jedoch nicht bis zum Erreichen der ärztlichen Qualifikation andauerte [18]. Einen positiven Einfluss auf die Haltung von Studierenden gegenüber dem Fach Allgemeinmedizin zeigte sich auch in der Evaluation eines britischen Curriculums mit wiederholtem Kontakt mit dem Fach Allgemeinmedizin und in Untersuchungen aus Baden-Württemberg [19], [20], [21]. Ein früher Kontakt mit dem Fach Allgemeinmedizin und längere Praktikumszeiten stellten sich ebenfalls in mehreren Studien als positive Faktoren für eine spätere Tätigkeit und Niederlassung als Hausarzt heraus [3], [5]. Evaluationen des Blockpraktikums in Deutschland zeigen ebenfalls, dass positive Lernerfahrungen in diesem Kontext die Motivation für den Hausarztberuf steigern [22], [23]. Ferner ist aus einer qualitativen Studie mit Fokusgruppen bekannt, dass die Einstellungen von Studierenden vor Absolvieren eines Praktikums in der Allgemeinmedizin häufig auf Vorurteilen oder falschen Informationen beruhen [24]. Entsprechend wurde von einem Studierenden angemerkt, dass die Allgemeinmedizin keine eigene Fachrichtung sei. Die Famulatur Allgemeinmedizin bietet daher die Chance, Vorurteile abzubauen und das Interesse am Fach Allgemeinmedizin zu fördern.

Fast alle Interviewten hatten vor der Famulatur keinerlei Berührung mit dem Fach Allgemeinmedizin. Hausärzte und Studierende bewerteten die 1:1-Betreuung als sehr positiv. Obwohl von Hausärzteseite befürchtet wurde, dass die Studierenden die Allgemeinmedizin unterschätzen, zeigte sich, dass die Studierenden die Kernelemente der Allgemeinmedizin reflektierten und diese als anspruchsvoll bewerteten. Dies wiederum entsprach dem Anspruch der Hausärzte an die Ziele für die Famulatur und auch ihrer Motivation, Famulanten zu betreuen. Es ist anzunehmen, dass durch die intensive 1:1-Betreuung Studierende einen tieferen Einblick in die Tätigkeit des Hausarztes bekommen [10]. Diese Lernsituation bietet die Chance, auf den individuellen Kenntnisstand der Studierenden und daraus abgeleitete Lernziele einzugehen. Von den teilnehmenden Hausärzten und Studierenden wurde ein Vor- und Abschlussgespräch bzw. ein Lernzielkatalog für die Famulatur als Möglichkeiten genannt, die Famulatur und die Integration von Studierenden in den Praxisalltag zu verbessern. Die Empfehlungen zur Famulatur des Ausschusses Primärversorgung der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA) schlagen ebenfalls Vorgespräche, darüber hinaus aber auch regelmäßige Feedbackgespräche, vor, um die Inhalte der Famulatur auf die individuellen Interessen und Vorkenntnisse abzustimmen [25]. Ein Lernzielkatalog könnte diesen Prozess ebenfalls unterstützen. Im Modell FAMULATUM der TU München wird ein Lernzielkatalog in Zusammenarbeit mit einem Mentor auf den individuellen Lernstand des Studierenden zugeschnitten, um Lerninhalte für die Famulatur zu konkretisieren [10]. Befragungen von Studierenden zeigen, dass die Lerninhalte „häufige Krankheitsbilder“ und „Kommunikationskompetenz“ in den meisten hausärztlichen Praxen gut vermittelt werden können [26]. Darüber hinaus bietet die Famulatur in der Allgemeinmedizin die Chance, ein Leitsymptom-gestütztes Vorgehen und den Zugang zu Patienten mit Beschwerden ohne gesicherte Diagnose kennenzulernen. Gerade dieser Aspekt macht die hausärztliche Famulatur besonders und grenzt sie von anderen ab.

Die Kritik von Studierenden, dass wenig eigenständig gearbeitet werden kann, ist sicherlich multifaktoriell bedingt. Dabei spielt neben dem medizinischen Vorwissen und dem Engagement der Studierenden auch die Bereitschaft der Patienten und der Hausärzte sowie deren didaktische Kompetenz eine Rolle. Darüber hinaus ist sicherlich auch von Bedeutung, wie die Studierenden in den Praxisablauf integriert werden können. In diesem Kontext wurde von den Hausärzten angemerkt, dass der Zeitdruck in den Praxen teils mit der Betreuung von Studierenden im Konflikt stünde. Diese Herausforderung ist auch in einer australischen Studie beschrieben, eine Befragung aus Österreich liefert ebenfalls Hinweise, dass die Anwesenheit von Studierenden zu längeren Konsultationszeiten führen kann [27], [28].

