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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Ärztlich assistierter Suizid, Tötung auf Verlangen und palliative Sedierung: Einstellungen und Wissensstand von Medizinstudierenden

Artikel Sterbehilfe

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  • corresponding author Johanna Anneser - TU München, Klinikum rechts der Isar, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Palliativmedizinischer Dienst, München, Deutschland
  • author Ralf J. Jox - LMU München, Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, München, Deutschland
  • author Tamara Thurn - TU München, Klinikum rechts der Isar, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Palliativmedizinischer Dienst, München, Deutschland
  • author Gian Domenico Borasio - Universität Lausanne, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois (CHUV), Service de Soins Palliatifs, Lausanne, Schweiz

GMS J Med Educ 2016;33(1):Doc11

doi: 10.3205/zma001010, urn:nbn:de:0183-zma0010103

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2016-33/zma001010.shtml

Eingereicht: 19. August 2015
Überarbeitet: 30. November 2015
Angenommen: 1. Dezember 2015
Veröffentlicht: 15. Februar 2016

© 2016 Anneser et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Zielsetzung: Im November 2015 wurde im deutschen Bundestag über eine gesetzliche Neuregelung der „Sterbehilfe“ abgestimmt. Dies betraf insbesondere die rechtliche Bewertung des ärztlich assistierten Suizids. Es wurde eine Änderung des Strafgesetzbuches beschlossen, das die „geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“ nun unter Strafe stellt. Bereits am 2.7.2015, dem Tag der von größerem medialem Interesse begleiteten ersten Lesung entsprechender Gesetzesentwürfe im Bundestag, befragten wir Medizinstudierende des 7. und 8. Semesters der TU München zu den Themen „ärztlich assistierter Suizid (ÄAS)“, „Tötung auf Verlangen (TAV)“ und „palliative Sedierung (PS)“ auf der Basis einer fiktiven Fallvignette.

Methodik: Die Fallvignette schilderte den Fall eines an einem Nasopharynxkarzinom erkrankten Patienten in zwei Varianten (subjektiv unerträgliches physisches vs. seelisches Leiden). Gefragt wurde nach der für die jeweiligen Handlungsoptionen aktuell geltenden Rechtslage sowie nach der Einstellung der Studierenden zur ethischen Vertretbarkeit dieser Maßnahmen.

Ergebnisse: 241 von 301 Studierenden (80%) beantworteten den Fragebogen, davon 109 in der Variante 1 (körperliches Leiden) und 132 in der Variante 2 (seelisches Leiden). Die geltende Rechtslage zur PS (erlaubt) und zur TAV (verboten) wurde von der Mehrzahl der Studierenden richtig eingeschätzt (81,2% bzw. 93,7%), während nur eine Minderheit der Studierenden (18,8%) wusste, dass der ÄAS zum damaligen Zeitpunkt keinen strafrechtlich relevanten Tatbestand darstellte. Für – im geschilderten Fall – ethisch vertretbar hielten 83,3 % der Teilnehmer die PS unter gleichzeitiger Beendigung der Ernährung und Flüssigkeitsgabe, 51,2% den ÄAS und 19,2% die TAV. Im Vergleich der Varianten 1 und 2 fand sich ein signifikanter Unterschied lediglich bei der Einschätzung der Rechtmäßigkeit der PS: Bei physischem Leid wurde diese häufiger für erlaubt erachtet (88,1% vs. 75,8%).

Schlussfolgerung:

  • Die große Mehrheit der befragten Studierenden ging zu Unrecht von einer Strafbarkeit des ÄAS in Deutschland aus. Eine knappe Mehrheit hielt den ÄAS im geschilderten Fall für dennoch ethisch vertretbar.
  • Im Vergleich zur TAV hielten mehr als doppelt so viele Befragte ÄAS für akzeptabel.
  • Es konnte kein signifikanter Unterschied in der persönlichen Einstellung zu PS, ÄAS oder TAV bei Vorliegen von physischem oder seelischem Leiden gefunden werden.
  • Das Lehrangebot in diesem Bereich sollte wegen der Relevanz der Thematik, den Defiziten in der Kenntnis rechtlicher Grundlagen und der nun noch höheren Komplexität der rechtlichen Situation durch die Gesetzesänderung vom November 2015 qualitativ und quantitativ ausgebaut werden.

