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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Patientenübergabe – Stiefkind der medizinischen Ausbildung?

Artikel Teamarbeit

  • corresponding author Barbara Hinding - IMPP - Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen, Mainz, Deutschland
  • Nicole Deis - IMPP - Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen, Mainz, Deutschland
  • Maryna Gornostayeva - IMPP - Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen, Mainz, Deutschland
  • Christian Götz - IMPP - Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen, Mainz, Deutschland
  • Jana Jünger - IMPP - Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen, Mainz, Deutschland

GMS J Med Educ 2019;36(2):Doc19

doi: 10.3205/zma001227, urn:nbn:de:0183-zma0012273

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2019-36/zma001227.shtml

Eingereicht: 28. Februar 2018
Überarbeitet: 17. September 2018
Angenommen: 25. September 2018
Veröffentlicht: 15. März 2019

© 2019 Hinding et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Zielsetzung: Die Übergabe von Patient*innen an ärztliche Kolleg*innen und an Angehörige anderer Berufsgruppen ist eine für die Patientensicherheit zentrale Aufgabe im Versorgungsprozess. Dennoch ist über Lehre und Prüfung zum Thema Übergabe nur wenig bekannt. Im vorliegenden Beitrag wird daher untersucht, inwieweit Übergabe Gegenstand von Lehre und Prüfungen an den medizinischen Fakultäten in Deutschland ist.

Methodik: An 31 medizinischen Fakultäten wurden die Lehrverantwortlichen zur Umsetzung der NKLM-Lernziele im Bereich Kommunikation befragt. Die Erhebung erfolgte im Rahmen von Gruppeninterviews mit Lehrverantwortlichen und Dozent*innen, in denen für jedes Lernziel des NKLM zum Thema Kommunikation ermittelt wurde, ob es an der jeweiligen Fakultät in Lehrveranstaltungen und Prüfungen explizit umgesetzt wird.

Ergebnisse: Das Lernziel „Übergabe an ärztliche Kolleg*innen“ wird an 19 Fakultäten abgedeckt, das Lernziel zur interprofessionellen Übergabe an 14 Fakultäten. Prüfungen zur Übergabe an ärztliche Kolleg*innen und zur interprofessionellen Übergabe gibt es jeweils an zwei Fakultäten. Dabei besteht ein hochsignifikanter Zusammenhang zwischen der Gesamtanzahl umgesetzter kommunikativer Lernziele an einer Fakultät und der Abdeckung der Lernziele zur Übergabe.

Schlussfolgerungen: Das Thema Übergabe wird an den Fakultäten seltener gelehrt und vor allem seltener geprüft als andere NKLM-Inhalte im Bereich Kommunikation. Ganz besonders zeigt sich das für den interprofessionellen Bereich. Das Thema wird eher als Übergabe zwischen Ärzt*innen unterrichtet, während die interprofessionellen Schnittstellen weniger Beachtung finden. Im Hinblick auf Patientensicherheit wäre es wünschenswert, dem Thema Übergabe eine höhere Priorität einzuräumen. Ein interfakultärer Austausch und die Aufnahme des Themas intra- und interprofessioneller Übergabe in die Staatsexamina könnten den Implementierungsprozess an den Fakultäten entscheidend voran bringen.

Schlüsselwörter: Medizinische Ausbildung, interprofessionelle Ausbildung, Kommunikation in der Übergabe, Lehren


1. Hintergrund und Problemstellung

Die Sicherheit der Patienten*innen ist für alle in der Patientenversorgung tätigen Berufsgruppen ein wichtiges Ziel. Dennoch kommt es im klinischen Alltag immer wieder zu oft folgenschweren Fehlern. Viele davon könnten vermieden werden, wenn Zusammenarbeit und Kommunikation mehr Aufmerksamkeit erfahren würden. Kommunikationsprobleme und -defizite im Team können zu zahlreichen unerwünschten Ereignissen führen, die die Patient*innen gefährden [1]. Schwierigkeiten in der Kommunikation werden bei fast zwei Dritteln aller Fehler als eine Ursache genannt [2].

