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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Wer darf Medizin studieren? – Gesetze und Evidenzen

Leitartikel Auswahlverfahren im Medizinstudium

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  • corresponding author Wolfgang Hampe - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut für Biochemie und Molekulare Zellbiologie, AG Auswahlverfahren, Hamburg, Deutschland
  • corresponding author Martina Kadmon - Universität Augsburg, Medizinische Fakultät Augsburg, Gründungsdekanat der Medizinischen Fakultät Augsburg, Augsburg, Deutschland

GMS J Med Educ 2019;36(1):Doc10

doi: 10.3205/zma001218, urn:nbn:de:0183-zma0012189

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2019-36/zma001218.shtml

Eingereicht: 3. Februar 2019
Überarbeitet: 3. Februar 2019
Angenommen: 3. Februar 2019
Veröffentlicht: 15. Februar 2019

© 2019 Hampe et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Leitartikel

Evidenzbasierte Auswahlverfahren haben einen stärkeren Einfluss auf das Lernen und die Studienperformanz als viele andere Interventionen in der medizinischen Ausbildung [1]. Dennoch werden international für die Auswahl von Medizinstudierenden ganz verschiedene Verfahren mit unterschiedlicher Evidenz eingesetzt, die von Losverfahren [2] bis hin zur reinen Auswahl anhand von Abiturnoten [3] reichen. Häufig finden fachspezifische Studierfähigkeitstests Anwendung [4], [5], weil sie den Studienerfolg gemessen an kognitiven Erfolgskriterien verlässlich vorhersagen. Darüber hinaus werden unterschiedlich standardisierte und strukturierte Interviewverfahren in komplexe Auswahlverfahren einbezogen [6]. Während wenig strukturierte Interviews keinen Beitrag zur Vorhersage des Studienerfolgs leisten, besitzen hoch strukturierte Kommunikationssituationen, wie sie in Multiple Mini Interviews eingesetzt werden, einen Prädiktionswert für non-kognitive Studienleistungen [7], [8].

Die Zahl der Interessierten an einem Medizinstudium übersteigt national und international bei weitem die angebotenen Studienplätze. Auch wenn aktuell ein Ärztemangel diskutiert wird, werden aufgrund der hohen Kosten nur in begrenztem Umfang zusätzliche Studienplätze angeboten. Bei der Entscheidung, wer Medizin studieren darf, müssen sowohl die Interessen der Bewerberinnen und Bewerber hinsichtlich einer gerechten Verteilung der Chancen auf einen Studienplatz, als auch das Gemeinwohl und eine gute und kosteneffiziente Gesundheitsversorgung der Bevölkerung berücksichtigt werden. Darüber hinaus sollten Zulassungsentscheidungen aufgrund ihrer Bedeutung für den Studienerfolg [1] evidenzgeleitet getroffen werden.

In Deutschland wurde nach zwei Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes in den 1970er Jahren [9], [10] die bis dahin von den einzelnen Hochschulen geregelte Studienzulassung durch Staatsverträge der Bundesländer und das Hochschulrahmengesetz vereinheitlicht. Neben der Abiturdurchschnittsnote fand die Wartezeit seit der Abiturprüfung Berücksichtigung. Dadurch erhielten die Studieninteressierten nicht nur die vom Verfassungsgericht geforderte Chance, sondern sogar eine Garantie auf einen Studienplatz, wenn sie nur ausreichend Geduld mitbrachten. Die genauen Regelungen zur Ausgestaltung einzelner Quoten, zu weiteren Auswahlkriterien und zur Beteiligung der Medizinfakultäten am Auswahlverfahren haben sich seitdem mehrfach geändert. Seit dem Staatsvertrag von 2006 gibt es drei Hauptquoten, in denen 20% der Studienplätze allein aufgrund der Abiturnote, 20% allein aufgrund der Wartezeit und die verbleibenden 60% von den Hochschulen selbst vergeben werden.

