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Wie schätzen Ärzte in Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin ihre eigene Kompetenz ein?
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Eingereicht: | 27. Oktober 2016 |
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Überarbeitet: | 3. Februar 2017 |
Angenommen: | 7. März 2017 |
Veröffentlicht: | 15. November 2017 |
Gliederung
Zusammenfassung
Die Einschätzung der eigenen Kompetenz stellt eine Schlüsselqualifikation für den Facharzt1 dar. Wir haben untersucht, wie sicher sich Ärzte in Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin in unterschiedlichen Bereichen einstufen.
Dazu wurden 139 Selbsteinstufungen zur subjektiven Sicherheit in 20 Kernkompetenzen und 47 Beratungsanlässen von Teilnehmern (TN) allgemeinmedizinischer Weiterbildungskurse der Ärztekammer Westfalen-Lippe auf einer 5-stufigen Likert-Skala erfasst. Fragestellungen waren Akzeptanz und Praktikabilität, Mittelwert, Zuverlässigkeit, Streumaße und Plausibilität der Ergebnisse im Gruppenvergleich.
Ärzte in Weiterbildung stufen ihre subjektive Sicherheit im Mittel mit 3,4 von 5 Punkten ein. Die Ergebnisse sind in sich Konsistent. Dabei zeigen sich erhebliche Unterschiede – sowohl zwischen erfragten Kompetenzen als auch zwischen Teilnehmern. Letztere lassen sich zum Teil durch biographische Angaben der TN erklären, was die Plausibilität der Daten unterstützt.
Teilnehmer sind der Meinung, dass die regelmäßige Erhebung subjektiver Lernbedürfnisse und die Diskussion derselben mit Mentoren oder Weiterbildern einen Beitrag zur Verbesserung der Weiterbildung darstellt.
1. Einführung
Im Rahmen der Weiterbildung müssen unterschiedliche Kompetenzen erworben werden. Patterson et al. definierten beispielsweise für den Hausarzt elf unterschiedliche Kompetenzbereiche, darunter klinische Expertise, professionelle Integrität, Empathie, kommunikative Fertigkeiten, konzeptionelles Denken und Umgang mit Belastungssituationen [1].
Wir gehen davon aus, dass jeder Arzt1 in Weiterbildung (AIW) ein eigenes Stärken- und Schwächenprofil an unterschiedlichen Kompetenzen mitbringt. Diese Kompetenzen sind dem AIW nur zum Teil bewusst, sind mindestens teilweise erworben bzw. trainierbar, aber nur zum Teil mittels objektiver Verfahren überprüfbar.
Die Weiterbildung an sich folgt dem Modell der „deliberate practice“: Dies besagt, dass die alleinige Wiederholung von Tätigkeiten nicht ausreichend ist, Kompetenzen zu verbessern. Maßgeblich sind unter anderem Feedback und die Fähigkeit des Lernenden, individuelle Stärken und Schwächen zu erkennen um diese gezielt anzugehen [2]. Im Gegensatz zur streng reglementierten und curricular organisierten medizinischen Ausbildung liegt in der Weiterbildung ein hohes Maß an Verantwortung beim Lernenden, die erforderlichen Kompetenzen zu erwerben.
Da eine maximale Kompetenz in allen Bereichen zwar wünschenswert, aber kaum realistisch ist, müssen Ärzte ihre eigenen Grenzen erkennen und ihre Kompetenz realistisch einschätzen. Nur so kann das Risiko von Fehleinschätzungen und Beinahe-Fehlern auf Kosten von Patienten weitest möglich minimiert werden.
Oben genannte Kompetenzen sind in der Facharztprüfung im üblichen Format nur zum Teil überprüfbar. Alternative Prüfungsformate könnten möglicherweise das Assessment verbessern. International geht der Trend zu longitudinalen, kompetenzbasierten Prüfungsformaten in der Weiterbildung zum Hausarzt [3]. Jedes Format birgt jedoch die Gefahr, dass bestimmte Elemente nicht erfasst werden und es zu falsch positiven oder falsch negativen Ergebnissen führen kann. Dieses Risiko lässt sich durch die Kombination verschiedener Testverfahren minimieren. Essenzielle Kompetenzen, die durch ein gegebenes Prüfungsformat nicht überprüfbar sind, sollten auf andere Art und Weise Berücksichtigung finden.