Schlüsselwörter: Medizinstudierende, ärztlich assistierter Suizid, Tötung auf Verlangen, Palliative Sedierung, rechtliche Rahmenbedingungen, Medizinstudium


1. Einleitung

Ärztlich assistierter Suizid (ÄAS) und Tötung auf Verlangen (TAV) spielen in aktuellen medizin-ethischen Diskussionen eine prominente Rolle. Im Vordergrund steht hierbei die Frage, wie der assistierte Suizid, speziell der ärztlich assistierte Suizid, ethisch und rechtlich zu bewerten ist. In der Abstimmung am 6.11.2015 im Bundestag setzte sich der Gesetzesentwurf der interfraktionellen Gruppe um die Abgeordneten Michael Brand und Kerstin Griese durch, der einen § 217 ins Strafgesetzbuch (StGB) einfügt. Demjenigen, der „in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt“ droht nun eine „Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren“ oder eine Geldstrafe. Straffrei soll weiterhin bleiben, „wer selbst nicht geschäftsmäßig handelt“ und ein Angehöriger oder eine nahestehende Person ist. Nicht durchsetzen konnten sich u.a. Entwürfe, welche den Ärzten Rechtssicherheit durch materiale Kriterien für die Zulässigkeit des ÄAS im Einzelfall bieten wollten.

1.1. Repräsentative Umfragen in Deutschland

Zahlreiche bevölkerungsrepräsentative Umfragen von Meinungsforschungsinstituten zeigten in den letzten Jahren übereinstimmend, dass eine Mehrheit der deutschen Bürger (im Median 72%) der Meinung ist, ÄAS und TAV sollten erlaubt sein [9]. Der Vergleich zweier Allensbach-Studien aus den Jahren 2010 und 2014 zeigt zudem, dass die gesellschaftliche Zustimmung zur „aktiven Sterbehilfe“ tendenziell eher zunimmt [http://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/Sterbehilfe1.pdf], [http://www.ifd-allensbach.de/uploads/tx_reportsndocs/KB_2014_02.pdf].

1.2. Umfragen bei Ärzten

Die Akzeptanz von ÄAS und TAV in der Gruppe der Ärzte wurde in mehreren Studien untersucht: Eine von der Bundesärztekammer 2009 in Auftrag gegebene repräsentative Umfrage unter deutschen Ärzten zeigte, dass 30% eine rechtliche Erlaubnis der ÄAS befürworten und 17% eine Legalisierung der TAV; 37% würden unter bestimmten Bedingungen Suizidassistenz leisten [http://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/Sterbehilfe1.pdf]. In einer kleineren Studie [17] fand sich bei 47% der Ärzte eine zustimmende Haltung zum ÄÄS, bei 32% der Befragten zur TAV. In einer weiteren Untersuchung [10] konnten sich 40,2 % der befragten Ärzte eine Suizidassistenz „unter bestimmten Bedingungen“ vorstellen. In einer aktuellen Befragung der Mitglieder der „Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie“ gaben 34% der Teilnehmer an, dass es für sie in Frage käme „unter bestimmten Bedingungen“ eine Patientin/einen Patienten bei der Selbsttötung zu unterstützen [13]. Die Befragung einer repräsentativen Stichprobe bayerischer Ärzte ergab, dass länger praktizierende Ärzte tendenziell eher ÄAS und TAV befürworteten als ihre Kollegen mit geringerer Berufserfahrung [16].

1.3. Umfragen bei Studierenden der Medizin

In der aktuellen Diskussion stellen Medizinstudierende eine besondere Gruppe dar. Einerseits werden in naher Zukunft die nun getroffenen (und auch die nicht getroffenen) Regelungen Einfluss auf ihr ärztliches Handeln haben. Andererseits könnte es sein, dass die heranwachsende Medizinergeneration eine andere Einstellung zu diesen Fragen hat. Dies unter anderem auch deswegen, weil sie im Gegensatz zu den meisten aktuell berufstätigen Ärzten im Lauf ihres Studiums sowohl Palliativmedizin als auch Medizinethik als Pflichtfächer hat. Dabei ist es eine Kernaufgabe dieser Fächer, den Studierenden die Möglichkeit zu bieten, zu einer eigenen reflektierten Einstellung zu diesen Fragen zu gelangen. Dies beinhaltet die Vermittlung von notwendigem Wissen ebenso wie das Angebot von geeigneten Lehrformaten – beispielsweise von Diskussionen in kleineren Gruppen. Frühere Studien haben gezeigt, dass Medizinstudierende ein hohes Interesse an ethischen Fragen haben, die Form und Menge der Veranstaltungen aber nach deren Einschätzung oftmals nicht ausreichend ist [2], [17].

