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Dynamische Fallrepräsentationen im Diagnoseprozess Medizinstudierender – Ergebnisse einer qualitativen Studie
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Autoren
Eingereicht: | 22. Februar 2018 |
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Überarbeitet: | 24. April 2018 |
Angenommen: | 6. Juni 2018 |
Veröffentlicht: | 15. August 2018 |
Gliederung
Zusammenfassung
Zielsetzung: Repräsentationen sind mentale Zusammenfassungen eines klinischen Falls und helfen beim Verständnis eines klinischen Problems. Es ist bisher allerdings noch weitgehend unbekannt, welche klinischen Informationen Medizinstudierende in ihre Fallrepräsentationen einschließen. In dieser Studie wurden deshalb die Struktur und die Qualität von studentischen Fallrepräsentationen untersucht, um den Diagnoseprozess und seine Beziehung zur Diagnoserichtigkeit besser zu verstehen: Welche Informationen schließen Medizinstudierende in ihre Repräsentationen ein und besteht eine Assoziation zwischen diesen Informationen und der Diagnoserichtigkeit?
Methodik: 43 Medizinstudierende im vierten und fünften klinischen Jahr bearbeiteten vier klinische Fälle. Während des Diagnoseprozesses wurden sie dreimal pro Fall aufgefordert, eine Fallrepräsentation zu schreiben. 516 Repräsentationen wurden mit Hilfe eines inhalts-basierten Codierschemas qualitativ ausgewertet. Es erfolgte eine Analyse der Art und der Zusammensetzung der klinischen Informationen. Außerdem wurde die Assoziation zwischen der allgemeinen Repräsentationsstruktur und der korrekten Falllösung überprüft.
Ergebnisse: Studierende inkludieren zu Beginn die meisten klinischen Informationen in ihre Repräsentation (66%), aber im Fallverlauf beginnen sie, die angebotenen Informationen zu selektieren (2. Repräsentation 42%, 3. Repräsentation 38%). Die Länge der Repräsentation (Anzahl der Wörter) korreliert nicht mit der korrekten Falllösung (r=-0.08–0.31). Die Repräsentationen hängen nicht von der Fallschwierigkeit ab, sondern haben eine signifikante individuelle Komponente: Die Repräsentationen, die von einem Studierenden geschrieben wurden, ähneln sich in allen vier Fällen formal sehr stark (r=0.60–0.86).
Schlussfolgerung: Medizinstudierende können die relevanten klinischen Informationen selektieren und in ihre Fallrepräsentationen einschließen. Mangelnde Repräsentationsfähigkeit scheint kein Grund für Fehldiagnosen zu sein; Studentische Defizite beim Diagnostizieren sind eher auf Wissenslücken zurückzuführen.
Einführung
Diagnostizieren ist eine der zentralen Aufgaben im klinischen Alltag. Ein Charakteristikum des medizinischen Experten ist die Fähigkeit, richtig zu diagnostizieren. Die Entwicklung von Expertise wird seit vielen Jahren beforscht [1], [2]: die Illness-script-Theorie ist ein weithin akzeptiertes Modell, um das Diagnoseverhalten von Experten zu erklären [2]. Diese Theorie besagt, dass ein Experte ein bestimmtes Konzept von jeder Krankheit hat, in welchem die Epidemiologie, die Symptome und die begünstigenden Faktoren eines Krankheitsbildes enthalten sind [3]. Repräsentation ist ein relevanter Aspekt des Diagnoseprozesses. Diese kann als eine mentale Zusammenfassung des Falls durch den Diagnostizierenden definiert werden. Die Problematik des Falls wird so repräsentiert, dass die kognitiven Prozesse zum Verständnis und zur Lösung des Falls angewandt werden können [4]. Deshalb ist Repräsentation einer der kognitiven Schritte, der mit der richtigen Falllösung korreliert [5]. Charlin et al. unterscheiden eine initiale Repräsentation, die dynamische Repräsentation sowie die finale Repräsentation im Verlauf des Diagnoseprozesses [6]. Eine gute mentale Repräsentation des klinischen Problems ist notwendig, um relevantes Vorwissen zu aktivieren und verschiedene Differentialdiagnosen zu vergleichen, sodass schließlich die richtige Diagnose gestellt werden kann. Die initiale Repräsentation des Problems wird durch neue Informationen modifiziert und angereichert, sodass am Ende des Diagnoseprozesses der Fall umfassend repräsentiert wird [7]. Ärzte nutzen Repräsentationen jeden Tag in ihrem klinischen Alltag als Teil des Diagnoseprozesses, aber auch in anderen Situationen, wie zum Beispiel bei der Visite [8] oder bei Übergaben [9], [10], [11]. Repräsentationen als Schlüsselelement im Diagnoseprozess [6], [12] ermöglichen es dem Arzt, sein Illness-script mit dem aktuellen Erscheinungsbild des Patienten zu vergleichen; und dem Studierenden, den Patientenfall mit seinem theoretischen Wissen zu vergleichen. Es ist davon auszugehen, dass Experten evaluieren, ob die initiale Repräsentation zu einem ihrer illness-scripts passt, was der Ausgangspunkt für weitere (selektive) Datengewinnung und die dynamische Repräsentation im Entscheidungsfindungsprozess ist.
