Artikel
Interprofessionelles Handeln im Gesundheitswesen: Ein Ausbildungsprojekt mit vier Lernsequenzen für Studierende aus sechs Studiengängen
Suche in Medline nach
Autoren
Eingereicht: | 14. August 2015 |
---|---|
Überarbeitet: | 22. Oktober 2015 |
Angenommen: | 16. November 2015 |
Veröffentlicht: | 29. April 2016 |
Gliederung
Zusammenfassung
Einleitung: Vor dem Hintergrund des demographischen Wandels und der Zunahme komplexer Versorgungsanforderungen fordern nationale und internationale Organisationen eine verstärkte Kooperation der Gesundheitsberufe. Die Implementierung von interprofessionellen Lehrangeboten in die Studiengänge der medizinischen, geburtshilflichen, pflegerischen und therapeutischen Berufe ist noch selten. Derzeit werden in Deutschland erste Projekte erprobt. Im vorliegenden Artikel werden die Prozesserfahrungen der Organisatoren bei der Implementierung gemeinsamer interprofessioneller Lehrangebote für sechs Studiengänge dargestellt.
Projektbeschreibung: Im Rahmen des Kooperationsprojekts „Interprofessionelles Handeln im Gesundheitswesen“ zwischen der Medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum und dem Department für Angewandte Gesundheitswissenschaften der Hochschule für Gesundheit wurden interprofessionelle Lerneinheiten entwickelt, implementiert und evaluiert mit dem Ziel, langfristige curriculare Ausbildungsstrukturen zwischen den beiden Hochschulen zu etablieren. In vier Lernsequenzen standen die Vermittlung von kommunikativen Kompetenzen, das Wissen und die Wertschätzung gegenüber den Tätigkeitsbereichen der anderen Gesundheitsberufe sowie die Reflexion der eigenen beruflichen Rolle und Verantwortungsbereiche im Vordergrund. Dazu arbeiteten die Studierenden in interprofessionellen Kleingruppen zusammen.
Ergebnisse: Insgesamt haben 220 Studierende der Ergotherapie, der Hebammenkunde, der Logopädie, der Medizin, der Pflege und der Physiotherapie an interprofessionellen Kleingruppenseminaren teilgenommen. Bei der Durchführung und Implementierung der Lehrveranstaltungen zeigten sich insbesondere strukturelle und methodische Herausforderungen, die bei der zukünftigen Entwicklung interprofessioneller Lehrangebote berücksichtigt werden sollten. Hierzu zählen die curriculare Einbettung, gemeinsame Zeiträume in den Stundenplänen und räumliche Ressourcen für Kleingruppenarbeit. Für über 86 Prozent der Studierenden war es wichtig, dass alle Studierenden der sechs Studiengänge am Projekt teilnehmen. Eine detaillierte inhaltliche Analyse und Evaluation wird folgen.
Schlussfolgerung: Das Projektziel der Einbeziehung möglichst vieler Studiengänge der Gesundheitsberufe und der Medizin wird von den teilnehmenden Studierenden bekräftigt. Dies erfordert allerdings nicht zu unterschätzenden organisatorischen Aufwand hinsichtlich der zeitlichen und räumlichen Ressourcen und der curricularen Einbindung. Dabei muss der Verzahnung monoprofessioneller und interprofessioneller Lehrinhalte besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.
Einleitung
Interprofessionelle Ausbildung (Interprofessional Education; IPE) geschieht, wenn zwei oder mehr Professionen von-, mit- und übereinander lernen, um die Zusammenarbeit zwischen den Berufsgruppen und die Versorgungsqualität zu verbessern [http://caipe.org.uk/resources/defining-ipe/], [1]. Gerade vor dem Hintergrund des demographischen Wandels und der Zunahme von komplexen Erkrankungen wird eine verstärkte Kooperation zwischen Gesundheitsfachberufen und der Medizin immer wieder gefordert [1], [2], [3], [4]. Die interprofessionelle Teamarbeit sollte deshalb bereits während der Ausbildung oder des Studiums beginnen [3]. Die Implementierung von interprofessionellen Ausbildungsstrukturen in Ausbildungseinrichtungen, Fachhochschulen und Universitäten ist derzeit noch selten, gewinnt aber zunehmend an Bedeutung [3]. So wird z.B. im Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog Medizin (NKLM) Teamkompetenz in multiprofessionellen Arbeitszusammenhängen als relevanter Ausbildungsinhalt für Medizinstudierende definiert [http://www.nklm.de].