Als Hauptunterschied zwischen Famulatur und Blockpraktikum Allgemeinmedizin wurde die freiere Gestaltung der Famulatur genannt. Es ist anzunehmen, dass diese Gestaltungsfreiheit noch besser genutzt werden könnte, wenn Lehrenden und Lernenden ein Leitfaden zur Orientierung in der Famulatur regelmäßig zur Verfügung stünde. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass bereits viele Hausärzte für das Blockpraktikum eine didaktische Schulung zum Umgang mit Studierenden in der Praxis als Teil ihres Lehrauftrages erhalten, eine solche Schulung aber keine Voraussetzung für die Annahme eines Famulanten ist.

Die vorliegende Arbeit ist eine der wenigen Arbeiten, die sich der Famulatur im Allgemeinen und der Famulatur in der hausärztlichen Versorgung im Speziellen widmet. Im Kontext der vorliegenden Ergebnisse könnte die hohe Anzahl von Lehrärzten unter den Befragten Hausärzten einen Selektionsbias darstellen.

Einschränkend ist zu sagen, dass die auf Basis leitfaden-gestützter Interviews erhobenen Daten von Studierenden einer medizinischen Fakultät und Hausärzten der angrenzenden Region nur sehr eingeschränkt allgemeingültige Rückschlüsse erlauben. Dies ist bedingt u.a. durch die spezifischen Rahmenbedingungen des Medizinstudiums an der Medizinischen Fakultät Tübingen (u.a. Blockpraktikum Allgemeinmedizin in der Regel nach der Famulatur) sowie den Erfahrungen der Lehrärzte des Tübinger Instituts für Allgemeinmedizin und Interprofessionelle Versorgung. Es wurden nur wenige soziodemographische Charakteristika erhoben, so dass eine detailliertere Einordnung der Ergebnisse (z.B. Zusammenhang der Bewertung der Famulatur im Bezug zum Alter der Hausärzte) nicht möglich ist.


5. Schlussfolgerungen

In Zeiten, in denen seit Jahren ein Rückgang von Hausärzten zu verzeichnen ist, bietet die Famulatur eine Möglichkeit für Studierende, die Arbeitsweise und die Charakteristika der Allgemeinmedizin kennenzulernen und eventuellen Vorurteilen zu begegnen [22]. Dabei zeigen sich sowohl bei Studierenden als auch bei Hausärzten sehr vielfältige Erfahrungen. Im Rahmen des Masterplans Medizinstudium 2020 sind u.a. für das Praktische Jahr (PJ) Änderungen vorgesehen. So soll eine Quartalisierung des PJ eingeführt werden und damit ein Pflichtquartal im niedergelassenen Bereich. Zudem soll es eine verpflichtende Prüfung im Fach Allgemeinmedizin im dritten Staatsexamen geben. Im Gegenzug ist geplant, auf die obligatorische Famulatur im Fach Allgemeinmedizin zu verzichten. Dennoch wird nach wie vor die Möglichkeit bestehen bleiben, eine vierwöchige Famulatur beim Hausarzt zu absolvieren. Gerade deshalb sollten Verbesserungsmöglichkeiten der Famulatur Allgemeinmedizin nicht außer Acht gelassen werden. Hierzu wurden unter den Befragten beispielsweise die Erstellung eines Leitfadens mit Lernzielen für Hausärzte und Studierende genannt. In diesem Kontext gilt es zu erwähnen, dass innerhalb der AG Famulatur der DEGAM bereits Checklisten zur Selbsteinschätzung für Studierende und zu Lernangeboten in der Praxis für Anleiter in der Famulatur entwickelt wurden. Diese sind frei verfügbar abrufbar [https://degam-famulaturboerse.de/]. Solche Anregungen zur Verbesserung der Famulatur in der hausärztlichen Versorgung könnten als Inspiration auch für andere Fächer dienen.


Danksagung

Wir bedanken uns bei allen Studierenden der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen sowie allen Hausärzten für Ihre Teilnahme.


Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


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