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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Studentische Eindrücke zu einem interprofessionellen Visitentraining – Eine qualitative Pilotstudie

Artikel Interprofessionelle Ausbildung

  • corresponding author C. Nikendei - Universitätsklinikum Heidelberg, Abteilung für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik, Heidelberg, Deutschland
  • D. Huhn - Universitätsklinikum Heidelberg, Abteilung für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik, Heidelberg, Deutschland
  • G. Pittius - Louise von Marillac-Schule, Bildungseinrichtung für Gesundheitsberufe, Heidelberg, Deutschland
  • Y. Trost - IB-Gesellschaft für interdisziplinäre Studien mbH (IB-GIS), Schule für Physiotherapie, Mannheim, Deutschland
  • T. J. Bugaj - Universitätsklinikum Heidelberg, Abteilung für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik, Heidelberg, Deutschland
  • A. Koechel - Universitätsklinikum Heidelberg, Abteilung für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik, Heidelberg, Deutschland
  • J.-H. Schultz - Universitätsklinikum Heidelberg, Abteilung für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik, Heidelberg, Deutschland

GMS J Med Educ 2016;33(2):Doc14

doi: 10.3205/zma001013, urn:nbn:de:0183-zma0010138

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2016-33/zma001013.shtml

Eingereicht: 14. August 2015
Überarbeitet: 20. Dezember 2015
Angenommen: 27. Januar 2016
Veröffentlicht: 29. April 2016

© 2016 Nikendei et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Einleitung: Visiten stellen eine relevante und zentrale Tätigkeit interprofessioneller Teams im Klinikalltag dar und repräsentieren dabei eine komplexe Aufgabe, welche nicht nur medizinische Kenntnisse erfordert, sondern auch kommunikative und klinisch-technische Fertigkeiten sowie patientenmanagement- und teambezogene Kompetenzen. Die vorliegende Studie hatte zum Ziel, die Gesichtspunkte von Medizinstudierenden, Krankenpflegeschülern und Physiotherapieschülern hinsichtlich eines simulationsbasierten interprofessionellen Visitentrainings zu analysieren.

Methoden: In zwei aufeinander folgenden Durchgängen nahmen insgesamt 29 Medizinstudierende, Krankenpflege- und Physiotherapieschüler (16 im ersten Durchgang, 13 im zweiten) an zwei Visitenszenarien mit standardisierten Patienten teil: (1) Patient mit Myokardinfarkt und (2) Patient mit schlecht eingestelltem Diabetes. Die Evaluation des interprofessionellen Visitentrainings erfolgte mit Hilfe von Fokusgruppeninterviews.

Ergebnisse: Die Resultate der Fokusgruppen ließen sich in die beiden Hauptkategorien (A) Nutzen des Visitentrainings sowie (B) Schwierigkeiten mit dem Visitentraining differenzieren. Als positive Gesichtspunkte wurden dabei die erfolgte klinische Vorbereitung durch das Training, das Setting, in dem es stattfand, das Engagement der Teilnehmer sowie die positive Lernatmosphäre benannt. Schwierigkeiten wurden im mangelnden Realitätsbezug des Trainings bzgl. interprofessioneller Aspekte sowie im unterschiedlichen Nutzen des Trainings für die einzelnen Berufsgruppen gesehen.

Fazit: Das beschriebene interprofessionelle Visitentraining wurde von den Teilnehmern gut angenommen und kann als wertvolles Modell für interprofessionelles Lernen dienen. Zukünftige Forschung sollte die Effektivität, die Prozesse des interprofessionellen Zusammenspiels sowie den Transfer in die klinische Praxis fokussieren.