Gründe für eine suboptimale Kommunikation können u.a. im Vorhandensein situationsspezifischer Zielkonflikte gesehen werden. Personalknappheit und Zeitdruck, hohe Arbeitsintensität und –belastung sowie individuelle Motivlagen schränken die subjektive Wahrnehmung der Handlungsmöglichkeiten ein. Arbeitsanforderungen und Ressourcen müssen in Einklang gebracht werden, um die Arbeit möglichst effizient erledigen zu können. Dies geschieht oft zu Lasten der Kommunikation und der Sicherheit. Hollnagel [3] bezeichnet diesen Konflikt als das „ETTO-Prinzip“. Im Kern beschreibt es das Abwägen zwischen Effizienz und Sorgfalt. Demnach müssen Organisationen und die darin tätigen Menschen zwischen ressourcenökonomischem Vorgehen und sorgfältiger Aufgabenausführung abwägen, da beides zugleich nicht in optimaler Weise möglich ist. Sind die Leistungsanforderungen hoch, werden Vorsicht und Genauigkeit reduziert. Soll der Sicherheit höchste Priorität eingeräumt werden, müssen die Effizienzerwartungen reduziert werden.

Einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet das Konzept des „akzeptierten Risikoniveaus“ [4]. Es handelt sich dabei um einen inneren Schwellenwert, mit dem Gefahren in einem Arbeitssystem abgeglichen werden. Dieser wird zu einem großen Teil von der Organisation und dem sie umgebenden System vorgegeben (z. B. Sicherheitsvorschriften, Warnhinweise, Sanktionen) und steuert die individuelle Wahrnehmung und das Verhalten. Das bedeutet, dass Mitarbeitende ihr akzeptiertes Risikoniveau in Relation zu den system- und betriebsinternen Sollwerten ausbilden. Eine mögliche Lösung besteht daher darin, diese betrieblichen Sollwerte so zu verändern, dass die individuelle Risikobereitschaft sinkt. Ein wesentlicher Schritt in diese Richtung ist die Vermittlung der Bedeutung der Patientensicherheit bereits in der Ausbildung und damit zusammenhängend von Kommunikationskompetenzen, die in diesem Bereich erforderlich sind.

In Deutschland wurden in den letzten Jahren zahlreiche Maßnahmen zur Förderung der Patientensicherheit eingeführt, z. B. das CIRSmedical Deutschland, das Aktionsbündnis Patientensicherheit sowie die Initiative der Deutschen Ärzteschaft zur Umsetzung der Empfehlungen der Europäischen Union zur Sicherheit der Patienten in Deutschland http://www.cirsmedical.de, zitiert am 15.01.2018], [http://www.aps-ev.de, zitiert am 15.01.2018], [5]. Ein besonderes Augenmerk wird auf das Thema Patientenübergabe gelegt. Die Übergabe von Patient*innen bezieht sich nach einer Definition der British Medical Association (2004) auf „den vorübergehenden oder dauerhaften Transfer von professioneller Zuständigkeit und Verantwortlichkeit für einige oder alle Aspekte der Versorgung einer Patient*in oder einer Gruppe von Patient*innen an eine andere Person oder Gruppe“ [6].

Sie dient vor allem der Weiterleitung klinisch relevanter Information, um eine kontinuierliche Versorgung von Patient*innen sicherzustellen. Studien zeigen, dass die Strukturierung des Übergabeprozesses dessen Qualität und Konsistenz verbessert und einen positiven Einfluss auf Kommunikation, Teamwork und Patientensicherheit hat [7], [8], [9]. 24% der Pflegenden und 39% der Ärzte beurteilen Übergaben als nicht effizient und nicht gut strukturiert. Probleme bei der Kommunikation und Koordination zwischen ärztlichem Dienst und Pflegekräften beklagen 55% der Pflegenden und 32% der Ärzteschaft [10].