1.4. Zielsetzung der Studie

Unser Ziel war es daher, die Kenntnisse der aktuellen Rechtslage sowie die Einstellungen zu ÄAS, TAV und PS bei einem Kollektiv von Medizinstudierenden zu ermitteln. Um Missverständnissen vorzubeugen, die durch die im Deutschen teils verwirrenden Terminologie entstehen (sog. „aktive“, „passive“, „indirekte“, „direkte“ Sterbehilfe) [4], entschieden wir uns für eine Befragung auf der Basis einer Fallvignette (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]).


2. Methoden

2.1. Teilnehmer

Die Teilnehmer der Studie waren Medizinstudierende des 7. und 8. Semesters der Technischen Universität München. Die Studierenden wurden im Anschluss an eine Klausurteilnahme gebeten, einen kurzen Fragebogen auszufüllen. Alle Studierenden hatten im vorausgegangenen Jahr verpflichtende Kurse in Ethik und Geschichte der Medizin, in Rechtsmedizin sowie einen Teil des palliativmedizinischen Curriculums absolviert.

2.2. Fragebogen

Die fiktive Fallvignette eines an einem Nasopharynxkarzinom erkrankten Patienten wurde den Studierenden in zwei Varianten vorgelegt (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]). Per Zufall wurde den Studierenden der Fragebogen entweder in Variante 1 oder Variante 2 zugeteilt. Gemäß Variante 1 leidet der Patient vorwiegend an unzureichend behandelbaren körperlichen Symptomen (Atemnot, Schmerzen). In Variante 2 liegen keine wesentlichen körperlichen Beschwerden, jedoch ein nicht zufriedenstellend behandelbares seelisch-existentielles Leiden durch die Erkrankung vor. Der Fallbeschreibung folgen jeweils drei Szenarien:

1.
(PS) „Der Patient möchte wegen des körperlichen bzw. seelischen Leidens (nach Ausschöpfung aller anderen Maßnahmen) palliativ sediert werden. Er möchte während der Sedierung nicht ernährt werden und keine Flüssigkeit erhalten.“
2.
(ÄAS) „Der Patient möchte, dass Sie ihm Medikamente verschreiben, die er dann selbst einnehmen möchte, um sein Leben zu beenden“
3.
(TAV) „Der Patient wünscht ausdrücklich, dass Sie ihm Medikamente verabreichen, die den Tod herbeiführen“.

Befragt wurden die Studierenden sowohl nach der (strafrechtlichen) Legalität des jeweiligen Vorgehens als auch nach ihrer persönlichen Einstellung. Zusätzlich wurden Alter und Geschlecht der Teilnehmer erfasst. Ein positives Votum der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät der TU München liegt vor (Antrags-Nr.503/15).

2.3. Datenanalyse

Die Daten wurden mit dem Statistikprogramm IBM SPSS Version 22 ausgewertet. Gruppenunterschiede wurden mit dem Χ2–Test ermittelt, Korrelationen wurden nach Spearman errechnet.


3. Ergebnisse

3.1. Rücklauf der Fragebögen

241 von 301 Studierenden (80%) beantworteten den Fragebogen (68,5% weiblich). Im Mittel waren die Studierenden 24 Jahre alt (SD±2,8). 109 Studierende beantworteten den Fragebogen in der Variante 1 (körperliches Leiden), 132 Studierende in der Variante 2 (seelisches Leiden).

3.2. Kenntnis der Rechtslage

Das Szenario der PS wurde von der Mehrheit der Studierenden (81,2%) korrekt als legale Therapieoption eingeschätzt, während das Szenario eines ÄAS nur von 18,8% richtigerweise als strafrechtlich zulässig eingestuft wurde. 93,7% der Studierenden beurteilten das Szenario einer TAV korrekt als strafbare Handlung (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]).