Schlüsselwörter: Medizinische Ausbildung, Interprofessionelles Visitentraining, Medizinstudierende, Krankenpflegeschüler, Physiotherapieschüler, Standardisierte Patienten


Einleitung

Visiten stellen im Rahmen ihrer klinischen Krankenhaustätigkeit eine zentrale Aufgabe dar [21]. Das Leiten von Visiten ist dabei als eine komplexe Aufgabe zu verstehen, welche nicht nur medizinisches Fachwissen erfordert, sondern auch kommunikative und klinisch-technische Fertigkeiten sowie patientenmanagement- und teambezogene Kompetenzen verlangt. Wray und Kollegen [32] untersuchten Charakteristika von Visiten, indem sie aus erfahrenen Mitarbeitern bestehende Stationsteams beobachteten. Dabei stellten sie fest, dass die durchschnittliche Zeit, die im Rahmen einer Visite für einen einzelnen Patienten aufgewendet wird, 4,6 Minuten beträgt. Diese kurze Zeitspanne setzt ein hoch effektives Arbeiten des beteiligten Teams voraus. Für werdende Ärzte konnten jedoch erhebliche Defizite im Leiten von Visiten festgestellt werden, wobei sich diese Defizite vorrangig auf die inkorrekte Interpretation von Informationen aus der Patientenkurve, auf unzulängliche Verordnungen sowie eine unzureichende Dokumentation bezogen [20]. Weitere Untersuchungen zeigten, dass das vorhandene Fachwissen der bei der Visite beteiligten Krankenpfleger in diesen unterrepräsentiert ist, und diese weit weniger medizinische Informationen zur Visite beisteuern als Ärzte [30]. Eine Studie von Montague und Hussain [17] konnte zudem aufzeigen, dass ein Drittel der Patienten der Meinung ist, dass während der Visiten eine Sprache verwendet wird, welche nur schwer zu verstehen ist, ein Umstand, der auf eine unzulängliche Kommunikation schließen lässt.

Die Rolle interprofessioneller Kommunikation und Zusammenarbeit im Gesundheitswesen wird zunehmend wichtiger [1], [33]. Interprofessionelle Zusammenarbeit lässt sich als integrative Kooperation von Zugehörigen verschiedener Gesundheitsberufe definieren, wobei sich verschiedene komplementäre Kompetenzen und Fertigkeiten ergänzen, was im Idealfall die bestmögliche Nutzung vorhandener Ressourcen ermöglicht [25]. Große nationale Organisationen wie beispielsweise die Interprofessional Education Collaborative in den USA [11] oder die Canadian Interprofessional Health Collaborative [3] forderten jüngst größere interprofessionelle Kompetenzen für Beschäftigte im Gesundheitswesen in Bezug auf Teamarbeit sowie interprofessionelle Kommunikation. Aktuelle Diskussionen [33] weisen darauf hin, dass bereits Studierende bzw. Auszubildende in Gesundheitsberufen interprofessionelle Kompetenzen notwendigerweise für ihre zukünftige klinische Praxis benötigen und erwerben müssen. Insbesondere im anglo-amerikanischen Raum konnte interprofessionelles Lernen bereits fest in Curricula integriert werden [27]. Bislang findet interprofessionelles Lernen größtenteils mithilfe von Kleingruppenarbeit, Fallanalysen oder simulationsbasierter Methoden statt [28], [23], [18], Ansätze wie interprofessionelle Visitentrainings jedoch sind nach wie vor rar.

Vor kurzem wurde ein innovatives Modell für ein Visitentraining mit standardisierten Patienten (SP) im Praktischen Jahr des Medizinstudiums eingeführt [19]. Dabei schlüpften die Studierenden entweder in die Rolle des Arztes, des Krankenpflegers oder des Studierenden im letzten Jahr mit rollenspezifischen Instruktionen und gaben sich nach den Trainingseinheiten gegenseitig Feedback. Ein erster Ansatz, der nicht nur Medizinstudierende einschloss, sondern auch Krankenpfleger, wurde von Pederson und Mitarbeitern [22] vorgestellt. Hierbei nehmen Medizinstudierende und Krankenpfleger in Ausbildung an Visitentrainings mit einem Fokus auf das Entlassmanagement teil.