Die prädiktive Validität der Abiturnote für den Studienerfolg ist unbestritten [3]. Mittlerweile reicht aber in fast allen Bundesländern selbst die Abiturbestnote von 1,0 nur zusammen mit Losglück aus, um einen Platz in der Abiturbestenquote zu erhalten. Die Wartezeit als Auswahlkriterium wirkt sich negativ auf den Studienerfolg aus [11], [12]. Dennoch warten Bewerber im Moment noch sieben bis acht Jahre auf einen Medizinstudienplatz. In seinem Urteil vom Dezember 2017 erklärte das Bundesverfassungsgericht mehrere Aspekte der aktuellen Auswahlverfahren für verfassungswidrig, u.a. die Dauer der Wartezeit, die Auswahl nach Ortspräferenz und den fehlenden Länderausgleich für die Abiturnoten in den hochschuleigenen Auswahlverfahren [13]. Die Studierendenauswahl muss sich grundsätzlich an Eignungskriterien für Studium und Beruf orientieren und standardisiert und strukturiert geprüft werden – also evidenzbasiert erfolgen. Auch die Politik möchte die gesetzlichen Regelungen weiterentwickeln: Im Masterplan Medizinstudium 2020 fordern Bund und Länder, die Auswahlverfahren der Hochschulen stärker an Fähigkeiten auszurichten, die für die ärztliche Tätigkeit wichtig sind. Dafür sollen Berufsausbildungen, Studierfähigkeitstests und Auswahlgespräche stärker gewichtet werden. Für Berufsausbildungen und für unstrukturierte Interviews fehlt allerdings aktuell jede Evidenzgrundlage [3].

Im Laufe des Jahres 2018 entwickelten Vertreter der Kultusministerkonferenz die Grundlagen für einen neuen Staatsvertrag zur Studierendenauswahl [14], der ab dem Sommersemester 2020 gelten wird. Dabei einigten sich die Landesvertreter nicht auf ein grundlegend neues und einfach durchschaubares Verfahren, sondern auf eine Regelung, die sogar eine Zunahme der Komplexität des Zulassungsverfahrens erkennen lässt:

1.
Die Wartezeitquote wird abgeschafft. Da ein nicht unbeträchtlicher Anteil der über die Wartezeit zugelassenen Studierenden das Studium abbricht [4], [11] folgt diese Entscheidung durchaus der Evidenzgrundlage. In einer Übergangszeit bis 2021 wird die Wartezeit auf die zusätzlich Eignungsquote angerechnet, um bereits lange wartenden Studieninteressierten die Chance auf einen Studienplatz zu erhalten.
2.
Die Abiturbestenquote wird auf 30% der Studienplätze erhöht. Auch diese Entscheidung ist durchaus mit Evidenz belegbar. Die Abiturnote ist ein guter Prädiktor für den kognitiven Studienerfolg [3], [15].
3.
In einer neuen zusätzlichen Eignungsquote werden 10% der Studienplätze ohne Berücksichtigung von Schulnoten vergeben. Kriterien sind z.B. Studierfähigkeitstests oder Berufserfahrung. Zumindest für die Nutzung von Studierfähigkeitstest liegt eine gute Evidenz vor [4], [8], [16].
4.
60% der Studienplätze werden weiter über das Auswahlverfahren der Hochschulen (AdH) verteilt. Hierbei müssen die Fakultäten einen Studieneignungstest und ein weiteres schulnotenunabhängiges Kriterium berücksichtigen. Aufwändige Interviewverfahren sind möglich und durch Evidenz auch begründbar [6], [7], [17]. Nur in diesem Fall darf eine Einschränkung auf Bewerberinnen und Bewerber mit 1. Ortspräferenz erfolgen, sodass die Fakultäten von einem genuinen Interesse der Bewerber für den Standort ausgehen können. Für die im AdH verwendeten Abiturnoten aus unterschiedlichen Bundesländern wird ein Ausgleichsmechanismus geschaffen [18].