Feedback ist ein probates Mittel, die Selbstwahrnehmung der eigenen Kompetenz zu hinterfragen [4]. Feedback ist subjektiv und stark von der Wahrnehmung und Erfahrung des Beobachters abhängig. Feedback und Prüfungen sind erforderlich, um die realistische Selbsteinschätzung der eigenen Kompetenz zu unterstützen.
Zur Steuerung der Weiterbildung werden in der Weiterbildungsordnung Weiterbildungskataloge mit Prozeduren und Tätigkeiten definiert, deren Durchführung zum Zeitpunkt der Facharztprüfung nachgewiesen werden muss. Diese Kataloge sind in den vergangenen Jahren zunehmend in die Kritik geraten und sollen durch kompetenzbasierte Ansätze ergänzt oder ersetzt werden [5].
Dem AIW sollte ein Mentor zur Seite gestellt werden, der die Weiterbildung supervidiert. Dieser Mentor soll dafür Sorge tragen, dass für die Praxis erforderliche Kompetenzen in unterschiedlichen klinischen Rotationen erworben werden [6].
In vergangener Zeit wurden Logbücher für die Weiterbildung eingeführt, die in regelmäßigen Gesprächen zwischen Weiterbilder und Weiterzubildendem zusammen durchgegangen werden sollen, um Schwerpunkte für den nächsten Weiterbildungsabschnitt festzulegen und bereits erworbene Kompetenzen vom Weiterbilder bescheinigen zu lassen.
Dieser Studie liegt ein Logbuch für die akademische Verbundweiterbildung Allgemeinmedizin der Ruhr- Universität Bochum (Version 3.5) zu Grunde, das ergänzend zum Logbuch der Ärztekammer Inhalte mehrerer Curricula für die allgemeinmedizinische Weiterbildung vereint [7], [8], [9], [10], [11]. Wesentliche Inhalte sind Kernkompetenzen (20 Items), Fachkenntnisse (27 Items), praktische Fertigkeiten (58 Items), allgemeinmedizinische Beratungsanlässe (47 Items) und Inhalte aus verschiedenen medizinischen Fachgebieten (122 Items).
1.1. Problemstellung
Portfolios gehen über die Idee der Logbücher noch hinaus. Sie enthalten neben Elementen zur Lernsteuerung auch Elemente zur Selbstreflexion und Elemente zum Feedback bzw. Assessment [12].
Zur eigenen Qualitätskontrolle (Habe ich alles gelernt, das ich als Facharzt später brauche?) und als Basis für das Mentoring soll ein Portfolio entwickelt werden, welches ausgewählte Kernkompetenzen für den späteren Facharzt für Allgemeinmedizin (AM) enthält. Das Modell für dieses Portfolio basiert auf einer regelmäßigen Selbsteinschätzung von Kompetenzen, die ein Facharzt für Allgemeinmedizin braucht [13].
Diese Selbsteinschätzung dient zunächst der Erstellung eines – subjektiven – Stärken- und Schwächenprofils. Durch die Einführung zuverlässiger formativer longitudinaler Testformate (work based assessment) kann dem Lernenden die Möglichkeit gegeben werden, seine Selbsteinschätzung zu überdenken und somit ein realistischeres Bild eigener Stärken und Schwächen zu erhalten [14].
Darüber hinaus soll die Selbsteinstufung – auf kollektiver Ebene – als Qualitätsindikator für die Effektivität von Aus- und Weiterbildungsabschnitten dienen [15].
1.2. Fragestellungen der Studie:
- 1.
- Wie verhalten sich Durchführbarkeit und Akzeptanz des Verfahrens bei Ärzten in Weiterbildung?
- 2.
- Wie verteilen sich Mittelwert, Zuverlässigkeit und Streuungsmaße der erhobenen Items?
- 3.
- Sind die erhobenen Daten im Gruppenvergleich plausibel?