Im vorliegenden Projektbericht war es unser Ziel, die Perspektiven von Medizinstudierenden, Krankenpflege- und Physiotherapieschülern hinsichtlich eines interprofessionellen Visitentrainings zu analysieren. Das Training umfasste ein kontextbasiertes Visitenszenario, welches einen interprofessionellen Austausch bezüglich berufsspezifischer Behandlungsziele sowie gemeinsamer Behandlungsplanung zum Ziel hatte. Davon ausgehend wurde ein interprofessionelles Visitentraining mit standardisierten Patienten mit zwei verschiedenen Szenarien auf Basis des Modells von Nikendei und Kollegen [19] konzipiert. Die klinischen Szenarien waren dabei die folgenden: Visite mit

1.
einem Patienten mit Myokardinfarkt und
2.
einem Patienten mit schlecht eingestelltem Diabetes.

Die Teilnehmer nahmen im Anschluss an das Training an Fokusgruppeninterviews teil. Das Ziel dieser Fokusgruppen war es, die Einschätzungen und Erfahrungen der Teilnehmer während des interprofessionellen Visitentrainings zu erfahren.


Methoden

Sample

In zwei aufeinander folgenden Durchgängen nahmen insgesamt 29 Studierende und Schüler (16 im ersten Durchgang, 13 im zweiten) freiwillig an der Studie teil. Von diesen waren 13 (45%) Medizinstudierende im Praktischen Jahr am Universitätsklinikum Heidelberg (8 weiblich, 5 männlich) mit einem Durchschnittsalter von 26,7 Jahren, 9 (31%) Krankenpflegeschüler im letzten Ausbildungsjahr an der Louise von Marillac-Schule für Gesundheitsberufe, Heidelberg (7 weiblich, 2 männlich) mit einem Durchschnittsalter von 21,9 Jahren und 7 (24%) Physiotherapieschüler an der IB-GIS mbh, Schule für Physiotherapie, Mannheim (4 weiblich, 3 männlich) mit einem Durchschnittsalter von 23,6 Jahren.

Studiendesign

Das aus zwei Szenarien bestehende Visitentraining war in ein Mini-Curriculum von vier interprofessionellen Lerneinheiten zu je 240 Minuten eingebettet: soziales Zusammenkommen + PBL-Fallanalyse, Basic Life Support Training, interprofessionelles Visitentraining, Kommunikationstraining mit standardisierten Patienten. Alle Einheiten wurden von einem interprofessionellen Team bestehend aus Ärzten (CN, JS und AK), Krankenpflegern (GP), Physiotherapeuten (YT) und wissenschaftlichen Mitarbeitern (DH) konzipiert. Lernziele wurden in Übereinstimmung mit dem Basler Consensus Statement „Kommunikative und soziale Kompetenzen im Medizinstudium“ [13] diskutiert.

Das Visitentraining fand folgendermaßen statt: Gruppen bestehend aus je drei Studierenden bzw. Schülern nahmen an zwei verschiedenen Visiten-Szenarien mit standardisierten Patienten [2] teil:

1.
der 50-jährige, korpulente Herr Behrens mit Stent-Implantation nach Myokardinfarkt,
2.
die 45-jährige Frau Vogel mit Compliance-Problemen bezüglich ihres Diabetes, hohem Blutdruck und bestehendem Ulcus cruris.