Die strukturellen Aspekte von Repräsentationen wurden bereits analysiert, es lassen sich semantische und Symptom-orientierte Prozesse unterscheiden [13]. Repräsentation beginnt mit der semantischen Transformation [14]. Die klinischen Daten werden mit Hilfe von sogenannten semantic qualifiers transformiert, welche eine Abstraktion der klinischen Befunde (z.B. letzte Nacht → akuter Beginn) darstellen und zur Diagnoserichtigkeit beitragen [15], [16]. Es wurde bereits gezeigt, dass studentische Repräsentationen durch die Aufforderung, semantische Transformationen zu benutzen, verbessert werden können [12]. Daher scheint es vielversprechend, Repräsentationen zur Verbesserung der Diagnosekompetenz von Medizinstudierenden zu nutzen. In einer aktuellen Studie haben wir festgestellt, dass die Aufforderung Repräsentationen zu schreiben beispielsweise die Diagnoseeffizienz von Studierenden verbessern, nicht aber die Diagnoserichtigkeit [17].
Bisher gibt es keine empirischen Daten über die Informationskategorien der Repräsentationen und die Entwicklung derer während des studentischen Diagnoseprozesses. Unklar ist, welche konkreten Informationen, wie zum Beispiel welche anamnestischen Daten oder Ergebnisse von verschiedenen Untersuchungen, in Repräsentationen enthalten sind. Zudem gibt es keine Daten dazu, wie umfassend die Repräsentationen sind, also ob alle gegebenen Informationen eingeschlossen werden oder tatsächlich eine Selektion der Daten in den Repräsentationen erfolgt.
Ein besseres Verständnis ist allerdings unerlässlich als Basis für Interventionen, wie zum Beispiel für instruktionale Unterstützungen („Scaffolding“) in Form von strukturierter Reflexion oder Repräsentation. Dieses Wissen kann dazu beitragen, Prompts für Repräsentationen oder Fallzusammenfassungen besser zu steuern und an die studentischen Defizite anzupassen.
Diese Überlegungen ziehen die folgenden Forschungsfragen nach sich:
- Forschungsfrage 1: Wie viele und welche Informationen werden in wiederholten Fallrepräsentationen in einfachen, mittelschweren und schwierigen klinischen Fällen eingeschlossen und wie entwickeln sich diese während des Diagnoseprozesses?
- Forschungsfrage 2: Gibt es eine Assoziation zwischen Informationskategorien und Struktur der Repräsentationen und der korrekten Diagnose?
Methodik
Studiendesign, Probanden und Procedere
Dieser Artikel beschreibt die Ergebnisse einer qualitativen Analyse einer Interventionsstudie, in welchem die Einflüsse von Repräsentationen auf die Diagnosekompetenz von Medizinstudierenden und die zugrundeliegenden Mechanismen untersucht wurden [17], [18]. In der Studie wurden eine Kontrollgruppe und eine Interventionsgruppe, welche Repräsentationsprompts erhalten hat, hinsichtlich Diagnoserichtigkeit und Diagnoseeffizienz miteinander verglichen. Zudem wurden die Diagnosefehler der Studierenden qualitativ ausgewertet. Der vorliegende Artikel ist eine sekundäre Teilanalyse des Interventionsarms dieser Studie.