2. Methoden
244 TN von 6 Kursterminen eines Weiterbildungskurses zum Facharzt für Allgemeinmedizin wurden gebeten, ihre subjektiv empfundene Sicherheit zu vorgegebenen 20 (allgemein-)medizinischen Kernkompetenzen einzustufen. Ab der zweiten Befragung wurde eine Liste von häufigen Beratungsanlässen ergänzt. Zusätzlich erfasst wurden soziodemographische Variablen (Geburtsjahr, Jahr der Approbation, Jahre ärztlicher Berufstätigkeit als Vollzeitäquivalente, bestehende Facharztabschlüsse, Erfahrungen in medizinischen Fachgebieten und momentane Tätigkeit).
Die Befragung erfolgte anonymisiert im Papierformat. Die Befragten hatten die Möglichkeit, eine Emailadresse anzugeben und eine individuelle Rückmeldung der eigenen Einschätzung im Vergleich zum Mittelwert aller TN zu erhalten. Zusätzlich wurden sie gebeten, eine qualitative Rückmeldung zu geben.
Aus den soziodemographischen Variablen wurden zur weiteren Auswertung fünf unterschiedliche Teilnehmergruppen gebildet:
- 1.
- direkte Weiterbildung zum Facharzt Allgemeinmedizin (WB Zeit <7 Jahre)
- 2.
- Quereinstieg (abgeschlossener 1. Facharzt)
- 3.
- verzögerte Weiterbildung (WB Zeit >7 Jahre und ärztliche Tätigkeit >50% der Zeit)
- 4.
- Wiedereinstieg (wie III und ärztliche Tätigkeit <50% der Zeit),
- 5.
- sonstige/unbekannt.
Durch die Möglichkeit der Teilnahme an bis zu drei Fortbildungsveranstaltungen in beliebiger Reihenfolge sind Mehrfach-Beteiligungen möglich. Für die Einteilung in die Gruppen wurden die Datensätze anhand der angegebenen persönlichen Daten von denjenigen bereinigt, die von denselben Personen stammen könnten, um systematische Verzerrungen zu vermeiden. Diese werden im weiteren als „Einfachteilnehmer“ benannt.
Die Auswertung der Selbsteinstufungen erfolgt via SPSS 24.
Mithilfe einer multivariablen Regression wurde ausgehend vom maximalen Modell, das alle Faktoren mit einem p-Wert von <0,1 einschloss, die Unabhängigkeit der Variablen getestet und diese stufenweise bis zum minimalen Modell reduziert. Hier wurden nur noch die signifikanten und relevanten Unterschiede (OR<0,75 vergleichsweise unsicherer bzw. OR>1,5 vergleichsweise sicherer) zwischen den Gruppen als unabhängige Prädiktoren gewertet. Bei mehrfacher Teilnahme wurde hier jeweils die erste Selbsteinstufung („Einfachteilnehmer“) zu Grunde gelegt.
An Hand dieser Emailadressen war in Einzelfällen der Vergleich individueller Einstufungen zwischen zwei Befragungszeitpunkten möglich. Zur Ermittlung der Dynamik von Selbsteinstufungen zwischen den Erhebungszeitpunkten wurde von denjenigen Teilnehmern, zu denen Einstufungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten vorliegen und die an Hand der Emailadresse eindeutig einer Person zuzuordnen sind, ermittelt, wie sich die Einstufung verändert.
3. Ergebnisse
Insgesamt liegen 139 Rückmeldungen (Rücklauf 57%) zur Einstufung der Kernkompetenzen und 108 Rückmeldungen zur Einstufung von Beratungsanlässen vor.
Bei 44 Datensätzen wurde auf Grund der biographischen Angaben eine Mehrfach-Teilnahme angenommen, 95 Datensätze weisen so unterschiedliche biographische Angaben auf, dass sie von unterschiedlichen Personen stammen müssen (Einfachteilnahme) (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]).
Quereinsteiger kamen aus der Anästhesie (10), Chirurgie inkl. Unfallchirurgie/Orthopädie (8), Psychiatrie/Neurologie (3), Kinderheilkunde (2), Arbeitsmedizin, Dermatologie, Radiologie, Strahlentherapie und Physikalische Medizin/Rehabilitation (je 1).
„Sonstige“ sind Teilnehmer, die sich auf Grund ihrer Angaben nicht eindeutig zuordnen lassen (z.B. Fachärzte AM, die den Kurs als Refresher wahrnehmen oder Kollegen, die einen anderen Facharzt anstreben).