Ihrem eigenen Berufstand entsprechend schlüpften die drei Studierenden bzw. Schüler in die Rollen von Arzt, Krankenpfleger und Physiotherapeut und erhielten daraufhin rollenspezifische Instruktionen. Die ärztliche Rolle bestand darin, sich einen Überblick über den vorliegenden Patientenfall, verwandte Patientenakten sowie die Medikationskurve des Patienten zu verschaffen. Von den Ärzten wurde außerdem verlangt, im Vorfeld Ziele des Visitengesprächs zu definieren, das Gespräch dann selbst zu führen und im Anschluss daran die Therapie des Patienten neu einzuschätzen. Diese Neueinschätzung beinhaltete Eintragungen der Medikationskurve, das Verfassen von Anweisungen für das Pflegepersonal sowie das schriftliche Notieren der geplanten Maßnahmen. Die Aufgabe der Krankenpfleger bestand darin, Fragen bzgl. Mobilisierung und Aktivierung der Patienten in die Visite einzubringen und außerdem deren Entlassung zu thematisieren. Aufgrund ihres wesentlich persönlicheren Verhältnisses zu den Patienten fungierten sie zudem als wichtiges Bindeglied zwischen Forderungen und Wünschen der Patienten und den ärztlichen Entscheidungen. Die Physiotherapeuten waren angehalten, die körperliche Mobilität der Patienten und physiotherapeutische Behandlungsaspekte in die Visite einzubringen. So schlugen sie gezielte Maßnahmen wie Ergometer-Training oder Laufeinheiten vor. Nach den Visiten folgte eine abschließende Feedback-Runde, an der neben den Teilnehmern auch Dozenten aller vertretenen Berufsgruppen aktiv beteiligt waren.

Fokusgruppen-Interviews

Mit Hilfe eines qualitativen Forschungsansatzes lässt sich manchmal nicht nur klären, was Studierende denken, sondern auch warum sie so denken [15]. Fokusgruppen-Diskussionen in Gruppen unter "Peers" bieten einen sicheren Rahmen, innerhalb dessen sich das Machtgefälle zwischen Forscher und Teilnehmern nivelliert. Gruppendiskussionen ermöglichen die tiefergehende Analyse der Wahrnehmungen bzgl. eines Themas und können diese gar weiterentwickeln oder verändern. Daher erscheinen Fokusgruppen-Interviews geeignet für den vorliegenden Forschungsschwerpunkt.

Ein erfahrener Moderator ermutigte alle Teilnehmer, sich in die Diskussion einzubringen und gewährleistete, dass auch unterschiedliche Meinungen zum Ausdruck gebracht werden konnten. Die Studierenden wurden gebeten, ihre Gedanken zu einer entsprechenden Frage zunächst zu notieren, bevor diese in der Gruppe diskutiert wurden. Auf jede Visite folgte eine Fokusgruppe, was in der Summe vier Interviews macht, jedes von diesen etwa 20 Minuten lang. Alle Interviews wurden von einem der Autoren (DH) moderiert. Um Konsistenz zwischen den einzelnen Gruppen zu gewährleisten, kam ein Interviewleitfaden zur Anwendung [15] (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]). Der assistierende Moderator (TB) machte sich während der Gruppendiskussion Notizen und filmte zudem die ganze Session. Die Video-Aufzeichnungen wurden wortwörtlich transkribiert und diese Zusammenfassungen zur Ansicht und Billigung an die Studierenden geschickt.

Qualitative Inhaltsanalyse

Die transkribierten Diskussionen wurden inhaltsanalytisch mithilfe der Software MaxQDA (version 11, VERBI GmbH, Berlin) analysiert. Den Leitlinien der qualitativen induktiven Inhaltsanalyse [16] folgend wurden thematische Kategorien nicht im Vorfeld definiert, sondern erst aus dem Inhalt heraus entwickelt. Daher wurde zunächst ein offenes Codieren aller Diskussionen vorgenommen, um nach wiederkehrenden Themen zu suchen. Einzelne oder auch mehrere Sätze wurden dann als Codes identifiziert, als stellvertretende elementarste Bedeutungseinheit [26]. Daraufhin wurden diese Codes für jeden einzelnen Teilnehmer zu relevanten Themen zusammengefasst. Zwischen den Teilnehmern wiederkehrende Themen wurden dann miteinander verglichen und adaptiert, bis relevante Themen für alle Teilnehmer definiert werden konnten. Die Zuordnung der Codes zu entsprechenden Themen wurde von zwei Autoren (CN und JS) unabhängig voneinander vorgenommen, daraufhin diskutiert, um einen Konsens zu erzielen und verändert, sofern das notwendig war. Im letzten Schritt wurden die entwickelten Themen zwei relevanten Kategorien zugeordnet.