Das Programm „Operation Team – Interprofessionelles Lernen in den Gesundheitsberufen“ der Robert-Bosch-Stiftung setzt hier an und fördert deutschlandweit acht Kooperationsprojekte zwischen Medizinischen Fakultäten und Ausbildungseinrichtungen der Gesundheitsfachberufe bzw. Fachhochschulen [http://www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/44080.asp], darunter das Projekt „Interprofessionelles Handeln im Gesundheitswesen (IPHiGen)“ zwischen der Medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum (RUB) und dem Department für Angewandte Gesundheitswissenschaften der Hochschule für Gesundheit (hsg). Im Rahmen des Artikels werden die Prozesserfahrungen bei der Organisation des Projekts dargestellt. Die Evaluationsergebnisse werden an späterer Stelle veröffentlicht.
Projektbeschreibung
Das Projekt „Interprofessionelles Handeln im Gesundheitswesen (IPHiGen)“ fördert die interprofessionelle Ausbildung zwischen den Studierenden des Modellstudiengangs Medizin an der RUB und den grundständigen Bachelorstudiengängen Pflege, Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie und Hebammenkunde an der hsg. In den Studiengängen an der hsg erlangen die Studierenden zum einen die Berufszulassung über eine staatliche Prüfung in den jeweiligen Fachberufen und zum anderen den akademischen Grad Bachelor of Science. Der Modellstudiengang Medizin an der RUB sowie die fünf Studiengänge an der hsg zeichnen sich durch Problem-, Praxis- und Nutzerorientierung aus.
Das Kooperationsprojekt zwischen RUB und hsg wird seit Ende 2013 für eine Laufzeit von zwei Jahren von der Robert-Bosch-Stiftung gefördert. Nach einer Vorbereitungsphase starteten im Wintersemester 2014/2015 die ersten Lerneinheiten, die im Sommersemester 2015 erfolgreich abgeschlossen wurden. Der Gesamtstundenumfang der Lehrveranstaltungen betrug 32 Stunden, verteilt auf vier Lernsequenzen. Entwickelt wurde es von einer Projektgruppe, die mit Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus allen beteiligten Berufsgruppen besetzt war.
Ziel des Projektes IPHiGen war, interprofessionelle Lehrformate zu entwickeln und zu evaluieren, um gemeinsame Ausbildungsstrukturen zwischen den Bachelorstudiengängen der hsg und dem Medizinstudium der RUB zu schaffen und zu verstetigen.