Das mittlere Alter der Gruppen II und III unterscheidet sich nur geringfügig, ebenso die Jahre seit Vollapprobation. Hinsichtlich der Berufserfahrung (Jahre Vollzeitäquivalenz ärztlicher Tätigkeit) ähnelten jedoch die Wiedereinsteigerinnen (Gruppe IV) trotz höherem Durchschnittsalter den Kolleginnen, die die Weiterbildung direkt anstreben (Gruppe I).
Praktische Vorerfahrungen der TN bestehen in den Fachgebieten Innere Medizin (68%), Allgemeinmedizin (56%), Chirurgie (32%), Anästhesie (15%), Psychiatrie (15%), Neurologie (7%), Gynäkologie (6%), Orthopäde (11%), Geriatrie (5%), Pädiatrie (5%), Dermatologie (2%), sonstige (13 Gebiete mit je 1 Nennung).
Zum Zeitpunkt der Befragung befanden sich 55% der Antwortenden als Arzt in Weiterbildung in der Praxis und 15% im Krankenhaus, 31% in anderen Fachbereichen, zwei waren bereits Facharzt für Allgemeinmedizin (Rest unbekannt).
Ihre subjektive Sicherheit zu allgemeinmedizinischen Kernkompetenzen stuften die TN auf der Skala von 1 (sehr unsicher) bis 5 (sehr sicher) im Mittel mit 3,6 ein; am häufigsten (43% der Antworten) wurde die Stufe „eher sicher“ gewählt. Die Varianz der Selbsteinstufungen liegt im Mittel bei 0,8 (siehe Tabelle 2 [Tab. 2]). Der Parameter Cronbach Alpha beträgt für diese 20 Items nach Ausschluss ungültiger Fälle 0.863.
Zu allgemeinmedizinischen Beratungsanlässen stufen sich die TN im Mittel mit 3,4 von 5 Punkten ein. Die Varianz der Selbsteinstufungen liegt hier im Mittel bei 0,7 (siehe Tabelle 3 [Tab. 3]). Der Parameter Cronbach Alpha beträgt für diese 47 Items nach Ausschluss ungültiger Fälle 0.938.
Einflussgrößen auf die Selbsteinstufung in der multivariaten Analyse (Einfachteilnahme) sind insbesondere berufliche Vorerfahrung in der Allgemeinmedizin und Chirurgie. Weibliche Teilnehmer schätzen sich durchschnittlich tendenziell unsicherer ein, relevant sind die Unterschiede jedoch nur bei 5 Beratungsanlässen. Da die Teilnehmerinnen in der Stichprobe aber auch weniger Berufserfahrung (vollzeitäquivalent) als männliche TN aufwiesen, ist der Einfluss des Geschlechts auf die subjektive Sicherheit in den Items nur eingeschränkt beurteilbar. Alter und Berufserfahrung per se scheinen keinen signifikanten unabhängigen Einfluss zu haben (siehe Tabelle 4 [Tab. 4]).
Von 5 TN ließen sich individuelle Verläufe zu Selbsteinstufungen von je 67 Items zwischen den Befragungen miteinander vergleichen:
Nach 3 bzw. 6 Monaten sind im Mittel 35 von 67 Items (min 28, max 43) unverändert, im Mittel stufen sich die TN zu 21 Items (min 10, max 36) sicherer und im Mittel zu 11 von 67 Items (min. 3 max. 24) unsicherer ein als zum jeweils früheren Befragungszeitpunkt. Nur zu 5 der 67 Items zeigte sich bei der Stichprobe aller 5 TN eine unveränderte Einstufung zum späteren Befragungszeitpunkt.