Ergebnisse

Aus qualitativer Analyse gewonnene Hauptkategorien und Themen

Die qualitative Analyse der Transkripte erbrachte 45 relevante Einzelaussagen der Studierenden. Von diesen Aussagen wurden neun Themen sowie zwei Hauptkategorien abgeleitet. Die Hauptkategorien umfassten (A) Nutzen des Visitentrainings und (B) Schwierigkeiten mit dem Visitentraining. Diese Hauptkategorien bestanden je aus vier Themen (A.1 bis A.4).

Definition der Kategorien

Im Folgenden geben wir Definitionen für die Hauptkategorien.

(A) Nutzen des Visitentrainings

Diese Kategorie umfasst verschiedene positive und nützliche Erfahrungen der Teilnehmer in Bezug auf das Visitentraining. Die Kategorie besteht aus insgesamt vier relevanten Themen. Das Thema (A.1) „Besseres Verständnis der Gesamtsituation, der einzelnen Aufgaben sowie der gemeinsamen Zielsetzung” besteht aus der nachhaltigen Erfahrung anderer Berufsgruppen sowie derer Aufgabengebiete, einem besseren Verständnis der Aufgabenverteilung unter den verschiedenen Berufsgruppen und der Erfahrung, dass sich die gegenseitige Unterstützung der Berufsgruppen untereinander als nützlich für die Gesamtbehandlung der Patienten erweisen kann. (A.2) „Üben der Visitensituation” beschreibt den Nutzen, der aus dem besseren Verständnis des genauen Visitenablaufs sowie der eigenen Rolle bzw. des eigenen Verhaltens entsteht. Das Thema (A.3) „Alle Berufsgruppen können sich einbringen” beschreibt positive Gefühle der Studierenden in Bezug auf interprofessionelle Maßnahmen und Sorgfalt, welche dadurch entstehen, dass alle Berufsgruppen gleichermaßen am Visitenprozess beteiligt sind. Die Tatsache, dass das Visitentraining in Alltagskleidung und die Nachbesprechungen ohne Druck durchgeführt wurden, trug zum entspannten und informellen Charakter des Trainings bei, zusammengefasst unter dem Thema (A.4) „entspannte Lernatmosphäre”. Weitere Details entnehmen Sie bitte Tabelle 2 [Tab. 2].

(B) Schwierigkeiten mit dem Visitentraining

Die zweite Kategorie hebt kritische Aspekte der Studierenden in Bezug auf das Visitentraining hervor. Dabei entwickelten sich vier relevante Themen. Das Thema (B.1) „Visitentraining vs. Realität“ befasst sich mit dem unrealistischen Charakter des Trainings, da gewöhnliche Alltagsstressoren weggelassen wurden und außerdem alle Berufsgruppen anwesend waren, was in normalen Visiten in aller Regel nicht der Fall sei. (B.2) „Visite insgesamt als falscher Ansatzpunkt für interprofessionelles Agieren” beschreibt die Erfahrung der Studierenden, dass Visiten im Allgemeinen nicht die beste Gelegenheit für interprofessionelles Lernen darstellten; die Situation unmittelbar im Anschluss an die Visite sei eher von Interesse. Das Thema (B.3) „Zeiteinteilung insgesamt ungünstig” fasst Aussagen zusammen, welche zum Ausdruck bringen, dass die Vorbereitung der Visiten zu viel Zeit in Anspruch genommen habe, während die Zeit am Krankenbett dann vernachlässigt worden wäre. Das Thema (B.4) „Training nicht für alle Berufsgruppen gleichermaßen gewinnbringend” enthält abschließend die Kritik, dass nicht alle Berufsgruppen zu gleichen Teilen vom Training hätten profitieren können; so hätten Krankenpfleger und Physiotherapeuten nicht den gleichen Nutzen daraus ziehen können wie die Ärzte. Weitere Informationen finden Sie in Tabelle 3 [Tab. 3].