Durch die Einführung strukturierter Schemata für die Übergaben sinkt die Häufigkeit von Behandlungsfehlern, die Qualität der Behandlung und die Patientensicherheit werden verbessert und die Patienten- und Mitarbeiterzufriedenheit erhöht [11], [12], [13], [14], [15].

Die Übergabe von Patient*innen an Kolleg*innen, an die Pflege und an Angehörige weiterer Berufsgruppen, z. B. die Physiotherapie, ist ein wesentlicher Bestandteil der ärztlichen Tätigkeit. Die jüngeren Ärzt*innen werden mit dieser Aufgabe bereits in den ersten Tagen in der Klinik konfrontiert. Dementsprechend soll diese Kompetenz schon in der Ausbildung trainiert werden. Auch die Gesundheitsministerkonferenz fordert in ihrem Beschluss von 2014 den Gesetzgeber auf, „in den Berufsgesetzen für die Gesundheitsberufe Patientensicherheit deutlicher als Ausbildungs- und Prüfungsgegenstand zu berücksichtigen“ [16]. Entsprechend hat der Ausschuss Patientensicherheit der Gesellschaft für medizinische Ausbildung einen eigenen Lernzielkatalog mit 68 Lernzielen zur Patientensicherheit herausgegeben [17]. Dieser adressiert die Übergabe in zwei Lernzielen, die sich auch im Kapitel „Ärztliche Gesprächsführung“ des Nationalen Kompetenzorientierten Lernzielkatalogs Medizin (NKLM) wiederfinden [18], [19].

Auf Basis der Lernziele aus dem NKLM-Kapitel „Ärztliche Gesprächsführung“ wurde in einem durch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) im Rahmen des Nationalen Krebsplanes geförderten Projekt ein Nationales Longitudinales Mustercurriculum Kommunikation (Longkomm: Kommunikative Kompetenzen von Ärztinnen und Ärzten in der Onkologie – Entwicklung eines longitudinalen, onkologischen Mustercurriculums Kommunikation auf Basis der Umsetzungsempfehlungen des Nationalen Krebsplans) entwickelt [19], [20], [21]. Der Masterplan Medizinstudium 2020 hat mit der Maßnahme <8> zum Ziel das Mustercurriculum „Nationales longitudinales Kommunikationscurriculum in der Medizin“ in den Curricula der Hochschulen umzusetzen und spezielle Prüfungsformate hierfür zu entwickeln“ [22].

In der vorliegenden Studie wurde untersucht, wie viele Fakultäten das Thema Übergabe intra- und interprofessionell lehren und prüfen:

  • Wie viele Fakultäten setzen beide oder wenigstens eines der beiden Lernziele um?
  • Wie gut werden die Lernziele zur Übergabe im Vergleich zu allen anderen kommunikationsbezogenen Lernzielen abgedeckt?
  • Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Lernzielabdeckung beim Thema Übergabe und der Lernzielabdeckung bei den übrigen Kommunikationslernzielen?

2. Vorgehen und Methoden

Von Juli 2013 bis Mai 2015 wurde im Rahmen des LongKomm-Projekts an den medizinischen Fakultäten in Deutschland eine Bestandsaufnahme der Lehre und der Prüfungen im Bereich kommunikativer Kompetenzen im Medizinstudium durchgeführt, um festzustellen, inwieweit die im NKLM festgelegten Lernziele bereits umgesetzt werden und an welchen Stellen Handlungsbedarf besteht.

36 medizinische Fakultäten wurden zur Teilnahme eingeladen.

Zunächst wurde zu allen Fakultäten Kontakt aufgenommen, um koordinierende Ansprechpartner*innen für die Kommunikationslehre vor Ort zu gewinnen. Im Anschluss wurden gemeinsam mit diesen Koordinator*innen die weiteren Lehrverantwortlichen im Bereich Kommunikation am Standort identifiziert und mit diesen im Rahmen strukturierter, telefonisch durchgeführter Interviews eine Übersicht der Lehrveranstaltungen und Prüfungen mit kommunikationsbezogenen Inhalten erstellt. Eingeschlossen wurden Veranstaltungen und Prüfungen nur dann, wenn Aspekte der ärztlichen Gesprächsführung ausdrücklicher Bestandteil des Unterrichts bzw. Gegenstand der Prüfung waren.