3.3. Einstellungen zur ethischen Vertretbarkeit der Handlungsoptionen

Eine große Mehrheit (83,8%) der Studierenden beurteilte im geschilderten Fall eine PS unter gleichzeitigem Verzicht auf Ernährung und Flüssigkeitsgabe als ethisch vertretbar. Eine knappe Mehrheit (51,2%) befürwortete den ÄAS, während ein Viertel der Studierenden unsicher war (25,4%). TAV wurde nur von 19,2% der Befragten als eine ethisch vertretbare Handlungsoption angesehen, etwas mehr als die Hälfte (56,9%) lehnte dies ab (siehe Tabelle 2 [Tab. 2]).

3.4. Zusammenhang zwischen Akzeptanz des ärztlich assistierten Suizids und Akzeptanz der Tötung auf Verlangen

Studierenden, die ÄAS für vertretbar hielten, hatten bezüglich TAV sehr unterschiedliche Meinungen. Die Mehrzahl der Studierenden, die ÄAS befürworteten, lehnten TAV ab (51 Studierende), 43 Studierende hielten beide Handlungsweisen für vertretbar, 26 der Befürworter von ÄAS waren sich in ihrer Meinung bezüglich TAV unsicher.

3.5. Zusammenhang zwischen rechtlicher Einschätzung und persönlicher Einstellung

Die Einschätzung der Rechtslage und die persönliche Einstellung standen bei den Handlungsoptionen PS und TAV in einem signifikanten Zusammenhang (r=0,27 bzw. 0,28; p<0,01). Bei ÄAS dagegen fand sich kein entsprechender Zusammenhang.

3.6. Körperliches vs. seelisches Leiden

Im Vergleich der Varianten 1 und 2 (körperliches vs. seelisches Leiden) fand sich ein signifikanter Unterschied lediglich bei der Einschätzung der Legalität der PS: Von 88,1% der Studierenden wurde die PS bei physischem Leiden für erlaubt erachtet, hingegen hielten nur 75,8% die PS bei psychischem Leiden für legal (p=0,0139) (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]).

Keine signifikanten Unterschiede zwischen Variante 1 und 2 fand sich bei der Frage nach der ethischen Vertretbarkeit der drei Handlungsoptionen (PS, ÄAS, TAV) (siehe Tabelle 2 [Tab. 2]). Bei physischem Leiden wurde die Durchführung einer PS nur gering häufiger befürwortet als bei psychischem Leiden (88% vs. 80,3%).

3.7. Demographische Unterschiede

In keiner der Antworten fanden sich signifikanten Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Teilnehmenden. Es zeigte sich auch keine Korrelation der Antworten mit dem Alter der Befragten.


4. Diskussion

4.1. Kenntnis der Rechtslage

Die Ergebnisse zeigen, dass die hier befragten Medizinstudierenden die rechtliche Zulässigkeit der PS und die Strafbarkeit der TAV überwiegend korrekt einstuften, während eine große Mehrheit nicht wusste, dass der ÄAS in Deutschland zum damaligen Zeitpunkt ohne Einschränkungen strafrechtlich erlaubt war. In einer älteren Publikation [17] wurde berichtet, dass Medizinstudierende zu einem hohen Prozentsatz Möglichkeiten der – erlaubten – Beendigung von medizinischen Maßnahmen als strafbar ansahen. So hielten 62% die Beendigung der parenteralen Ernährung und Flüssigkeitsgabe bei Sterbenden fälschlicherweise für nicht erlaubt. Im Gegensatz dazu schätzte in unserer Untersuchung die große Mehrheit der Studierenden die Durchführung einer PS im Fall eines terminal Tumorkranken - nach Ausschöpfung aller anderen therapeutischen Maßnahmen - korrekterweise als erlaubt ein. Ebenso bereitet die Einordnung der TAV als strafbare Handlung wenige Probleme.