Im Juni 2016 bearbeiten 50 Medizinstudierende im vierten und fünften Studienjahr vier klinische Fälle mit dem Hauptsymptom Dyspnoe [17] auf der elektronischen Lernplattform CASUS [19], [20]. Zuerst schauten die Probanden ein Einführungsvideo an, in dem die richtige Bearbeitungsweise erklärt wurde: Sie wurden aufgefordert, sich in eine Visitensituation hineinzuversetzen, in der sie einen Patienten anderen Ärzten vorstellen müssen. Außerdem wurden die technischen Aspekte der Lernplattform, also wie die klinischen Informationen ausgewählt werden können, erklärt. In der Lernphase bearbeiteten die Probanden vier klinische Fälle in vorgegebener Reihenfolge und wurden aufgefordert, Fallrepräsentationen während der Fallbearbeitung zu schreiben. Dreimal – nach der Anamnese, der körperlichen Untersuchung und der Patientenakte – erhielten die Studierenden den folgenden Prompt: „Bitte fassen Sie den Fall so zusammen, wie Sie ihn Ihrem Oberarzt präsentieren würden.“ (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]). Die Probanden konnten frei durch die technischen Untersuchungen und Befunde navigieren. Dabei konnten sie so viele klinische Informationen aus der Patientenakte, welche zehn verschiedene Typen technischer Untersuchungen für jeden Fall enthielten, in frei wählbarer Reihenfolge sammeln, wie sie wollten. Es waren jeweils nur die Befunde der technischen Untersuchungen gegeben (z.B. Ergebnisse einer Blutgasanalyse oder die Werte einer Lungenfunktionsprüfung) ohne eine Bewertung. So wurden beispielsweise auch zu den Röntgenbildern keine Befundung angegeben, sondern die Befundung musste bei allen Untersuchungen von den Studierenden selbst erfolgen. Nach der Bearbeitung eines jeden Falles mussten die Probanden ihre Verdachtsdiagnose aufschreiben.
Schwierigkeitsgrad der Fälle
Die Schwierigkeit der Fälle wurde in einer Pilotstudie mit zehn Medizinstudierenden unterschiedlichen Expertisegrades getestet. Die vier Fälle wiesen einen unterschiedlichen Schwierigkeitsgrad auf: Der Fall Aortenstenose (Nr. 1) war simpel und die meisten Studierenden konnten ihn lösen. Die Fälle Hyperventilation (Nr. 2) und Urämie (Nr. 3) waren von mittlerer Schwierigkeit; etwa die Hälfte der Probanden konnte die Fälle korrekt lösen. Der Fall AV-Knoten-Reentry-Tachykardie (AVNRT, Nr. 4) war schwierig aufgrund dieser eher selteneren Erkrankung und des eher komplexeren Elektrokardiogramms. Auch in der tatsächlichen Studie unterschied sich die Diagnoserichtigkeit bezüglich der unterschiedlichen Fälle deutlich: Der erste Fall, Aortenstenose, wurde von 80 % der Probanden richtig gelöst; der zweite Fall, Urämie, wurde von 60%, der dritte Fall, Hyperventilation, von 56%, und der letzte Fall, AVNRT, von 5% gelöst. Die Diagnoserichtigkeit wurde binär codiert (richtig = erfolgreich und falsch = erfolglos) bezogen auf eine Expertenlösung des Falls. Außerdem war im Vorhinein im Expertenkonsens festgelegt, welche Informationen in welchem Fall zur richtigen Lösung notwendig waren. Diagnoseergebnis und Prozess wurden im Hinblick auf die Expertenlösung bewertet. Der Expertenkonsens beruht auf den Einschätzungen und Diskussionen der Fallentwicklerin (LB) sowie den Reviewern der Fälle (zwei fortgeschrittenen Assistenzärzten für Innere Medizin, einem Facharzt für Innere Medizin sowie einem Oberarzt) in Anlehnung an die tägliche klinische Praxis.