Vier Fakultäten haben an der Bestandsaufnahme nicht teilgenommen, weil keine zentralen Ansprechpartner*innen an der Fakultät bestimmt werden konnten, eine Ist-Analyse wegen einer in diesem Zeitraum stattfindenden grundlegen Überarbeitung des Kommunikations-Curriculums nicht möglich war oder aufgrund fakultätsinterner Diskussionen bezüglich des NKLM eine Teilnahme (noch) nicht als sinnvoll angesehen wurde. Von den 32 erfassten Fakultäten musste 1 Fakultät wegen fehlender Daten von den folgenden Analysen ausgeschlossen werden.

Der NKLM enthält zwei Lernziele zum Thema „Übergabe“:

  • LZ 6.1.1: eine mündliche oder telefonische Übergabe von Patientinnen und Patienten an ärztliche Kolleginnen und Kollegen durchführen
  • LZ 6.1.2: eine mündliche oder telefonische Übergabe von Patientinnen und Patienten an Angehörige der Pflege- bzw. anderer Gesundheitsberufe unter Verwendung geeigneter Fachsprache durchführen.

Diese beiden Lernziele wurden gemeinsam mit allen anderen kommunikationsbezogenen Lernzielen im Rahmen von Workshops an jeder Fakultät erfasst. Eingeladen wurden alle Lehrenden der zuvor in den Telefoninterviews erfassten Veranstaltungen und Prüfungen zum Thema Kommunikation. Für jede der vorher identifizierten Lehrveranstaltungen und jede Prüfung mit kommunikativem Inhalt wurde festgehalten, ob sie fakultativ oder obligatorisch belegt wird und welche kommunikationsbezogenen Lernziele sie adressiert. Grundlage war ein strukturiertes Instrument, in welchem für jedes der Lernziele aus den NKLM-Kapiteln 7 „Die Ärztin und der Arzt als Kommunikator/-in“ und 14c „Ärztliche Gesprächsführung“ festzuhalten war, ob es abgedeckt wird oder nicht. Ein Lernziel galt dann für eine Lehrveranstaltung bzw. Prüfung als abgedeckt, wenn es zum größten Teil (>60%) in der Lehrveranstaltung behandelt bzw. in einer Prüfung bewertet wurde.

Die deskriptivstatistische Auswertung erfolgte mit SPSS Version 24. Für jedes der beiden Lernziele wurde zunächst festgestellt, an wie vielen Fakultäten es in Lehrveranstaltungen und Prüfungen abgedeckt wird. Weiterhin wurden über alle beteiligten Fakultäten Mittelwert, Standardabweichung sowie die Bandbreite (minimaler und maximaler Wert) ermittelt.

Zusätzlich wurde der Frage nachgegangen, ob Fakultäten, die bereits über ein umfangreiches Lehrangebot im Bereich der Kommunikation verfügen, auch eher Methoden zur sicheren Übergabe unterrichten als solche Fakultäten, die mit der Implementierung ihres Curriculums erst am Anfang stehen. Um die Frage nach diesem Zusammenhang zwischen der Lernzielabdeckung beim Thema Übergabe und der Lernzielabdeckung bei den übrigen Kommunikationslernzielen zu klären, wurde der Pearson´sche Korrelationskoeffizient bestimmt. Bei der Beurteilung der Effektstärke wurde einer von Cohen (1988) [23] beschriebenen Konvention gefolgt, nach der ein Korrelationskoeffizient von r=0.1 für eine geringe Korrelation, von r=0.3 für eine mittlere und ab r=0.5 für eine hohe Korrelation steht.