Die zu erwerbenden Kernkompetenzen wurden im Rahmen einer Handlungsanalyse von der Projektgruppe erarbeitet. Dazu wurden zunächst Handlungsfelder im klinischen Setting (z.B. Notfallversorgung, akutstationäre Versorgung, rehabilitative Versorgung) identifiziert. Diese erwiesen sich jedoch als wenig geeignet für die Erstellung eines interprofessionellen Lehrkonzeptes. Deshalb wurden Lernfelder und Kernkompetenzen herangezogen, die sich mit den internationalen Vorgaben für IPE, wie dem Framework for Action on Interprofessional Education & Collaborative Practice der WHO [1] und die Core Competencies for Interprofessional Collaborative Practice [5] decken. Bei IPHiGen standen der Erwerb von kommunikativen Kompetenzen, das Wissen über die Aufgaben und die Wertschätzung gegenüber den Tätigkeitsbereichen der anderen Gesundheitsberufe, die Teamarbeit, sowie die Reflexion der eigenen beruflichen Rolle und Verantwortungsbereiche im Vordergrund. Die Studierenden arbeiteten überwiegend in Kleingruppen, um einen direkten Austausch zwischen den Berufsgruppen zu ermöglichen. Die interprofessionellen Studierendenteams im IPHiGen-Projekt blieben über zwei Semester bestehen, um eine effektive und vertrauensvolle Kommunikationskultur aufzubauen. Entscheidend in allen Lernsequenzen war die abschließende Reflexion des Erlebten und des Erlernten. Anhand von Reflexionsfragen sollten die Studierenden ihren Wissens- und Erfahrungsgewinn benennen, um das Augenmerk verstärkt auf die erlangten Kompetenzen sowie die Vorteile der interprofessionellen Zusammenarbeit zu richten. Laut WHO [1] und Hammick et al. [6] sind interprofessionelle Lernerfahrungen besonders dann effektiv, wenn Prinzipien der Erwachsenenpädagogik, wie zum Beispiel problembasiertes Lernen angewendet werden, wenn eine Interaktion zwischen den Studierenden stattfindet und wenn die Lernmethoden die Praxiserfahrung reflektieren. Diese pädagogischen Prinzipien wurden bei der Entwicklung der Lerneinheiten berücksichtigt.
Nach einer Einführungsvorlesung zum interprofessionellen Handeln tauschten sich die Studierenden in der ersten Lernsequenz in Kleingruppen zur interprofessionellen Gesundheitsversorgung aus. Sie setzten sich mit ihren jeweiligen beruflichen Idealvorstellungen auseinander, benannten ihre Studienmotivation und stellten sich gegenseitig Aufbau und Inhalte der sechs Studiengänge vor. Im zweiten Schritt erfolgte die Auseinandersetzung mit Stereotypen und Vorurteilen mit dem Ziel, diese durch das Bewusstmachen zu hinterfragen. Interprofessionelles Lernen kann dazu beitragen Stereotype positiv zu beeinflussen [7], [8], [9]. Dabei wurden auch die Aufgaben- und Verantwortungsbereiche der einzelnen Berufsgruppen vorgestellt und diskutiert, da ein klares Verständnis professionstypischer Rollen und Aufgabenbereiche zu den Kernkompetenzen interprofessionellen Handelns gehört [1], [10].
Die zweite Lernsequenz befasste sich mit dem Thema „Patientensicherheit“. Anhand von selbst erlebten Beispielen aus dem Versorgungsalltag identifizierten die Studierenden förderliche Faktoren und Barrieren für eine gelingende interprofessionelle Zusammenarbeit. Dadurch wurde insbesondere versucht, die Erfahrungen aus der praktischen Tätigkeit im interprofessionellen Kontext zu reflektieren [1].
Daneben erlangten die Studierenden Wissen über die rechtlichen Rahmenbedingungen für die eigene Berufsgruppe. In der vorausgegangenen Selbstlernzeit recherchierten sie ihre Berufsordnungen und gesetzlichen Grundlagen zur Ausübung ihrer Tätigkeit und präsentierten ihre Ergebnisse in der Kleingruppe. Dabei identifizierten sie kritische Schnittstellenbereiche in der interprofessionellen Zusammenarbeit, diskutierten berufstypische Handlungslogiken und Arbeitsabläufe und befassten sich mit den Verantwortungsbereichen der einzelnen Berufsgruppen und deren professionellen Grenzen, die die Patientensicherheit gefährden können.
Die „Nutzerorientierung“ stand in der dritten Lernsequenz im Vordergrund, um einen Blick auf eine gut abgestimmte und effektive Versorgung im stationären, rehabilitativen und ambulanten Kontext zu richten. Anhand von zwei Fallbeispielen mit realen Patienten aus dem neurologischen und sozialpädiatrischen Bereich entwickelten die Studierenden zunächst einen uniprofessionellen Behandlungs- bzw. Versorgungsplan. Dieser diente als Diskussionsgrundlage für den Austausch in der interprofessionellen Kleingruppe. Ziel war die Erarbeitung eines gemeinsamen, interprofessionellen Behandlungs- und Versorgungsplans. Hierbei rückten noch einmal die in den vorherigen Lernsequenzen diskutierten professionellen Aufgabenbereiche und Grenzen in den Vordergrund.