Qualitative Analyse und Statistik
Um die verschiedenen Informationskategorien in den Repräsentationen zu unterscheiden, analysierten wir die Daten in Anlehnung an Mayring [21]. Die studentischen Repräsentationen wurden codiert, indem die Inhalte verschiedenen Kategorien (Informationsebenen) zugeordnet wurden, welche in der Literatur zu finden sind [22], [23]. Alle Repräsentationen wurden von einer Forscherin codiert (LB). Ein zweiter Rater (BL) codierte 10% der Daten. Der Interraterkoeffizient (Cohens kappa) war k=0.784. Die folgenden Kategorien deckten alle von den Probanden genannten Informationen ab: Anamnese (inklusive Geschlecht, Alter, Vorerkrankungen, Medikation, Alkohol- und Nikotinkonsum, aktueller Krankheitsverlauf, Progression, Symptome), körperliche Untersuchung (Vitalparameter, Allgemein- und Ernährungszustand, Kardiovaskuläres System, Pulmo, Abdomen, Neurostatus, Lymphknotenstatus) und technische Untersuchungen (Labore, Elektrokardiogramm, Röntgenthorax, arterielle Blutgasanalyse, Lungenfunktionsprüfung, Echokardiogramm, Urinstix, Abdomensonographie, Bakteriologische Testung). Außerdem wurde codiert, ob die Probanden eine Diagnose in ihrer Repräsentation nannten und ob sie die Informationen in irgendeiner Form bewertet/evaluiert haben. Zwei Beispielcodierungen sind in Abbildung 2 [Abb. 2] und Abbildung 3 [Abb. 3] gezeigt.
Korrelationen zwischen soziodemographischen Angaben, dem Diagnoseergebnis und den Repräsentationen berechneten wir mit Pearsons Korrelationskoeffizient. Gruppenunterschiede wurden mit t-Tests, Mann-Whitney-Tests oder mit dem Wilcoxon-Test getestet. P-Werte≤.05 wurden als statistisch signifikant gewertet. Aufgrund des explorativen Charakters der Studie berücksichtigten wir multiples Testen nicht [24].
Ergebnisse
43 Studierende (29 Frauen, 14 Männer) bearbeiten alle Fälle; die anderen 7 Datensätze waren unvollständig und wurden aus der Analyse ausgeschlossen. 516 Fallrepräsentationen wurden aufgezeichnet. Alle Repräsentationen wurden mit dem oben genannten Codierschema codiert. Beispiele für Repräsentationen eines Diagnoseprozesses, der zum korrekten Ergebnis führte, und einem, der zu einer falschen Diagnose führte, zeigen Abbildungen 2 [Abb. 2] und 3 [Abb. 3]. Für alle Ergebnisse gilt, dass sich keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern oder den Ausbildungsjahren zeigten.
Informationsebenen, Länge und Dynamik der Repräsentationen
Die Probanden hätten auf 12 verschiedene Informationsebenen in der ersten Repräsentation eingehen können, auf 20 in der zweiten und auf 30 in der dritten (also auf insgesamt 62 Informationsebenen bei jedem der vier Fälle). In Tabelle 1 [Tab. 1] werden die absoluten und relativen Informationsmengen, welche die Studierenden in ihre Repräsentationen einschlossen, aufgeführt. Die Länge der Repräsentationen (Anzahl der Wörter) steigt von der ersten bis zur dritten Repräsentation bei allen vier Fällen. Die erste war im Schnitt M=29 Wörter (SD=9) lang, die zweite M=34 (SD=16), während die letzte Repräsentation M=55 (SD=27) Wörter umfasste. Obwohl die Studierenden kontinuierlich mehr Informationen während der Fallbearbeitung erhielten, schlossen sie in Relation zur Menge nicht mehr Informationen ein (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]). Insgesamt reicherten die Studierenden ihre zweite Repräsentation mit neuen klinischen Informationen an, doch insbesondere in der dritten Repräsentation selektierten die Studierenden die Informationen und schlossen zum Beispiel weniger physiologische Befunde in die zweite und in die dritte Repräsentation ein. Der Fall Aortenstenose (Nr. 1, einfach) weicht davon ein wenig ab: schon in der zweiten Repräsentation werden deutlich weniger klinische Informationen eingeschlossen.