3. Ergebnisse

3.1. Lehrveranstaltungen und Prüfungen mit kommunikativen Inhalten

Im folgenden Abschnitt wird eine Übersicht zur Anzahl der Lehrveranstaltungen und Prüfungen mit kommunikativen Inhalten gegeben. An den teilnehmenden 31 Fakultäten wurden Daten von 623 Lehrveranstaltungen sowie 162 Prüfungen mit kommunikativen Inhalten erfasst. Von 506 dieser Lehrveranstaltungen (ca. 81%) und 99 dieser Prüfungen (ca. 61%) wurden Daten zur Umsetzung der NKLM-Lernziele erhoben. Dabei zeigte sich, dass die deutschen medizinischen Fakultäten im Durchschnitt 20,1 Lehrveranstaltungen sowie 5,2 Prüfungen mit kommunikativen Inhalten haben (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]). Hiervon sind bei den Lehrveranstaltungen 15,1 obligatorisch sowie 4,7 fakultativ und bei den Prüfungen 4,4 obligatorisch sowie 0,8 fakultativ.

Darüber hinaus wurde eine große Heterogenität zwischen den Fakultäten offensichtlich. Die Bandbreite der Angaben reicht von 5 bis zu 91 Lehrveranstaltungen und 0 bis zu 15 Prüfungen (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]).

3.2. Lehrveranstaltungen und Prüfungen zum Thema „Übergabe“

Zu den Lernzielen LZ 6.1.1: eine mündliche oder telefonische Übergabe von Patientinnen und Patienten an ärztliche Kolleginnen und Kollegen durchführen (intraprofessionelle Übergabe) und LZ 6.1.2: eine mündliche oder telefonische Übergabe von Patientinnen und Patienten an Angehörige der Pflege- bzw. anderer Gesundheitsberufe unter Verwendung geeigneter Fachsprache durchführen (interprofessionelle Übergabe), liegen aus allen 31 Fakultäten Daten vor.

Das Lernziel 6.1.1 zur Übergabe an Kolleginnen und Kollegen wurde in obligatorischen Veranstaltungen an 19 Fakultäten (61%) abgedeckt. Zum Lernziel 6.1.2 - interprofessionelle Übergabe - gab es an 14 Fakultäten (45%) obligatorische Lehrveranstaltungen. Insgesamt wurden an den befragten 31 Fakultäten in 19 Fakultäten Veranstaltungen zu LZ 6.1.1 oder LZ 6.1.2 angeboten.

Im Mittel ergibt sich daraus für das Lernziel 6.1.1 Übergabe zwischen Kolleg*innen ein Wert von 1,6 Lehrveranstaltungen pro Fakultät, für das Lernziel 6.1.2 interprofessionelle Übergabe ein Wert von 0,7 Lehrveranstaltungen pro Fakultät. Die Bandbreite des Angebots reicht dabei von einer bis acht Veranstaltungen mit dem Lernziel Übergabe zwischen Kolleg*innen an einer Fakultät. Zur interprofessionellen Übergabe gibt es maximal vier Veranstaltungen an einer Fakultät (siehe Tabelle 2 [Tab. 2]).

Prüfungen zum Thema Übergabe werden deutlich seltener durchgeführt als Lehrveranstaltungen. Das Thema intra- und interprofessionelle Übergabe wird an nur zwei Fakultäten geprüft. An über 90 Prozent der Fakultäten werden die Lernziele damit nicht geprüft.

Als Mittelwerte ergeben sich daraus für das Thema Übergabe 0,1 Prüfungen je Fakultät für beide Lernziele.

3.3. Zusammenhang zwischen der Anzahl umgesetzter Lernziele insgesamt mit den Lernzielen zu Übergabe

Zwischen dem Lernziel „Übergabe an einen Kolleg*in“ und der Anzahl der realisierten Lernziele im Bereich Kommunikation besteht ein hoher und statistisch signifikanter Zusammenhang. Im Fall der Prüfungen zeigt sich ebenfalls ein Zusammenhang, jedoch von geringerer Höhe und auf einem geringeren Signifikanzniveau (vgl. Tabelle 3 [Tab. 3]).