Die vierte Lernsequenz befasste sich thematisch mit dem Schwerpunkt „Teamorientierung“. In einer gemeinsamen Plenumsveranstaltung für alle Studierenden diskutierten Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis die vorgestellten Patientenfälle aus der dritten Lernsequenz. Im Anschluss reflektierten die Studierenden die Vorgehensweise der Expertengruppe vor dem Hintergrund ihres selbst entwickelten Behandlungs- und Versorgungsplans. Dabei fokussierten sie insbesondere die Absprachen im Team und das gemeinsame Vorgehen zur Sicherstellung einer interprofessionellen Patientenversorgung. Hierdurch sollte die Verknüpfung zwischen Theorie und Praxis gelingen [1]. Als kreative Projektreflexion entwarfen die Studierenden auf der Basis ihrer eigenen Lernerfahrungen im Projekt eigene idealtypische Lehrkonzepte für eine zukünftige interprofessionelle Ausbildung von Studierenden der hsg und RUB, die angelehnt an das Format der Poetry-Slams in einem abschließenden „IPE-Slam“ vorgestellt und prämiert wurden.
Die interprofessionellen Kleingruppen wurden jeweils von einer Lehrperson über den gesamten Projektzeitraum moderiert, deren Aufgaben zudem die Begleitung der Studierenden im Lernprozess sowie bei der Reflexion der Lernergebnisse waren. Dabei sollten sie nicht die traditionelle Rolle des Dozierenden übernehmen, sondern als Unterstützer der Kommunikationsprozesse tätig werden. Zur gezielten Vor- und Nachbereitung wurden die Moderatorinnen und Moderatoren in Seminaren geschult. Schließlich unterscheidet sich die interprofessionelle Lehre im hohen Maße von seminaristischen Veranstaltungen der einzelnen Professionen [11]. Außerdem nahmen sie an Reflexionsseminaren teil, um ihre eigene professionelle Rolle zu reflektieren, den Umgang mit Schwierigkeiten zwischen den unterschiedlichen Studierendengruppen zu diskutieren und sich über ihre Erfahrungen in der interprofessionellen Lehre auszutauschen [6], [12].
Die Evaluation des Projektes erfolgte anhand von Prozessdaten und Lernergebnissen aus den Kleingruppen, die genutzt wurden, um die Lerneinheiten im Verlauf anzupassen. Zusätzlich wurde quantitative Daten in Form eines Evaluationsbogens sowie The Readiness for Interprofessional Learning scale (RIPLS) [13] erhoben, die den Lernerfolg messen sollten. Die quantitativen Daten werden an späterer Stelle veröffentlicht.
Ergebnisse
Die Projektergebnisse sollen vor dem Hintergrund struktureller und didaktisch-methodischer Fragen dargestellt und diskutiert werden.
Insgesamt waren 220 Studierende der Medizin (n=41), der Pflege (n=38), der Physiotherapie (n=42), der Ergotherapie (n=34), der Logopädie (n=31) und der Hebammenkunde (n=34) in das Projekt involviert (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]). Die Studierenden der Medizin befanden sich bei Projektstart im neunten Fachsemester, die Studierenden der Hochschule für Gesundheit (hsg) im dritten Fachsemester. Die Studierenden haben zu diesem Zeitpunkt zwar unterschiedliche theoretische Vorbildung, die hsg-Studierenden haben aber bereits von Beginn an hohe Praxisanteile im Studium.