Die Studierenden schlossen viele anamnestische Aspekte (siehe Tabelle 2 [Tab. 2]) in ihre erste Repräsentation ein; die Zahl der anamnestischen Angaben nahm in der zweiten und der dritten Repräsentation jedoch ab. Die zeitlichen Aspekte werden nicht immer genannt; vor allem der zeitliche Verlauf wird häufig ausgelassen. Auch die klinischen Symptome sind oft unvollständig. In jedem Fall präsentierte sich der Patient mit vier verschiedenen Symptomen, aber die Studierenden tendierten dazu, nur zwei oder weniger Symptome zu nennen. Beispielsweise fehlten im Fall Urämie häufig die Symptome „Erbrechen“ und „Übelkeit“ in den Repräsentationen. Die Befunde der körperlichen Untersuchung werden ziemlich umfassend in der zweiten Repräsentation dargestellt; in der letzten Repräsentation werden sie hingegen kaum erwähnt (siehe Tabelle 2 [Tab. 2]). Von allen zehn technischen Untersuchungen werden im Schnitt nur die Ergebnisse von zweien berichtet (siehe Tabelle 2 [Tab. 2]). Im Vorhinein wurde im Expertenkonsens festgelegt, welche Informationen zur Falllösung unbedingt notwendig waren. In jedem Fall wären so z.B. nur die Ergebnisse einer einzigen technischen Untersuchung wirklich wichtig gewesen, um den Fall korrekt zu lösen. Die dritte Repräsentation hätte pro Fall nur 4-5 positive Information enthalten müssen. Die Studierenden schlossen hingegen deutlich mehr Items in ihre Repräsentationen ein (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]). Für Repräsentation 1 und 2 ließ sich vorher nicht festlegen, wie viele Informationen enthalten sein müssen, um eine gute Repräsentation widerzuspiegeln. Gerade hinsichtlich der Nennung von negativen Informationen bzw. physiologischen Ergebnissen ist unklar, ob diese zu Beginn des Diagnoseprozesse Teil der Repräsentationen sein sollten oder nicht.
Zusätzlich wurde in allen Repräsentationen untersucht, ob eine Diagnose genannt wurde oder andere Bewertungen der Informationen erfolgten. 51% der Studierenden nannten nie eine Diagnose in irgendeiner der insgesamt 12 Repräsentationen. 30% nannten einmalig eine Diagnose, 14% zweimal und nur 5% nannten dreimal eine Diagnose. Wenn die Studierenden eine Diagnose angaben, dann am ehesten in dem Fall Aortenstenose (Nr. 1).
Die Fallschwierigkeit beeinflusst die Repräsentationen nur wenig. Die Menge oder Art der klinischen Informationen ist nicht fallabhängig, sondern sehr ähnlich in allen vier Fällen. Demnach scheint der Umfang einer einzelnen Repräsentation ein stabiles Persönlichkeitsmerkmal zu sein: Die Länge der Repräsentationen eines einzelnen Probanden korreliert zwischen den Fällen (r=0.60–0.86).
Die Repräsentationen in Bezug auf das Diagnoseergebnis
Zusätzlich verglichen wir die Repräsentationen der erfolgreichen und erfolglosen Diagnoseprozesse bei den Fällen mittlerer Schwierigkeit (Urämie und Hyperventilation). Die Repräsentationen der anderen beiden Fälle wurden nicht verglichen, da diese Fälle entweder von fast allen Studierenden (Aortenstenose) oder nur ganz wenigen (AVNRT) gelöst wurden. Die Länge (Anzahl der Wörter) korreliert nicht mit der korrekten Falllösung (r=-0.08–0.31). In beiden Fällen gibt es keine Unterschiede in der ersten und zweiten Repräsentation bezüglich der Menge oder Art der klinischen Informationen, die in die Zusammenfassungen eingeschlossen werden.