4. Diskussion

Die Ergebnisse zeigen, dass es Lehrveranstaltungen zum Thema Übergabe an den befragten Fakultäten seltener gibt als andere Lehrveranstaltungen im Bereich der ärztlichen Gesprächsführung. Damit hat die Übergabe als Lernziel nicht die Priorität, die im Hinblick auf die Patientensicherheit wünschenswert wäre. Dies entspricht einem weiteren Befund aus dem Longkomm-Projekt [22], wonach es ausgeprägte Unterschiede in der Abdeckung der Kompetenzbereiche aus dem NKLM gibt. Im Kompetenzbereich 6 (andere mediale Kanäle und Settings), zu dem auch die Übergabe gehört, wurde die geringste Lernzielabdeckung gefunden. Offenbar steht vielerorts das Arzt-Patient-Gespräch im Mittelpunkt der Ausbildung in Kommunikation, während die intra- und interprofessionellen Schnittstellen bisher weniger gut abgebildet sind.

Interessant ist auch der Unterschied zwischen dem Lernziel zur Übergabe an Kolleg*innen, das an etwa 60% der Fakultäten unterrichtet wird und dem Lernziel zur interprofessionellen Übergabe, das nur an etwa 45% der Fakultäten gelehrt wird. Übergabe wird demnach eher als Übergabe zwischen Ärzt*innen unterrichtet und das interprofessionelle Setting findet weniger Beachtung.

Der gefundene Zusammenhang zwischen der Menge an Lehrveranstaltungen und Prüfungen zu Kommunikation insgesamt und Lehrveranstaltungen und Prüfungen zu den Lernzielen zu Übergabe kann möglicherweise so interpretiert werden, dass die Fakultäten mit der Entwicklung und Implementierung ihrer Kommunikationscurricula unterschiedlich weit fortgeschritten sind. Insbesondere am Anfang der curricularen Entwicklung scheint der Fokus eher auf den übergreifenden Kompetenzen (z. B. aus dem Kompetenzbereich 1 Konzepte, Modelle und allgemeine Grundlagen) als auf spezifischeren Settings wie der Übergabe zu liegen.

Weiterhin ist es nicht notwendigerweise so, dass, wer ein gutes Lehrangebot im Bereich Übergabe hat, die Inhalte auch prüft. Der Befund, dass Übergabe nur an zwei von 31 Fakultäten überhaupt geprüft wird, spricht hier für sich. Auch im schriftlichen Staatsexamen kommt das Thema Übergabe als Prüfungsinhalt nicht vor. Angesichts der Tatsache, dass Prüfungen wichtige Treiber für die Lernaktivitäten Studierender darstellen, ist dieses Ergebnis beunruhigend. Die Situation der Übergabe als eine Schwachstelle der Patientensicherheit erfordert an dieser Stelle mehr Beachtung und größere Bedeutung. Die berichteten Befunde unterliegen jedoch auch Unsicherheiten. Es konnten möglicherweise nicht alle relevanten Lehrveranstaltungen ermittelt werden, da die Auswahl der Interviewpartner*innen einer vorwiegend sozialen Heuristik folgte. An den Fakultäten wurden Ansprechpartner*innen gesucht, welche dann die Lehrverantwortlichen und Lehrenden ermittelten, die Kommunikation unterrichten. Der Umfang dieses Personenkreises variierte je nach Fakultät. Oft handelte es sich um eine große Zahl, sodass möglicherweise gar nicht alle in Frage kommenden Personen kontaktiert werden konnten. Weiterhin haben nicht alle betroffenen Lehrenden am Workshop ihrer Fakultät teilgenommen. Hier wurden zwar telefonische Nacherhebungen vorgenommen, es ist aber davon auszugehen, dass auch dadurch nicht alle erreicht werden konnten. Möglicherweise wird dadurch ein negativeres Bild gezeichnet als es der Realität entspricht.

