gms | German Medical Science

GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

F. Schneider (Hrsg): Psychiatrie im Nationalsozialismus – Erinnerung und Verantwortung

Buchbesprechung Humanmedizin

Suche in Medline nach

  • corresponding author Thomas Lempp - Klinikum der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Frankfurt am Main, Deutschland

GMS Z Med Ausbild 2012;29(4):Doc51

doi: 10.3205/zma000821, urn:nbn:de:0183-zma0008219

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2012-29/zma000821.shtml

Eingereicht: 10. April 2012
Überarbeitet: 11. Mai 2012
Angenommen: 11. Mai 2012
Veröffentlicht: 8. August 2012

© 2012 Lempp.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Bibliographische Angaben

Frank Schneider (Hrsg)

Psychiatrie im Nationalsozialismus – Erinnerung und Verantwortung

Springer Verlag, Heidelberg

Erscheinungsjahr: 2011, 77 Seiten (inkl. DVD),

Deutsch/Englisch € 9,95


Rezension

Am 26. November 2010 erhoben sich im großen Saal des Internationalen Congress Centrums in Berlin rund 3.000 Psychiaterinnen und Psychiater, um für eine Minute zu schweigen. Was sie zuvor gehört hatten, war zutiefst beeindruckend und blieb für die Anwesenden unvergesslich. Prof. Frank Schneider, der Präsident der deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), bat bei den Psychiatrie-Opfern und deren Angehörigen aus der Zeit des Nationalsozialismus in einem Ausmaß um Verzeihung, wie wohl nur wenige deutsche Ärzte zuvor. Er sprach von Scham, von einer fast 70 Jahre andauernden Sprachlosigkeit und von der Bitte um Verzeihung, die viel zu spät komme. Für diese Formulierungen gab es leider allen Grund. Das beschriebene ethische Versagen und die Verbrechen von Psychiatern während des „Dritten Reiches“ mögen den meisten Zuhörern noch in Grundzügen bekannt gewesen sein und waren erschreckend genug. Doch darauf folgte eine detaillierte Beschreibung des „zweiten Verbrechens“ der Nachkriegsjahre, die sich bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts verfolgen ließen. Nach Jahren psychiatrisch verordneter und durchgeführter Zwangssterilisierungen, der mörderischen „Euthanasie“-Tötungsaktion an Kindern, Erwachsenen und alten Menschen, unerlaubter eugenischer und rassenhygienischer Forschung an psychisch kranken Patienten und der erzwungenen Zwangsemigration oder Tötung von jüdischen Psychiatern war das dunkle Kapitel Psychiatriegeschichte mit dem Kriegsende nun eben gerade nicht vorbei. Die folgenden Jahrzehnte waren geprägt von personellen Kontinuitäten, (inklusive der Ehrenmitgliedschaften der DGPPN für 2 Gutachter der „Euthanasie“-Aktion), der Leugnung der Tatbeteiligung und fehlenden Anerkennung der Schuld. Bis heute sind die Opfer von der damaligen Bundesrepublik nicht ausdrücklich als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung anerkannt, was zu ausbleibenden Entschädigungen führt. Auch an dieser Entscheidung sind Psychiater mitbeteiligt gewesen. Die institutionelle und persönliche Schuld und Verstrickung der Psychiater und ihrer Fachgesellschaft (inklusive des damaligen Präsidenten) wurde von Prof. Schneider im Detail eingestanden und an erschreckenden Beispielen aufgezeigt. So endete die Ansprache folgerichtig in einem umfassendem Schuldeingeständnis und einer offiziellen Entschuldigung bei allen Opfern der Verbrechen und ihren Angehörigen.

In einem zweiten Teil der Veranstaltung wurde versucht die Opfer zu Wort kommen lassen, was wegen des langen Abstandes zu den historischen Ereignissen nur noch indirekt möglich war, indem Angehörige zu Wort kamen. So berichtete ein Sohn eines aus Dessau nach Israel emigrierten Psychiaters, wie sein Vater dort unter schwersten Bedingungen eine neuropsychiatrische Klinik aufbaute und den schwer depressiv erkrankten libanesischen Regierungschef mit Elektrokrampftherapie so erfolgreich behandeln konnte, dass dieser Anfang 1945 die Kriegserklärung des Libanons an das Deutsche Reich unterzeichnen konnte.

Der insgesamt wohl beeindruckendste Redebeitrag stammte von einer Nichte einer zwangssterilisierten und schließlich ermordeten Psychiatrie-Patientin, die aus persönlicher, naturgemäß hoch emotionaler Sicht ihre familiäre Spurensuche und den kurzen Lebensweg ihrer psychisch kranken Tante (Ermordung mit 24 Jahren) aufzeigte und diesen mit nachdenkenswerten Appellen an die anwesenden Mediziner verknüpfte. Hier wurde deutlich, dass das jahrzehntelange Schweigen, Leugnen und Wegsehen in der Gesellschaft und Fachwelt auch in den Familien der Opfer die gängige Erinnerungspraxis gewesen war.