Die im Projekt durchgeführte Lehre war in die jeweiligen Studiengänge in Pflichtveranstaltungen curricular eingebunden, jedoch wurden die Anwesenheitspflichten unterschiedlich gehandhabt: Die Medizinstudierenden mussten sich die Anwesenheit von den Lehrenden schriftlich bestätigen lassen, ansonsten mussten Ersatzleitungen erbracht werden. Bei den Studierenden der hsg galten die in den jeweiligen Berufsgesetzen festgelegten Anwesenheitsregelungen.
164 Studierende beantworteten zu Beginn des Projektes einen Fragebogen zu ihren Berufserfahrungen und Erfahrungen in der interprofessionellen Zusammenarbeit. Darunter waren 25 männliche und 135 weibliche Studierende, 4 Studierende machten keine Angaben. Der hohe Anteil weiblicher Studierender ist insbesondere durch die Verteilung in den Studiengängen an der hsg bedingt. Nur 12% der hsg-Teilnehmer sind männlich, bei den Medizinstudierenden sind es 30% (siehe Abbildung 2 [Abb. 2]). In der Gruppe der Medizinstudierenden gibt es zudem einen höheren Anteil von über Dreißigjährigen (31,7% vs. 4,8% der hsg-Studierenden). Zudem verfügen die angehenden Mediziner über mehr berufliche Vorerfahrungen, z.B. durch abgeschlossene Berufsausbildungen (43,9% vs. 21,1%). Fast alle Studierenden (93,9%) gaben an, dass sie bereits Erfahrungen im Bereich der interprofessionellen Zusammenarbeit, gesammelt haben, 43,3% durch die Teilnahme an Projekten, 66,5% durch die Teilnahme an Lehrveranstaltungen, 27,4% durch eine vorhergegangene Berufsausbildung und 74,4% durch Praktika. Mehrfachnennungen waren möglich.
In der abschließenden Projektevaluation waren von den 104 befragten Studierenden 86,5% der Studierenden der Ansicht, dass es wichtig ist, dass alle Studierenden aller sechs Berufsgruppen am Projekt teilnehmen. Teilweise fehlten einzelne Professionen in den Kleingruppen. Gründe für die Nicht-Teilnahme waren zeitliche Überschneidungen durch praktische Studienphasen (n=15) und Urlaubstage (n=19), fehlende Verpflichtung zur Teilnahme (n=5) und fehlende Motivation (n=5). Für 32,7% der Studierenden stellte auch der Standortwechsel zwischen den Hochschulen für die Lehrveranstaltungen ein Problem dar. Die fehlende Anwesenheit wurde von den Studierenden kritisch in den Freitextantworten (n=27) angemerkt, da ein interprofessionelles Projekt nur sinnvoll erscheint, wenn alle an der Versorgung beteiligten Berufsgruppen anwesend sind
Positiv bewertet wurden insbesondere der Austausch und das Kennenlernen untereinander, die gemeinsame Bearbeitung der Patientenfälle und die Diskussionen über die Erfahrungen mit der interprofessionellen Zusammenarbeit in der Praxis. Für zukünftige Projekte wünschen sich die Studierenden vor allem mehr Praxisnähe, zum Beispiel die Zusammenarbeit bei einem Patientenfall, bei dem der Versorgungsprozess noch nicht abgeschlossen und weiterhin viel Handlungsbedarf besteht.
Diskussion
Im Rahmen des Kooperationsprojektes „Interprofessionelles Handeln im Gesundheitswesen (IPHiGen)“ hatten Studierende der Ergotherapie, der Hebammenkunde, der Logopädie, der Medizin, der Pflege und der Physiotherapie die Möglichkeit, sich über berufliche Rollen, Verantwortungsbereiche und rechtliche Rahmenbedingungen auszutauschen, Stereotype und Vorurteile zu reflektieren und für einen Patientenfall gemeinsam Behandlungspläne zu entwickeln und Lösungsmöglichkeiten bei Versorgungsschwierigkeiten zu diskutieren.