Die Kenntnisse von Studierenden zu den rechtlichen Regelungen beim ÄAS in Deutschland wurde in mehreren früheren Arbeiten untersucht: Clemens et al. [6] fanden, dass nur ein Fünftel der Medizinstudierenden korrekt angeben konnte, dass ÄAS keinen strafrechtlich relevanten Tatbestand darstellt. Ähnlich dazu wurde in einer kleineren Untersuchung festgestellt, dass 85% der Medizinstudierenden ÄAS für eine (strafrechtlich) verbotene Maßnahme hielten [11]. Trotz der in den letzten Jahren mit breiter medialer Präsenz geführten gesellschaftlichen Debatte um die Suizidhilfe war der großen Mehrzahl der Studierenden die rechtliche Einordnung des ÄAS weiterhin nicht geläufig. Dies lag möglicherweise zum einen daran, dass die Rechtslage selbst trotz der damals uneingeschränkten strafrechtlichen Zulässigkeit durch verschiedene Gerichtsentscheidungen und die Diskussion um Garantenpflicht und Betäubungsmittelrecht schwer zu durchschauen war. Zum anderen ist ein großer Einfluss durch die ärztliche Standesethik zu vermuten: Das Verbot des ÄAS durch die (Muster-) Berufsordnung sowie die entsprechenden Verbote in 10 der 17 Landesärztekammern verstärken tendenziell eher die Vermutung, es handle sich beim ÄAS um eine grundsätzlich verbotene Handlung [http://www.gesetze-im-internet.de/_appro_2002/BJNR240500002.html]. Die seit dem Dezember 2015 geltende gesetzliche Neuregelung scheint die rechtliche Situation weiter zu verkomplizieren: Die Gesetzesänderung sieht vor, dass nur die „geschäftsmäßige“ Suizidhilfe unter Strafe gestellt wird. Unklar ist, ob sich auch Ärzte strafbar machen, wenn sie wiederholt oder im Rahmen ihrer professionellen Tätigkeit Suizidhilfe leisten. Bereits im Vorfeld hatte der wissenschaftliche Dienst des Bundestags kritisiert, dass in diesem Gesetzesvorschlag nicht ausreichend klar werde, wie zwischen einer verbotenen geschäftsmäßigen (d.h. auf Wiederholung angelegten) Suizidhilfe und einer nicht strafbewehrten Form unterschieden werden könne.

Hinsichtlich unserer Studie ist schließlich anzumerken, dass für die Studierenden der „Praktikumstag Palliativmedizin“, bei dem auch Inhalte dieses Themenbereichs besprochen werden, erst für das folgende 9. bzw. 10. Semester vorgesehen ist.

Unsere Daten zeigen im Einklang mit den Ergebnissen der genannten Studien, dass die Kenntnis der relevanten rechtlichen Grundlagen, insbesondere über den ÄAS, bei Medizinstudierenden weiterhin nicht vorausgesetzt werden kann. Diese sind aber eine notwendige Vorbedingung, damit Studierende eine eigene Einstellung und Haltung zu diesen Themen entwickeln können. Ansonsten besteht die Gefahr, dass Entscheidungen am Lebensende, auch von Ärzten in Verantwortungspositionen, auf der Basis unzureichenden oder gar falschen Wissens um deren ethisch-rechtlichen Rahmenbedingungen gefällt werden [5].

4.2. Körperliches vs. seelisches Leiden

Die Fallvignette wurde den Studierenden in zwei Varianten vorgelegt – physisches versus psychisch-existentielles Leiden. Generell wurde bereits früher gezeigt, dass in fiktiven Szenarios verschiedene Faktoren die Entscheidung zur TAV beeinflussten [15]. Insbesondere im Kontext der PS wird psychisch-existenzielles Leiden kontrovers diskutiert. Einerseits zeigte eine Studie, dass 13-29% aller palliativen Sedierungen vorwiegend aufgrund von psychoexistentiellem Leiden durchgeführt werden [3]. Andererseits wird von vielen Klinikern ein „nur“ psychisches Leiden als Grund für eine palliative Sedierung für nicht akzeptabel betrachtet [7]. Nach den Leitlinien der „European Association for Palliative Care (EAPC)“ kann eine PS in der Finalphase „auch für nicht-physische Symptome wie refraktäre depressive Zustände, Angst, Demoralisation oder existenzielle Not erwogen werden.“ Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass es für diese Indikationen „keinen übergreifenden fachlichen Konsens“ gebe [1]. Zwar gab es in unserer Untersuchung bei der ethischen Einschätzung keinen signifikanten Unterschied zwischen körperlichem und psychoexistentiellem Leiden, wohl aber bei der Einschätzung der Rechtmäßigkeit: Mehr Studierende hielten die PS für zulässig, wenn der Patient unzureichend behandelbare körperliche Symptome aufwies.