Das Zulassungsverfahren soll weiterhin bundeseinheitlich von der Stiftung für Hochschulzulassung (hochschulstart) durchgeführt werden. Die bisher getrennten Softwarelösungen für die zentral vergebenen Studienfächer Medizin, Zahnmedizin, Tiermedizin und Pharmazie und die lokal beschränkten Studiengänge werden zusammengeführt. Dieser Prozess erfordert eine Übergangsphase, in der die Fakultäten bis mindestens 2021 keine Vor-Ort-Auswahlverfahren wie z.B. Auswahlgespräche durchführen können. Beim Einsatz von Studieneignungstests werden die weitaus meisten Fakultäten auf den „Test für Medizinische Studiengänge“ (TMS) setzen, daneben wird voraussichtlich an einigen Standorten der „HAM-Nat“, ein Situational Judgement Test und, für die Zahnmedizin, ein Mentaler Rotationstest durchgeführt werden.

Es wird in Zukunft nicht einfacher werden, sich auf einen Medizinstudienplatz zu bewerben. Die Garantie, durch (sehr langes) Warten den Zuschlag zu erhalten, entfällt. Die Bewerberinnen und Bewerber ohne Bestnoten müssen bald nicht nur die Hochschulauswahlverfahren, sondern auch die Regelungen zur zusätzlichen Eignungsquote der medizinischen Fakultäten vergleichen, um ihre Zulassungschancen abzuschätzen. Ein Vorteil für sie ist jedoch, dass strategische Überlegungen bei der Angabe der Ortspräferenzen eine geringere Rolle spielen werden.

Die Hochschulen müssen ihre Auswahlverfahren neu konzipieren: Welche Kriterien sollen mit welchem Gewicht in der zusätzlichen Eignungsquote und im Auswahlverfahren der Hochschule eingesetzt werden? Die Fakultäten, die bisher aufwändige Vor-Ort-Verfahren durchgeführt haben, können diese in einer Übergangszeit nicht durchführen. Es bleibt abzuwarten, wie viele Fakultäten nach der Übergangszeit z.B. Auswahlgespräche (wieder) einführen.

Das Urteil des BVerfG enthält Vorgaben zum Einsatz von standardisierten und validen Auswahlkriterien, die die Eignung für das Studium der Humanmedizin und, wenn möglich, für den Arztberuf vorhersagen [13]. Seit Mitte 2018 wird der Studierendenauswahlverbund stav vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Im Rahmen dieser Förderung werden die sechs Verbund- und über 20 weiteren Kooperationspartner die unterschiedlichen Auswahlverfahren weiter analysieren, sie weiterentwickeln und den medizinischen Fakultäten zur Verfügung stellen. Zur Weiterentwicklung der Studieneignungstests, die im neuen Staatsvertrag eine zentrale Rolle einnehmen, sollen dafür in einer ersten Studie im Rahmen der Studierendenauswahl im Frühjahr 2019 an vielen Standorten unterschiedliche kognitive Tests nebeneinander durchgeführt werden, um deren diskriminante und prognostische Validität zu untersuchen und die am besten für die Medizinerauswahl geeignete Kombination von Testteilen zu ermitteln.


Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

1.
Kreiter CD, Axelson RD. A perspective on medical school admission research and practice over the last 25 year. Teach Learn Med. 2013;25(S1):S50-S56. DOI: 10.1080/10401334.2013.842910 Externer Link
2.
Stegers-Jager KM. Lessons learned from 15 years of non-grades-based selection for medical school. Med Educ. 2018;52(1):86-95. DOI: 10.1111/medu.13462 Externer Link
3.
Schwibbe A, Lackamp J, Knorr M, Hissbach J, Kadmon M, Hampe W. Medizinstudierendenauswahl in Deutschland. Messung kognitiver Fähigkeiten und psychosozialer Kompetenzen. Bundesgesundheitsbl. 2018;61:178-186. DOI: 10.1007/s00103-017-2670-2 Externer Link
4.
Kadmon G, Kadmon M. Academic Performance of Students with the Highest and Mediocre School-leaving Grades: Does the Aptitude Test for Medical Studies (TMS) Balance Their Prognoses? GMS J Med Educ. 2016;33(1):Doc7. DOI: 10.3205/zma001006 Externer Link
5.
Zimmermann S, Klusmann D, Hampe W. Correcting the predictive validity of a selection test for the effect of indirect range restriction. BMC Med Educ. 2017;17(1):246. DOI: 10.1186/s12909-017-1070-5 Externer Link
6.
Knorr M, Hissbach J. Multiple mini-interviews: same concept, different approaches. Med Educ. 2014;48(12):1157-1175. DOI: 10.1111/medu.12535 Externer Link
7.
Patterson F, Knight A, Dowell J, Nicholson S, Cousans F, Cleland J. How effective are selections methods in medical education? A systematic review. Med Educ. 2016;50(2):36-60. DOI: 10.1111/medu.12817 Externer Link
8.
Patterson F, Roberts C, Hanson MD, Hampe W, Eva K, Ponnamperuma G, Magzoub M, Tekian A, Cleland J. 2018 Ottawa consensus statement: Selection and recruitment to the healthcare professions. Med Teach. 2018;11(40):1091-1101. DOI: 10.1080/0142159X.2018.1498589 Externer Link
9.
Bundesverfassungsgericht. Bundesverfassungsgerichtsurteil – numerus clausus I. BVerfG. 1972;33(303):1-33. Zugänglich unter/available from: https://www.hrk.de/fileadmin/redaktion/hrk/02-Dokumente/02-03-Studium/02-03-04-Hochschulzulassung/bverfg_nc-urteil_18071972.pdf Externer Link
10.
Bundesverfassungsgericht. Bundesverfassungsgerichtsurteil – numerus clausus II. BVerfG. 1977;43(291). Zugänglich unter/available from: http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv043291.html Externer Link
11.
Heidmann J, Schwibbe A, Kadmon M, Hampe W. Warten aufs Medizinstudium: Sieben lange Jahre. Dtsch Ärztebl. 2016;113(38):A-1636/B-1381/C-1357.
12.
Hampe W, Klusmann D, Buhk H, Münch-Harrach D, Harendza S. Reduzierbarkeit der Abbrecherquote im Humanmedizinstudium durch das Hamburger Auswahlverfahren für Medizinische Studiengänge - Naturwissenschaftsteil (HAM-Nat). GMS Z Med Ausbild. 2008;25(2):Doc82. Zugänglich unter/available from: https://www.egms.de/static/de/journals/zma/2008-25/zma000566.shtml Externer Link
13.
Bundesverfassungsgericht. Urteil des Ersten Senats vom 19. Dezember 2017 – 1 BvL 3/14 – Rn. (1-253). BVerfG. 2017. Zugänglich unter/available from: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/12/ls20171219_1bvl000314.html Externer Link
14.
Kultusministerkonferenz. Studienplatzvergabe im Zentralen Vergabeverfahren: Kultusministerkonferenz verabschiedet Entwurf des Staatsvertrags für Hochschulzulassung. Berlin: Kultusministerkonferenz; 2018. Zugänglich unter/available from: https://www.kmk.org/aktuelles/artikelansicht/studienplatzvergabe-im-zentralen-vergabeverfahren-kultusministerkonferenz-verabschiedet-entwurf-des.html Externer Link
15.
Kadmon G, Resch F, Duelli R, Kadmon M. Predictive Value of the School-leaving Grade and Prognosis of Different Admission Groups for Academic Performance and Continuity in the Medical Course – a Longitudinal Study. GMS Z Med Ausbild. 2014;31(2):Doc21. DOI: 10.3205/zma000913 Externer Link
16.
Zimmermann S, Klusmann D, Hampe W. Correcting the predictive validity of a selection test for the effect of indirect range restriction. BMC Med Educ. 2017;17(1):246. DOI: 10.1186/s12909-017-1070-5 Externer Link
17.
Knorr M, Schwibbe A, Ehrhardt M, Lackamp J, Zimmermann S, Hampe W. Validity evidence for the Hamburg multiple mini-interview. BMC Med Educ. 2018;18(1):106. DOI: 10.1186/s12909-018-1208-0 Externer Link
18.
Zimmermann S, Klusmann D, Hampe W. Angleichung von Schulnoten für die Studierendenauswahl. ZFHE. 2018;13(4):179-197. DOI: 10.3217/zfhe-13-04/11 Externer Link