Strukturelle Aspekte
Durch die Partizipation von sechs Studiengängen gab es insbesondere hinsichtlich der zeitlichen Koordination Herausforderungen bei der Umsetzung des Projektes. Studiengangsspezifische theoretische und praktische Studienphasen mussten bei der Gesamtplanung berücksichtigt werden. Es ließen sich fünf Zeitfenster in den regulären Veranstaltungsplänen der sechs Studiengänge für die gemeinsamen Lehrveranstaltungen synchronisieren, davon drei im Wintersemester und zwei im Sommersemester. Diese Zeitfenster boten ausreichend Möglichkeiten für den Austausch und das Kennenlernen zwischen den Studierenden. So bestand ausreichend Zeit, miteinander zu diskutieren und gemeinsame Aufgabenstellungen zu erarbeiten. Neben der zeitlichen Koordination war auch die Suche nach geeigneten Räumlichkeiten zur Durchführung der interprofessionellen Seminare in der Vorlesungszeit herausfordernd und erforderte ein hohes Maß an Koordination und Kooperation zwischen den Hochschulen. So konnten nicht alle Lernsequenzen an einem Standort realisiert werden.
Durch zeitliche Überschneidungen und unterschiedliche Anwesenheitsregelungen gab es unterschiedliche Teilnehmerquoten in den einzelnen Seminargruppen. Auch in der Literatur wird deutlich [6], dass insbesondere die strukturellen Rahmenbedingungen die Teilnahme an interprofessionellen Lehrveranstaltungen beeinflussen. Insbesondere die unterschiedlichen Regelungen der Anwesenheitspflichten sowie zeitliche Überschneidungen mit Praxis-, Veranstaltungs- und Urlaubsphasen führten im IPHiGen-Projekt dazu, dass einzelne Berufsgruppen nicht vollständig vertreten sein konnten und so das interprofessionelle Arbeiten nur bedingt möglich war. Kilminster et al. [13] und Carpenter [7] zeigen auf, dass die unterschiedlichen Regelungen der Anwesenheitspflicht nicht unbedingt ein Problem darstellen müssen. Allerdings handelt es sich bei Carpenter [7] um eine eintägige Workshopveranstaltung und nicht, wie im vorliegenden Projekt, um Seminare, die über zwei Semester stattfinden. In einer qualitativen Studie von Altin et al. [14] zur Durchführung von interprofessionellen Fortbildungen wurde deutlich, dass das unterschiedliche Teilnahmeverhalten ein großes Problem bei der Implementierung von interprofessionellen Veranstaltungen ist.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer unterschieden sich deutlich in ihren soziodemographischen Merkmalen und ihrem Vorwissen. Dies beeinflusste die Diskussionsergebnisse, da die Medizinstudierenden aufgrund des fortgeschrittenen Studiums über einen besseren fachlich-theoretischen Hintergrund und aufgrund der beruflichen Vorerfahrungen, z.B. aus der Krankenpflege, über mehr praktisches Hintergrundwissen verfügten. In zukünftigen Projekten sollen das Ausbildungsniveau der verschiedenen Studierendengruppen noch genauer im Hinblick auf die Lernzielstellung und die Formulierung der Arbeitsaufgaben und die Lernziele analysiert werden.
Für die zukünftige Implementierung kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die strukturellen Rahmenbedingungen bei der Planung frühzeitig und sehr intensiv berücksichtigt werden müssen.
Methodische Herausforderungen
Die Lernsequenzen wurden von einer interprofessionellen Projektgruppe entwickelt. Dadurch sollte zum einen die Kommunikation in die Studiengänge sichergestellt werden und zum anderen alle Berufsgruppen in die Planungs- und Entscheidungsprozesse einbezogen werden.