Wer diese Veranstaltung besuchte, hatte eine einmalige und kollektive Gelegenheit, sich mit der Macht und dem Missbrauchspotential dieses medizinischen Fachgebietes auseinanderzusetzen. Für abwesende Interessierte wurde im Heidelberger Springer-Verlag ein 70-seitiges Büchlein herausgegeben, in dem alle Redebeiträge und einige beeindruckende Fotos festgehalten sind. Beigelegt ist eine DVD, auf der die gesamte Veranstaltung in deutscher und englischer Sprache nachverfolgt werden kann und die zusätzlich eine Lesung aus historischen Briefen von Ärzten, Patienten und Angehörigen enthält.

Hier liegt aber kein schlichtes Erinnerungsdokument an eine Gedenkveranstaltung vor. Unabhängig von diesem Ereignis bietet das preiswerte und leicht lesbare Werk eine umfassende Einführung in dieses, für alle auf dem psychiatrischen Gebiet tätigen Ärzte so wichtigen Stück Geschichte. Wer als Arzt mit psychisch kranken Patienten arbeitet, spürt häufig die Macht, die er besitzt. Wer mit dieser Macht verantwortungsvoll umgehen will, profitiert davon, sich alle Facetten ihres möglichen Missbrauchs wiederholt bewusstzuwerden. Dafür ist dieses Buch mehr als geeignet.

Herauszuheben ist, dass mit diesem Werk sowohl ein emotionaler als auch ein wissenschaftlicher Zugang zu dem Thema gelingt. In der Einleitung ist von der Fassungslosigkeit die Rede und davon, dass einem die Worte fehlen. Andererseits berichtet der Band von ersten Forschungsergebnissen der wissenschaftlichen Kommission der Fachgesellschaft, die sich aktuell mit diesem dunklen Kapitel der deutschen Psychiatrie-Geschichte beschäftigt. Gerade als Ärzte können wir es uns nicht leisten, nur fassungslos über diese Gräueltaten zu sein, sondern müssen uns auch der Tradition einer wissenschaftlichen Forschung stellen, so unangenehm die daraus erzielten Ergebnisse auch sein mögen. Die zahlreichen aktuellen Literaturhinweise im Redemanuskript von Prof. Schneider bieten bei weiterem Interesse eine gute Möglichkeit die Thematik zu vertiefen. Ein hoher Grad von Emotionalität und Wissenschaftlichkeit müssen sich nicht widersprechen und erscheinen gerade für die Nachgeborenen ein geeigneter Zugang zu dieser Thematik zu sein.

Inhaltlich erscheinen die Redebeiträge überraschend aktuell. Sei es dadurch, dass die schleppende Aufarbeitung der Geschichte geschildert wird, die immer noch anhält, sei es durch neue medizinethische Fragestellungen, die ein historisches Bewusstsein fordern und auch heute immer wieder eine persönliche Haltung zu ethischen Fragestellungen im Berufsalltag erforderlich machen.

Eine zwangssterilisierte ehemalige Psychiatrie-Patientin gibt den Lesern auf Seite 61 auf den Weg:

„Was nicht erinnert wird, kann jederzeit wieder geschehen, wenn die äußeren Lebensumstände sich entscheidend verschlechtern.“

So findet dieses Buch direkt neben den häufig benutzten psychiatrischen Nachschlagewerken einen guten Platz in jedem Arztzimmer als Mahnung, in der täglichen Arbeit stets die Würde des einzelnen Patienten über gesellschaftliche Wertvorstellungen zu stellen. Denn gerade der unverstellte Blick auf die zu behandelnden Menschen scheint ein Schutzfaktor für den Machtmissbrauch zu sein. So gab es vor allem unter den niedergelassenen Ärzten solche, die keine einzige Anzeige einer möglichen Erberkrankung bei den zuständigen Ämtern erstatteten, was eine Zwangssterilisierung nach sich gezogen hätte. Ein Grund mag darin liegen, dass dort, außerhalb des Klinikbetriebes, der Kontakt zu den Patienten direkter und unmittelbarer war.

Die eingangs beschriebene Gedenkminute ist schließlich auch am Ende des Buches in einer doppelseitigen Fotographie festgehalten und erscheint für den Leser an dieser Stelle auch notwendig nach den erschütternden, klugen und reifer-machenden Zeilen auf den Seiten zuvor.


Interessenkonflikt

Der Autor erklärt, das er keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel hat.