4.3. Persönliche Einstellung der Studierenden

Obwohl der ÄAS von der Mehrzahl der Studierenden (72,6%) als strafbar eingeschätzt wurde, hielt eine knappe Mehrheit (51,2%) ÄAS im geschilderten Fall für ethisch vertretbar. Damit stehen die Medizinstudierenden dem ÄAS positiver gegenüber als die Ärzte in vergleichbaren Umfragen [10], [13], [17]. Die Konstellation, dass diese Handlungsoption für vertretbar gehalten wurde und gleichzeitig als strafbar eingestuft wurde, fand sich bei 34,4% aller Teilnehmer. Ebenso wie bei der Allgemeinbevölkerung scheint die Zustimmung zu Maßnahmen der Sterbehilfe auch bei Medizinstudierenden tendenziell zuzunehmen: Eine Untersuchung aus Österreich konnte eine wachsende Akzeptanz von TAV bei den Studierenden nachweisen [14].

Die TAV wurde in unserer Untersuchung nur von einer Minderheit der Studierenden befürwortet (19,2%). Dies entspricht den Ergebnissen einer Studie aus dem Jahr 2004: Nur 20% der befragten Medizinstudierenden in Berlin konnten sich eine Situation vorstellen, in der sie bereit wären, einen Patienten zu töten [12]. Ähnliche Zahlen finden sich in einer Umfrage der Bundesärztekammer 2009, während in der Studie von Zenz et al. [18] 32,1% der befragten Ärzte eine zustimmende Haltung zur TAV äußerten. Die im Vergleich zum ÄAS klare Ablehnung des TAV im Rahmen unserer Umfrage deutet darauf hin, dass die Studierenden – im Unterschied zur Allgemeinbevölkerung, aber auch zum Vorstand der Bundesärztekammer – einen deutlichen ethischen Unterschied zwischen diesen beiden Praktiken feststellen, wie er auch aus der neueren wissenschaftlichen Literatur hervorgeht [8]. Entsprechend war die Mehrzahl der Studierenden, welche den ÄAS befürworteten, gleichzeitig der Meinung, dass die TAV dennoch nicht vertretbar sei.

4.4. Limitationen und Stärken der Studie

Als Limitationen der Studie muss an erster Stelle die Durchführung der Befragung an nur einer Universität und von Studenten nur eines Jahrgangs genannt werden. Damit ist die Studie für deutsche Medizinstudierende nur eingeschränkt repräsentativ. Es ist davon auszugehen, dass die lokalen Charakteristika des Studierendenkollektivs und der Lehrpraxis die Ergebnisse mit beeinflussen. Der Fragebogen wurde sehr kurz gehalten, weiter reichende demographische Daten wie Religionszugehörigkeit oder Tätigkeiten im medizinischen Bereich außerhalb des Studiums wurden zur Sicherung der Anonymität bei diesem sensiblen Thema nicht erfragt. Als Stärke der Studie ist der sehr gute Rücklauf von 80% zu nennen.


5. Schlussfolgerung

Die Studierenden zeigen in Lehrveranstaltungen ein großes Interesse an dieser Thematik, das sich auch in der Rücklaufquote dieser Umfrage widerspiegelt. Zudem gab in unserer Befragung nur 0,8-2% der Studierenden an, keine Meinung zur ethischen Vertretbarkeit von PS, ÄAS und TAV zu haben. Allerdings sind deren Kenntnisse – insbesondere zu den rechtlichen Rahmenbedingungen für Entscheidungen am Lebensende – noch verbesserungsfähig. Gerade angesichts der durch das neue Gesetz geänderten Rahmenbedingungen erscheint eine qualitative und quantitative Verbesserung des Lehrangebots dringend erforderlich. Wir schlagen hierzu vor:

1.
Die Einführung ergänzender oder die Integration bestehender Lehrveranstaltungen zur Verbesserung der Kenntnisse der Studierenden bezüglich der geltenden Rechtslage – vorzugsweise in Kooperation der Fächer Rechtsmedizin, Medizinethik und Palliativmedizin.
2.
Eine Verbesserung der kommunikativen Fertigkeiten durch videobasierte Gesprächsübungen mit standardisierten Patienten, welche die Studierenden befähigen, mit Patienten über deren Wünsche nach ÄÄS, TAV oder PS angemessen zu sprechen.
3.
Die Koppelung ethischer Reflexion an konkrete Praxiserfahrungen (z.B. durch Fallreflexionsseminare im Praktischen Jahr), um Studierenden die Möglichkeit zu geben, eine ethisch reflektierte eigene Haltung zu entwickeln.

Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

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