Methodisch kamen unterschiedliche Lehrformate zum Einsatz. Es wurden interaktive Lehrformen erprobt, die einer reflexiven Diskussionskultur zwischen den Berufsgruppen Raum gaben. Einige Studien konnten bereits den Erfolg von interprofessionellen Kleingruppen belegen (z.B. [15], [16], [17]). Durch die Begleitung der einzelnen interprofessionellen Kleingruppen durch geschulte Moderatorinnen und Moderatoren sollte insbesondere die Reflexion der Lernerfahrung sichergestellt werden. Lachmann et al. [18] konnten aufzeigen, dass die kontinuierliche Beantwortung von Reflexionsfragen zu einem verbesserten Verständnis interprofessioneller Teamarbeit beiträgt. Domac et al. [19] sehen die Reflexion gar als den entscheidenden Faktor für den Lernerfolg. Die Reflexionsfragen im IPHiGen-Projekt dienten auch der Prozesskontrolle und beeinflussten die Weiterentwicklung des Projektes maßgeblich.
Einen wichtigen Aspekt bei der Erstellung der Lernsequenzen stellte die Zusammenführung fachwissenschaftlicher, monoprofessioneller Inhalte und der Entwicklung interprofessioneller Kompetenzen dar. Dies sollte insbesondere bei der Bearbeitung des Fallbeispiels dadurch gelingen, dass die Studierenden in abwechselnden mono- und interprofessionellen Lernphasen den Fall sowohl aus ihrer eigenen beruflichen Perspektive betrachtet als auch die Ergebnisse in den interprofessionellen Kleingruppen diskutiert haben. Auch die professionsspezifische Sprache als mögliche Einschränkung der interprofessionellen Zusammenarbeit (siehe z.B. [20], [10]), wurde in den Lernsequenzen bewusst. Einige Berufsgruppen nennen die betroffene Person „Patient oder Patientin“, andere „Klient oder Klientin“, wieder andere „Pflegebedürftiger oder Pflegebedürftige“ oder verwenden gar keine dieser Bezeichnungen. Hier mussten von allen akzeptierte Begriffe gefunden werden. Unterschiedliche Aufgabengebiete erfordern unterschiedliche Herangehensweisen an professionelle Tätigkeiten. Gelöst wurde dieses Problem über die Diskussion zweier sehr unterschiedlich gelagerter realer Fälle.
Schlussfolgerung
Die Herausforderungen für die interprofessionelle Lehre lassen sich auf zwei Ebenen ansiedeln. Zum einen erfordert sie geeignete strukturelle Rahmenbedingungen, wie Regelungen zu Anwesenheitspflichten, zeitgleiche Bereitstellung zeitlicher und räumlicher Ressourcen. Zum anderen sollten monoprofessionelle und interprofessionelle Lehrinhalte und -methoden so miteinander verzahnt und aufeinander abgestimmt werden, dass Interprofessionalität zu einem selbstverständlichen Bestandteil der beruflichen Ausbildung wird.
Förderung
Das Projekt wurde duch die Robert Bosch Stiftung unter dem Förderkennzeichen 32.5.1316.0009.0 unterstützt.
Danksagung
Wir danken darüber hinaus allen beteiligten Patienten und Experten, den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und den Studierenden für die aktive Teilnahme.
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.
Literatur
- 1.
- World Health Organization. Framework for Action on Interprofessional Education & Collaborative Practice. Geneve: WHO; 2010.
- 2.
- Wissenschaftsrat. Empfehlungen zu hochschulischen Qualifikationen für das Gesundheitswesen. Berlin: Wissenschaftsrat; 2012.
- 3.
- Walkenhorst U, Mahler C, Aistleithner R, Hahn E, Kaap-Fröhlich S, Karstens S, Reiber K, Stock-Schröer B, SDottas B. Positionspapier GMA-Ausschuss - "Interprofessionelle Ausbildung in den Gesundheitsberufen". GMS Z Med Ausbild. 2015;32(2):Doc22. DOI: 10.3205/zma000964
- 4.
- Robert-Bosch-Stiftung. Ausbildung für die Gesundheitsversorgung von morgen. Stuttgart: Schattauer; 2011.
- 5.