Die dritte Repräsentation unterscheidet sich hingegen zwischen den Studierenden mit einem erfolgreichen und denen mit einem erfolglosen Diagnoseprozess: Zum einen schlossen die erfolgreichen Studierenden mehr korrekte Informationen in ihre Repräsentationen ein, wie beispielsweise die Ergebnisse der Blutgasanalyse im Fall Hyperventilation (71% vs. 26%, p=0.004) oder anamnestische Angaben im Fall Urämie (zeitlicher Verlauf 73% vs. 35%, p=0.015 und Erbrechen 73% vs. 35%, p=0.015). Des Weiteren enthielten die Repräsentationen in erfolgreich gelösten Fällen weniger unwichtige oder distrahierende Informationen, wie die Medikation im Fall Hyperventilation (46% vs. 84%, p=0.011) oder die Ergebnisse der Lungenfunktionsprüfung (8% vs. 37%, p=0.024).
Diskussion
Ziel und Zusammenfassung der Studie
Ziel dieser Studie war es, die Informationsebenen von studentischen Fallrepräsentationen zu untersuchen. Erstens versuchten wir zu beantworten, wie viele und welche Informationen in wiederholten Repräsentationen eingeschlossen werden und wie sich dies während des Diagnoseprozesses ändert. Zweitens wurde der Zusammenhang zwischen den in die Repräsentationen eingeschlossenen Informationen und der richtigen Falllösung untersucht. Dieses Wissen kann zu einer gezielteren Förderung der Diagnosekompetenz von Studierenden beitragen.
Die Repräsentationen vor dem theoretischen Hintergrund
In dieser Studie wurden die Stärken und Schwächen von studentischen Repräsentationen aufgedeckt. Repräsentationen verändern sich während des Diagnoseprozesses. Zuerst werden fast alle Informationen eingeschlossen, aber mit dem Informationszuwachs fangen die Probanden an, die klinischen Informationen zu selektieren und zu ordnen. Insbesondere negative Ergebnisse der technischen Untersuchungen oder epidemiologische Aspekte (z.B. Alkoholkonsum), welche sich als irrelevant herausstellen, werden nicht mehr in die zweite und dritte Repräsentation eingeschlossen. Dies passt zu den theoretischen Konzepten von Charlin et al., welche die Dynamik von Repräsentationen beschreiben [6]. Nichtsdestotrotz schließen Studierende bei Weitem mehr Informationen in ihre Repräsentationen ein, als notwendig wäre. Die Nennung physiologischer Befunde kann einerseits einen schlechten Diagnoseprozess widerspiegeln, da die Selektion der relevanten Informationen nicht gelingt. Andererseits könnten physiologische Befunde aber auch ganz bewusst von den Studierenden genannt werden (wie z.B. die Sauerstoffsättigung im Fall Hyperventilation in Abgrenzung zur Differentialdiagnose Asthmaanfall), um Differentialdiagnosen abzugrenzen. Deswegen können aufgrund der Länge der Repräsentationen keine Rückschlüsse auf die Wertigkeit der Repräsentation geschlossen werden.
Die Probanden berichten in allererster Linie die klinischen Informationen, aber bewerten diese kaum und nennen selten Diagnosen. Dies steht in Einklang mit anderen Studien [5]. Außerdem haben sie Schwierigkeiten, die Symptome eines Patienten miteinander zu verbinden. Oft werden nur ein oder zwei Symptome erwähnt, obwohl alle vier zusammengehören (Beispielsweise im Fall Urämie die Symptome „Erbrechen“, „Übelkeit“, „Dyspnoe“ und „Müdigkeit“). Vielleicht wussten die Studierenden nicht – oder es fiel ihnen nicht auf – dass diese Symptome in ihrer Kombination eine Niereninsuffizienz anzeigen können. Offensichtlich haben einige Studierende Schwierigkeiten, die Pathophysiologie eines Falls zu begreifen. Zudem fehlten oft die zeitlichen Verläufe der Erkrankung, obwohl dies natürlich von großer Wichtigkeit ist. Dies ist einer der Gründe, weshalb die Probanden eine falsche Diagnose stellten: Sie nannten z.B. Verdachtsdiagnosen, die einen akuten Beginn haben, obwohl in der Anamnese ein chronischer Verlauf beschrieben wurde.