Gemeinsamkeiten der Berufsgruppen

Die drei Berufsgruppen waren sich größtenteils darüber einig, dass sie durch das Training überaus viel voneinander lernen konnten und dass sich dies durchaus positiv für Patienten auswirken könnte. Ihnen gefiel die Atmosphäre des Trainings und sie erlebten sich als Teil einer wertvollen interprofessionellen Lerngelegenheit. Sie waren sich jedoch auch einig in ihrer Kritik, dass das Training zu artifiziell und realitätsfern sei.

Unterschiede zwischen den Berufsgruppen

Die Gruppen unterschieden sich in erster Linie hinsichtlich der Frage, wie nützlich ein solches Visitentraining für sie sei: Während Medizinstudierende das Szenario begrüßten, da sie nie zuvor Visitentrainings geübt hatten, waren Krankenpflegeschüler mit dem Format schon recht vertraut; Physiotherapieschüler wiederum gaben an, in der Realität ohnehin niemals bei Visiten mitzugehen. Krankenpflege- und Physiotherapieschüler beschwerten sich zudem über den medizinischen Fokus des Trainings, innerhalb dessen die Medizinstudierenden die Mehrheit an Aufgaben ausführten.


Diskussion

Unsere Studie beschreibt ein interprofessionelles Visitentraining für Medizinstudierende, Krankenpflege- und Physiotherapieschüler sowie dessen Evaluation mithilfe von Fokusgruppen. Die qualitative Analyse der Fokusgruppeninterviews ergab, dass das Training von den Teilnehmern gut aufgenommen wurde und somit als wertvolle Quelle interprofessionellen Lernens dienen kann. Studierende kritisierten den Realitätsgrad der Visitensimulation, das Zeitmanagement sowie die Tatsache, dass nicht alle Berufsgruppen zu gleichen Teilen vom Training profitieren konnten.

Das Training wurde als wertvolles Mittel wahrgenommen, um von der Sichtweise anderer Berufsgruppen sowie deren Verantwortlichkeiten zu lernen und um außerdem etwas über die Verteilung von Aufgaben sowie über diagnostische und therapeutische Prozesse zu erfahren. Der Patient wurde dabei als gemeinsames und verbindendes Element erlebt, was zu einem starken Gefühl von Gruppenkohärenz führte. Obwohl kritisiert wurde, dass nicht alle drei beteiligten Berufsgruppen zu gleichen Teilen am Visitenprozess beteiligt waren und davon ausgehend Vorschläge für andere Szenarien interprofessionellen Arbeitens gemacht wurden, stellt unser Visitentraining doch eine wertvolle Möglichkeit dar, Studierende in Ablauf und Vorgehensweise von Visiten sowie das erforderliche interprofessionelle Teamwork einzuführen. Dies scheint sehr wichtig zu sein, da insbesondere Visiten nach wie vor durch suboptimale Supervision und unzureichende spezifische Anleitung gekennzeichnet sind [8].

Aus einem methodischen Blickwinkel betrachtet nahmen die Teilnehmer das Visitentraining als eher künstlich und idealisiert wahr. Außerdem wurde das Zeitmanagement kritisiert und die Teilnehmer empfanden die fehlende Möglichkeit, alle drei Berufsgruppen gleichermaßen in das Rollenspiel einzubinden, als ungünstig. Obwohl standardisierte Patienten normalerweise als sehr realitätsnah wahrgenommen werden [7], wurde die Trainingssituation nicht als realistisch genug erlebt. Die Realitätsnähe von Simulationen betreffend ist nach wie vor allerdings umstritten, ob realistischere Simulationen auch tatsächlich effektiver sind [12], [6].