- Interprofessional Education Collaborative Expert Panel. Core competencies for interprofessional collaborative practice: Report of an expert panel. Washington, D.C.: Interprofessional Education Collaborative; 2011.
- 6.
- Hammick M, Freeth D, Koppel I, Reeves S, Barr H. A best evidence systematic review of interprofessional education: BEME Guide no. 9. Med Teach. 2007;29(8):735-751. DOI: 10.1080/01421590701682576
- 7.
- Carpenter J. Interprofessional education for medical and nursing students: evaluation of a programme. Med Educ. 1995;29(4):265-272. DOI: 10.1111/j.1365-2923.1995.tb02847.x
- 8.
- Hind M, Norman I, Cooper S, Gill E, Hilton R, Judd P, Jones SC. Interprofessional perceptions of health care students. J Interprof Care. 2003;17(1):21-34. DOI: 10.1080/1356182021000044120
- 9.
- Lewitt MS, Ehrenborg E, Scheja M, Brauner A. Stereotyping at the undergraduate level revealed during interprofessional learning between future doctors and biomedical scientists. J Interprof Care. 2010;24(1):53-62. DOI: 10.3109/13561820902921704
- 10.
- Suter E, Arndt J, Arthur N, Parbossingh J, Taylor E, Deutschlander S. Role understanding and effective communication as core competencies for collaborative practice. J Interprof Care. 2009;23(1):41-51. DOI: 10.1080/13561820802338579
- 11.
- Reeves S, Freeth D. The London training ward: an innovative interprofessional learning initiative. J Interprof Care. 2002;16(1):41-52. DOI: 10.1080/13561820220104159
- 12.
- Mahler C, Rochon J, Karstens S, Szecsenyi J, Hermann K. Internal consistency of the readiness for interprofessional learning scale in German health care students and professionals. BMC Med Educ. 2014;14:145.
- 13.
- Kilminster S, Hale C, Lascelles M, Morris P, Roberts T, Stark P, Sowter J, Thistlethwaite J. Learning for real life: patient-focused interprofessional workshops offer added value. Med Educ. 2004;38(7):717-726. DOI: 10.1046/j.1365-2923.2004.01769.x
- 14.
- Altin SV, Tebest R, Kautz-Freimuth S, Redaelli M, Stock S. Barriers in the implementation of interprofessional continuing education programs--a qualitative study from Germany. BMC Med Educ. 2014;14: 227.
- 15.
- Ruebling I, Pole D, Breitbach AP, Frager A, Kettenbach G, Westhus N, Kienstra K, Carlson J. A comparison of student attitudes and perceptions before and after an introductory interprofessional education experience. J Interprof Care. 2014;28(1):23-27. DOI: 10.3109/13561820.2013.829421
- 16.
- Darlow B, Coleman K, McKinlay E, Donovan S, Beckingsale L, Gray B, Neser H, Perry M, Stanley J, Pullon S. The positive impact of interprofessional education: a controlled trial to evaluate a programme for health professional students. BMC Med Educ. 2015;15:98.
- 17.
- Meffe F, Moravac C, Espin S. An interprofessional education pilot program in maternity care: findings from an exploratory case study of undergraduate students. J Interprof Care. 2012;26(3):183-188. DOI: 10.3109/13561820.2011.645089
- 18.
- Lachmann H, Fossum B, Johansson UB, Karlgren K, Ponzer S. Promoting reflection by using contextual activity sampling: a study on students' interprofessional learning. J Interprof Care. 2014;28(5):400-406. DOI: 10.3109/13561820.2014.907777
- 19.
- Domac S, Anderson L, O'Reilly M, Smith R. Assessing interprofessional competence using a prospective reflective portfolio. J Interprof Care. 2015;29(3):179-187. DOI: 10.3109/13561820.2014.983593
- 20.
- Hall P. Interprofessional teamwork: professional cultures as barriers. J Interprof Care. 2005;19 Suppl 1:188-196. DOI: 10.1080/13561820500081745