Interessanterweise unterscheiden sich die Repräsentationen zwischen den einzelnen Fällen nicht signifikant, obwohl sie sich im Schwierigkeitsgrad unterschieden. Dieses Ergebnis ist allerdings nur auf den ersten Blick überraschend: Mit zunehmender klinischer Erfahrung (z.B. durch die Anzahl an Famulaturen) scheinen Studierende zu lernen, dass z.B. epidemiologische Angaben ein obligater Bestandteil von Fallvorstellungen sind und deswegen werden diese in allen Repräsentationen aufgeführt. In Bezug auf Bordages Beschreibung der semantic qualifiers als „den angemessenen medizinischen Jargon“ [13], sind die Informationsebenen der studentischen Repräsentationen – unabhängig von der Richtigkeit der Falllösung- sehr ähnlich: Studierende wissen, was sie in eine Repräsentation einschließen sollten – sie folgen dem „angemessenen medizinischen Jargon“. Dies könnte ein Grund für die geringen Unterschiede zwischen den einzelnen Repräsentationen sein.
Des Weiteren scheint es ein Informationsmaximum zu geben, das in einer Repräsentation enthalten sein kann. In allen vier Fällen gingen die Studierenden in ihrer letzten Repräsentation auf 10 -12 Informationsebenen ein – dabei waren in der zweiten Repräsentation die Unterschiede zwischen den Fällen deutlich größer. Für eine erfolgreiche Falllösung scheint der fallspezifische medizinische Kontext wichtiger zu sein als der generelle Repräsentationsprozess, welcher von den Studierenden tatsächlich ziemlich gut gemeistert wird.
Stärken und Schwächen
Diese Studie hat mehrere Stärken. Wir haben eine relativ große Stichprobe in einem Laborsetting mit sehr realitätsnahen Fällen untersucht. Zudem ist diese Studie unseres Wissens nach die erste, in der medizinische Informationen von studentischen Fallrepräsentationen analysiert wurden. Dennoch hat die Studie Limitationen. Wir haben nur vier internistische Fälle mit dem Leitsymptom Dyspnoe untersucht und können deswegen keine Aussagen über Fallrepräsentationen in anderen Fachdisziplinen treffen. Zudem mussten die Studierenden ihre Diagnosen am Ende eines jeden Falls begründen. Dies könnte den Diagnoseprozess in einem von uns nicht einschätzbaren Maß beeinflusst haben.
Schlussfolgerungen und Bedeutung für die Lehre
Studentische Repräsentationen sind auf Informationsebene zufriedenstellend und dynamisch. Damit erfüllen sie die geforderten Kriterien für Repräsentationen im Diagnoseprozess. Generell gesehen führt ein Repräsentationsprompt zu ziemlich ähnlichen und stabilen Repräsentationen und ist unabhängig von der Fallschwierigkeit. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass Repräsentationsaufgaben von Studierenden gut bewältigt werden können. Scaffolds, wie eine Repräsentation erfolgen soll, sind für fortgeschrittene Medizinstudierende nicht nötig. Studentische Defizite beim Diagnostizieren sind eher auf Wissenslücken zurückzuführen. Insbesondere das pathophysiologische Wissen scheint unzureichend zu sein. Viele Studierende schaffen es nicht, Symptome miteinander zu vernetzen oder verschiedene Befunde miteinander in Einklang zu bringen. Ihr Wissen ist entweder nicht gut strukturiert oder das Abrufen der relevanten Fakten, um den Fall korrekt zu lösen, gelingt nicht – oder beides. Daher könnten Instruktionsprompts zum Erklären der Kombinationen verschiedener Symptome ein wertvoller Schritt zur Verbesserung der Diagnosekompetenz sein.
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.
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