Die Selbsteinstufung wurde im Freitext von vielen TN als hilfreich eingeschätzt:
„Ja, ich empfinde es als hilfreich, gerade um auch noch Defizite aufzudecken, aber auch um sich selbst Sicherheit zu verschaffen … Ich fände es gut, so mit meinem Weiterbilder gemeinsam besprechen zu können, wo Defizite vorliegen, auch wie er mich einschätzt und ich mich einschätze im Vergleich (…).“ (Teilnehmerin in direkter Weiterbildung zur Hausärztin)
„Die Einteilung der Kernkompetenzen halte ich für gut und ausreichend, um einen gesamten nicht zu detaillierten Überblick zu erhalten. […] Die Selbsteinstufung am Ende des Kurses hinsichtlich der Beratungsanlässe war für mich durchaus noch einmal hilfreich, um detaillierter und konkreter die Schwächen zu benennen. Insgesamt halte ich die Selbsteinstufung für ein wichtiges Element, um eigene Schwächen zu erkennen und diese aktiv in der Zukunft zu verbessern. Ideal ist die persönliche inhaltliche Fortbildung und das Besprechen von entsprechenden Fällen und Standards im laufenden Praxisbetrieb, das ist originäre Aufgabe eines jeden guten Ausbilders.“ (Quereinsteigerin aus der Anästhesie).
„Die Betrachtung der einzelnen Kompetenzen war für mich insoweit hilfreich, dass die Vielfalt der hausärztlichen Kompetenzen aufgelistet wurde. Eine bessere Strukturierung der Weiterbildung ist möglich, da im Alltag ein besonderes Augenmerk auf die eigenen Schwachstellen gelegt werden kann (…).“ (Quereinsteiger aus der Chirurgie).
4. Diskussion
Das Verfahren der Selbsteinstufung hat sich als praktikabel erwiesen und wird von einzelnen Teilnehmern als hilfreich erlebt. Allerdings nutzen nur 57% der befragten die Möglichkeit der Selbsteinstufung, die mit einem individuellen Feedback mit relativen Stärken und Schwächen zum Vergleichskollektiv verbunden war.
Die interne Konsistenz der Selbsteinstufungen ist vergleichsweise hoch, so dass von einer gewissen Zuverlässigkeit der Testergebnisse im Gesamtkollektiv ausgegangen werden kann. Die Variabilität der Antworten ist bei vielen Items vergleichsweise hoch – nur 5 von 67 Items zeigten nach 3 bzw. 6 Monaten keine Änderung bei einer Stichprobengröße von 5 TN.
Einfluss von Berufserfahrung
Signifikante und relevante Unterschiede zwischen Teilnehmergruppen unterschiedlicher Berufserfahrung und verschiedener Befragungszeitpunkte sprechen für eine gewisse Plausibilität der Ergebnisse für die Gesamtkohorte. Es lassen sich Trends und interessante Unterschiede zwischen verschiedenen Subgruppen identifizieren, die mittels üblicher Testverfahren nicht ohne größeren Aufwand zu ermitteln wären [15]. So hat erwartungsgemäß die praktische Berufserfahrung in der Hausarztpraxis einen besonders großen Einfluss auf die Sicherheit bei vielen Items, aber auch die praktische chirurgische Berufserfahrung scheint bei einigen Items eine Rolle zu spielen.
Bei Aspiranten zum Facharzt für Allgemeinmedizin muss davon ausgegangen werden, dass die Lernbedürfnisse der Teilnehmer - aufgrund unterschiedlicher Berufserfahrungen - äußert heterogen sind.
Zur Einflussgröße weiterer möglicher unabhängige Faktoren – wie z.B. dem Geschlecht der TN – ließen sich an Hand der kleinen Fallzahl keine sicheren Rückschlüsse ziehen. Allerdings zeigt die multivariate Analyse das die Kriterien „Geschlecht“, „Alter“ und „Berufserfahrung“ eine vergleichsweise geringe Rolle auf die Selbsteinstufung hat. Hier sind weitere Analysen an Hand größerer Teilnehmerkollektive erforderlich.
Bedarfsanalyse der Ärzte in Weiterbildung
In der Zusammenschau zeigen sich gewisse allgemeine Trends: Die meisten Befragten fühlen sich in körperlicher Untersuchung, Beherrschung von Notfällen, Aufbau von Arzt-Patientenbeziehungen, Dokumentation, selbstständiger Fortbildung und Kenntnis persönlicher Grenzen sicher. Subjektive Unsicherheiten bestehen am häufigsten bei der Betreuung chronisch kranker Patienten, der palliativmedizinischen Versorgung, Früherkennungsuntersuchungen sowie in vertraglichen, organisatorischen und betriebswirtschaftlichen Aspekten der Hausarztmedizin.