Die Angabe, dass eine Veranstaltung zu mindestens 60% kommunikative Inhalte enthält, ist subjektiv und unterliegt Verzerrungstendenzen. Davon ausgehend, dass die Teilnehmer*innen der Workshops sozial erwünscht antworten, könnte der Kommunikationsanteil öfter überschätzt worden sein.

Jedoch lässt die große Anzahl an erfassten Veranstaltungen und Prüfungen vermuten, dass die Zahlen zumindest teilweise das Defizit in der Vermittlung intra- und interprofessioneller Übergabe repräsentieren.

Im Hinblick auf die Patientensicherheit wird anhand der geschilderten Befunde ein großer Handlungsbedarf in der medizinischen Ausbildung sichtbar. Um den Implementierungsprozess an den Fakultäten voranzubringen werden Unterstützungsangebote benötigt. Hinweise und Ideen für die nachhaltige Verankerung eines longitudinalen Curriculums Patientensicherheit geben etwa Kiesewetter et al. [24]. Eine Möglichkeit zur Förderung von Vernetzung und Kooperation besteht in der aktiven Verbreitung von Beispielen guter Praxis für die Lehre und für Prüfungen. Eine Austauschplattform hierfür ist etwa mit der Toolbox [25], [https://www.medtalk-education.de/toolbox/] gegeben. Dozierende stellen hier ihre Lösungen in strukturierter Form in einem geschützten Bereich zur Verfügung, sodass sie von anderen übernommen werden können.

Einschränkend ist jedoch zu bedenken, dass Lehre und Prüfung von Übergaben keine Garanten dafür sind, dass die Studierenden in ihrer späteren Berufspraxis tatsächlich effektivere und besser strukturierte Übergaben machen. Der Transfer in die Berufspraxis ist nicht nur abhängig von dem, was während des Studiums explizit gelehrt und geprüft wird, sondern wird in großem Maß durch implizite Faktoren („hidden curriculum“) wie beispielsweise dem Lernen am Modell beeinflusst. Aus dem angloamerikanischen Sprachraum ist jedoch bekannt, dass die Effekte von Trainings zur Übergabe nicht nur kurzfristig sind, sondern dass die Studierenden auch noch ein Jahr nach dem Training das Gelernte von der Simulation ins klinische Setting übertragen [26].

Eine weitere Chance bietet die im Masterplan Medizinstudium 2020 geforderte Neuausrichtung der Staatsexamina. Jünger [27] beschreibt in ihrem Vorschlag zur Neugestaltung des dritten Abschnitts der ärztlichen Prüfung eine Prüfung am Patienten, in der sowohl eine Übergabe an Kolleg*innen als auch eine interprofessionelle Übergabe vorgesehen ist. Um die Studierenden optimal auf das Examen und das spätere Berufsleben vorzubereiten, ist es notwendig, die Lehre und Prüfung strukturierter intra- und interprofessioneller Übergaben in die Curricula zu integrieren. Im Hinblick auf die Patientensicherheit könnte dies einen enormen Schritt nach vorn bedeuten.


Danksagung

Unser Dank gilt allen, die zum Gelingen des Longkomm-Projektes beigetragen haben. Insbesondere denken wir dabei an alle Beteiligten an den Fakultäten, die als Kontaktpersonen und Koordinatoren oder Lehrverantwortliche und Dozierende die für das Curricular Mapping Kommunikation nötigen Informationen zugänglich gemacht und uns einen Einblick in ihre Lehre gewährt haben. Weiterhin bedanken wir uns bei allen Mitarbeitenden des „Longkomm-Projekts“, die die aufwändigen Datenerhebungen und -auswertungen mit großem Einsatz, viel Ausdauer und Sorgfalt im vorgegebenen Zeitrahmen bewältigt haben.


Förderung

Ein besonderer Dank geht auch an das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) für die Förderung des Projekts im Rahmen des Nationalen Krebsplans (Förderkennzeichen ZMVI5 2514FSB216), ohne die es nicht realisierbar gewesen wäre.


Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


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