Die Teilnehmer kritisierten, dass der Trainingsprofit nicht für alle Berufsgruppen gleich gewinnbringend sei. Um einen solch gleichen Profit für alle Berufsgruppen zu gewährleisten, muss die Relevanz zukünftiger professioneller Praxis einer jeden Disziplin in sämtlichen Lerneinheiten erkennbar werden [31]. Dies erscheint in neuen, gemeinsamen Kurskonzeptionen leichter realisierbar, als in mono-professionell designten Trainingseinheiten, wie beim vorliegenden Projekt. Dies ist von großer Bedeutung, da Visiten als zentrale Schnittstellen interprofessionellen Arbeitens im Krankenhaus gelten [14]. „Visiten-basierte, interprofessionelle Kliniksettings ermöglichen es Studierenden, realistische Erfahrungen beim ‚Hineinschlüpfen‘ in eine professionelle Rolle zu sammeln: ‚Unabhängigkeit und Autonomie erfahren‘, ‚deutlich erkennen, was die eigene Profession alles umfasst‘, ‚veränderte Vorstellung anderer Professionen‘, ‚Möglichkeiten, miteinander zu kommunizieren und zu arbeiten‘ sowie ‚ein funktionierendes Team zu werden‘“ [9]. Um tatsächlich ein interprofessionelles und kein multiprofessionelles Training zu konzipieren, bedarf es eines gut geführten, realistischen Szenarios, an dem alle angesprochenen Gruppen beteiligt sind. Außerdem sollten interprofessionelle Kernaspekte vor und nach dem Visitentraining benannt, diskutiert und gemeinsam von den Vertretern der jeweiligen Berufsgruppen reflektiert werden.

Nichtsdestoweniger sind wir davon überzeugt, dass die präsentierten Interventionen einen wichtigen Schritt hinsichtlich einer besseren Vorbereitung der Studierenden auf die visitenbasierte klinische Praxis darstellen, was wiederum eine verstärkte Patientensicherheit gewährleisten kann. Weiterführende Forschung sollte die Fertigkeiten interprofessioneller Teams in realen Visitensituationen untersuchen. Da das hier untersuchte interprofessionelle Visitentraining das erste seiner Art an unserer Fakultät darstellt, muss die Kritik am unzureichenden Zeitmanagement und der Gewichtung der Rollenverteilung zunächst so hingenommen werden, um diese dann in zukünftigen Durchführungen des Trainings abzuändern. Insbesondere Krankenpflege- und Physiotherapieschüler sollten in zukünftigen Szenarien mehr einbezogen werden.


Limitationen

Unsere Studie betreffend sind einige Limitationen zu benennen. So war die Anzahl an Teilnehmern begrenzt, zudem fehlt ein objektives Maß zur Bestimmung des Trainingserfolgs. Außerdem erbrachte die qualitative Inhaltsanalyse nur zwei Hauptkategorien, Nutzen und Schwierigkeiten des Visitentrainings, welche sich zudem beide aus dem Interviewleitfaden ableiten lassen. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Tatsache, dass aufgrund weniger Daten lediglich Gesamtergebnisse aufgezeigt werden konnten; die beiden Unterpunkte, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der einzelnen Berufsgruppen sind nur von beispielhafter Natur. Die vorliegende Studie bezieht sich zudem auf die medizinische Ausbildung. Weitere Forschung ist von Nöten, um abzuschätzen, ob sich gewonnene Erkenntnisse auch auf postgraduale Visitentrainings übertragen lassen. Die Verwendung ausführlicher Fokusgruppeninterviews ermöglichte es uns, ein umfassendes Bild dieser vielschichtigen Thematik aufzuzeigen und führte zu einigen neuen Gesichtspunkten bzgl. interprofessionellen Trainings.


Fazit

Unser interprofessionelles Visitentraining wird von den Teilnehmern gut aufgenommen und stellt ein wertvolles Modell interprofessionellen Lernens dar. Zukünftige Forschung sollte die Effektivität, die Prozesse interprofessionellen Zusammenspiels sowie den Transfer in die klinische Praxis fokussieren.


Förderung

Diese Studie wurde gefördert vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg, Projekt: “Gemeinsam geht es alles besser –Studie zur Verbesserung des Interprofessionellen Patientenmanagements”; Projekt Identifikationsnummer: D 100011720; AZ32-402.17(05)/34.


Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


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