Während bei einigen Beratungsanlässen nur sehr selten Unsicherheiten angegeben werden (z.B. Fieber, Erbrechen, Brennen beim Wasserlassen, Durchfall), bestehen bei anderen (z.B. Effloreszenzen, vaginaler Ausfluss und Augenprobleme) häufig Unsicherheiten. Aber auch psychogene Beratungsanlässe wie Sucht, Gewalterfahrung und sexuelle Probleme bereiten vielen TN Unsicherheiten.
Die Analyse der Selbsteinstufungen kann somit helfen, die Gestaltung und Themenauswahl von Weiterbildungskursen dem Teilnehmerprofil anzupassen. Bei longitudinalen Weiterbildungskursen mit mehreren Terminen lassen sich so gruppenspezifische Unsicherheiten gezielter angehen.
Bedarfsanalyse des Individuums – Umgang mit Stärken und Schwächen
Ein weiterer Schwerpunkt der vorgestellten Erhebung ist die Bedarfsanalyse des individuellen Lernenden. Ziel der Weiterbildung zum Hausarzt kann nicht sein, maximale Sicherheit in allen Fragestellungen zu erlangen. Vielmehr geht es darum, sich der eigenen Unsicherheiten im diagnostischen und therapeutischen Kontext bewusst zu werden und diesen gezielt zu begegnen („dealing with uncertainty“ [16]). Dabei ist zu beachten, dass die individuelle Sicht auf die eigene Kompetenz und Sicherheit persönlichkeits- (und geschlechts-) abhängig unterschiedlich sein kann.
Relative Unterschiede zwischen einzelnen Items bzw. zur Vergleichsgruppe lassen sich im vorgestellten Format gut darstellen: Der TN kann sich bewusstwerden, in welchen Bereichen er seine subjektiv größten Schwächen und Stärken sieht und auch, wie sich diese im Vergleich zu anderen AIW unterscheiden. Dieses didaktische Element dient dazu, dass sich der Arzt in Weiterbildung gezielt mit einzelnen Themen auseinandersetzt. Bestehende Schwächen sollen bewusstgemacht werden, damit Patienten vor einer Selbstüberschätzung des Arztes geschützt werden. Hier kann auch die Erfahrung hilfreich sein, dass ein TN – in der theoretischen oder praktischen Weiterbildung – merkt, dass er sich im Vorfeld selber überschätzt hatte. Ein Ziel der Weiterbildung liegt darin, die Fähigkeit zur Selbsteinschätzung der eigenen Stärken und Schwächen zu verbessern und Orientierung für eine optimierte Weiterbildung zu geben.
Strukturierung der Weiterbildung
Die Selbsteinstufung der TN eignet sich auch zur individuellen formativen Gestaltung der Weiterbildung oder zum Monitoring des subjektiven Kompetenzgewinnes.
Eine derartige Befragung bietet einen Überblick, was von einem Facharzt für Allgemeinmedizin im Kern erwartet wird (siehe hierzu auch die weiter oben angeführten Freitexte). Obgleich nicht in allen Bereichen maximale Sicherheit erreicht werden kann, können so wichtige Themen, bei denen in der Weiterbildung noch große Unsicherheit besteht, identifiziert und bis zur Facharztprüfung aktiv angegangen werden.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass jeder Arzt im Laufe seiner Tätigkeit auch Erfahrungen macht, die ihn verunsichern, da er beispielsweise in der Routine scheinbarer Sicherheit Details übersieht. Es kann dementsprechend sein, dass stärkere Unsicherheit als Ausdruck einer differenzierteren Betrachtung eines Themas erst im Verlauf der Weiterbildung auftritt.
Die Selbsteinschätzung wird dadurch verkompliziert, dass die subjektive Sicherheit beim Übergang von der stationären in die ambulante Phase der Weiterbildung durch den neuen Kontext wieder abnehmen kann. Eine Ursache dafür könnte darin liegen, dass die Arbeit im allgemeinmedizinischen Niedrigprävalenzbereich mit seiner spezifischen Herangehensweise – im Vergleich zum stationären Setting – eine relativ hohe Unsicherheit mit sich bringt [17], [18]. Auch zu diesem Effekt sind weitere Untersuchungen erforderlich.
Stärken und Schwächen des Verfahrens
Die Selbsteinschätzung eigener Kompetenz entspricht nicht unbedingt der objektiv gemessenen Performanz [19].
Ob die Einschätzung der TN im Einzelfall zuverlässig und zutreffend ist, lässt sich an Hand der Daten nicht verifizieren. Ein Vergleich von Selbsteinschätzungen mit dem Feedback durch Weiterbilder, Peers oder Mentoren sowie Ergebnissen (formativer) berufsbegleitender Verfahren des „work-based-Assessment“ wäre wünschenswert. Hier bestehen Ansätze zur weiteren Forschung.
Durch die anonymisierte Befragung wurde das Bias der sozialen Erwünschtheit der Antworten weitgehend vermieden – diesem Effekt ist aber bei Implementierung eines nicht-anonymisierten Verfahrens Rechnung zu tragen.
Die kleine Stichprobe von 5 TN, zu denen eine Verlaufsbeobachtung möglich war, gibt einen ersten Anhalt dafür, dass sich die Selbsteinstufung im Verlauf der Weiterbildung interindividuell verändert – zur Ursachenanalyse und Beurteilung von Effektgrössen sind weit höhere Fallzahlen mit individuellen Verläufen erforderlich.
Als weitere Limitation der Studie ist aufzuführen, dass die Selbsteinstufung aus pragmatischen Gründen auf der Basis eines regionalen Logbuches für die allgemeinmedizinische Weiterbildung durchgeführt wurde. Bevor das Verfahren mittels höherer Fallzahlen weiter ausgebaut werden kann, sollten zentrale Aufgabenbereiche, die die Weiterbildung charakterisieren – beispielsweise mittels ausformulierter und konzertierter Entrusted Professional Activities (EPA) – definiert und konzertiert werden [20].
Von zentraler Bedeutung für die Allgemeinmedizin ist der mit allen bekannten Messinstrumenten schwer messbare Begriff des „hermeneutischen Fallverständnisses“, der neben anderen schwer messbaren Faktoren wie z.B. dem Aspekt der „Professionalität“ –, wenn überhaupt- am besten mittels multimodaler Ansätze erfasst werden kann.
5. Zusammenfassung und Ausblick
Die Selbsteinschätzung zu vorgegebenen Kompetenzen ist im Kollektiv der Teilnehmer plausibel und wird von einzelnen Teilnehmern als hilfreich erlebt.
Das Verfahren der Selbsteinschätzung eignet sich somit grundsätzlich zur Aufnahme in ein Portfolio für die Weiterbildung. Ein Vergleich der Selbsteinschätzung zur Referenzgruppe kann dem Teilnehmer helfen, seine eigene Einschätzung in bestimmten Bereichen zu hinterfragen. Die subjektive Selbsteinstufung sollte allerdings durch ein strukturiertes Feedback (durch Weiterbilder, Mentoren, Patienten, work-based assessment) ergänzt werden, wenn sie als formatives Gestaltungselement für die Weiterbildung genutzt werden soll.
Durch die Konzentration auf Kernkompetenzen könnte potentiell vermieden werden, wesentliche Punkte zu vernachlässigen und dort, wo es den TN nötig erscheint, unterstützend tätig werden. Die Hinzuziehung konkreter Beratungsanlässe lässt eine differenzierte Bertachtung zu kollektiven und individuellen Stärken und Schwächen zu.
Für die Frage, welches die entscheidenden Kernkompetenzen für den Facharzt sind und welche weiteren Items (z.B. in Form von EPA) angestrebt werden, wäre eine nationale Konsensbildung wünschenswert.
Diese Gedanken liegen der Entwicklung eines Portfolios für die Weiterbildung zu Grunde, das auf der Idee der repetitiven Selbsteinstufung – unter Diskussion der Ergebnisse mit einem zuständigen Mentor – basiert. Dieses könnte dazu dienen, das „learning on the job“ in der Weiterbildung [21] individuell adäquat zu unterstützen und im Kollektiv begleitende Weiterbildungskurse den Bedürfnissen der Teilnehmer anzupassen.
Eine durch ein derartiges Portfolio strukturierte Weiterbildung könnte somit dazu beitragen, die Weiterbildungssituation in Deutschland zu verbessern.
Anmerkung
1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird die männliche Form verwendet. Es sind jedoch stets beide Geschlechter gemeint.
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.
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