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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Ansätze der Familienfreundlichkeit an der Medizinischen Fakultät Tübingen (MFT)

Kommentar Humanmedizin

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GMS Z Med Ausbild 2012;29(2):Doc15

doi: 10.3205/zma000785, urn:nbn:de:0183-zma0007855

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2012-29/zma000785.shtml

Eingereicht: 18. April 2011
Überarbeitet: 11. Mai 2011
Angenommen: 18. Juli 2011
Veröffentlicht: 23. April 2012

© 2012 Holderried et al.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Zusammenfassung

Die Feminisierung des Arztberufes, der demographische Wandel mit drohendem Ärztemangel, Generation Y – diese Themen stellen die Medizinischen Fakultäten in Hinblick auf ihren sozialen Auftrag der Ausbildung eines hochqualifizierten wissenschaftlichen Nachwuchses vor neue Herausforderungen. Die durch das Universitätsklinikum Ulm durchgeführte Baden-Württemberg-weite Online- Befragung liefert eine wertvolle Datengrundlage, welche zur Optimierung der unterstützenden Tätigkeiten herangezogen werden kann.

Der überproportional hohe Anteil der Studierenden mit Kind in Tübingen muss als zusätzliche Herausforderung mit einem durchschnittlich niedrigerem monatlichen Einkommen zurechtkommen. Die Studierenden mit Kind benötigen in dieser Doppelbelastung organisatorische Unterstützung. Hier kann das Studiendekanat als Fürsprecher (Kontakt mit den Fachbereichen/Institutionen), organisatorischer Helfer (Studienfachberatung, individuelle Betreuung) und im Bereich der Infrastruktur (Kinderbetreuung/Wickelräume etc.) wertvolle Hilfestellung leisten. Dies trifft in Tübingen auf eine hohe intrinsische Motivation (Bereitschaft zur Beteiligung an selbstverwalteten Betreuungsnetzwerken) auf Seiten der Studierenden, welches es in die Weiterentwicklung des bestehenden Betreuungsnetzes zu integrieren gilt.

Schlüsselwörter: Familienfreundliches Medizinstudium, Studierende mit Kind, Ärztemangel, Generation Y, Medizinische Fakultät Tübingen, Schwangere Studierende, Betreuungsnetzwerk


Die neuen Herausforderungen

Die Feminisierung des Arztberufes [1], der demographische Wandel mit drohendem Ärztemangel und die Generation Y [http://www.usatoday.com/money/workplace/2005-11-06-gen-y_x.htm, 05.04.2011), [2] – diese Themen mit den damit verbundenen Herausforderungen (Vereinbarkeit mit der Familie, Work-Life-Balance, etc.) stellen die Aufgaben der MFT im Hinblick auf ihren sozialen Auftrag der Gesellschaft gegenüber in der Ausbildung eines hoch qualifizierten ärztlichen Nachwuchses dar. Die individuelle Betreuung unserer Studierenden bei der im Rahmen der Familiengründung vermehrt auftretenden organisatorischen Herausforderungen spielt hierbei eine wichtige Rolle. Langfristig greifende, bereits bestehende Maßnahmen müssen im alltäglichen Leben, in Zeiträumen mit vermehrter Belastung (z. Bsp. universitäre Prüfungen, Promotion), aber auch an Schnittstellen in der Ausbildung und auf dem Berufsweg (Übergang Vorklinik - Klinik, Übergang ins Berufsleben, etc.) immer wieder evaluiert und durch neue Projekte optimiert werden. Hierfür leisten die Ergebnisse dieser Studie einen wertvollen Beitrag.


Steckbrief der schwangeren Studierenden und Studierenden mit Kind in Tübingen

Der Anteil der weiblichen Studierenden der Humanmedizin in Tübingen liegt mit 61% knapp über dem Landesdurchschnitt (Gesamt 59%)1, während der Anteil von Studierenden mit Kind an der MFT mit 7% sich überproportional hoch darstellt (Gesamt 4,2%)2. Dies zeigt einerseits, dass erfreulicherweise die Studienbedingungen in Tübingen bereits in Richtung Realisierbarkeit des Studiums mit Kind weiterentwickelt wurden, andererseits betont es die Verantwortung, welche in Händen des Studiendekanats liegt. Um diesem Vertrauen gerecht zu werden, müssen wir für unsere große Zahl an Studierenden mit Kind individuelle Lösungsmöglichkeiten bieten. Gleichzeitig stellt sich uns die soziale und wirtschaftliche Herausforderung, diese Studierendengruppe zeitnah gut ausgebildet in ihren Berufsalltag begleiten zu können. Hilfestellung gibt ein genauerer Blick auf unsere Studierenden mit Kind, die im SS 2010 an der Online-Umfrage zum familienfreundlichen Studium in der Medizin in Baden-Württemberg des Uniklinikums Ulm teilgenommen haben3 [3]:

Bei einem monatlichen Einkommen, welches in Tübingen deutlich unter dem Gesamtdurchschnitt liegt, sind 41,9% dieser Studierenden nebenher berufstätig (Durchschnitt 12h/Woche). Dies führt zu einer zusätzlichen organisatorischen Herausforderung sowie zu einer Doppelbelastung dieser Eltern. Eine Sondereinteilung mit individuell erstellten Stundenplänen wird hier noch wichtiger. Eine Möglichkeit im Rahmen der erforderlichen Nebentätigkeit mehr Zeit für das Studium zu haben („Nachteil einer Familiengründung im Studium: Weniger Zeit zum Lernen“ MFT 83,3%, Gesamt 84,3%) bietet die Integration der Eltern in das Tübinger Tutorenprogramm. In diesem können sie als Dozierende über Peer Teaching einerseits fachlich profitieren und eine engere Anbindung an einzelne Fachbereiche erreichen und andererseits durch ihren Unterricht finanzielle Unterstützung erhalten.

Zwei Drittel (67,7%) der Tübinger studierenden Eltern haben die Schwangerschaft während des Studiums bewusst geplant (Gesamt nur 62,9%) und sehen den größten Vorteil darin, den Kinderwunsch nicht aufschieben zu müssen („ Vorteil einer Familiengründung im Studium“. höchste Antwort Tübingen: „Kinderwunsch wird nicht aufgeschoben“ 81,2% MFT versus 71,2% Gesamt, „Mehr Zeit für die Erziehung“ 67,1% MFT, Gesamt 44,1%). Diese starke intrinsische Motivation unserer Studierenden zeigt sich auch in der Bereitschaft sich in selbstverwalteten studentischen Betreuungsnetzwerk zu beteiligen („trifft zu“ und „trifft mehr oder weniger zu“ MFT 73,3%, Gesamt 63,9%). Diese Ressource wird aktuell noch deutlich zu wenig genutzt. Hier gilt es für die Zukunft den Studierenden Möglichkeiten an die Hand zu geben, mit denen sie - durch vom Studiendekanat initiierte - Unterstützungsprogramme in Eigenregie fortführen können, beispielweise durch Foren/Blogs für studierende Eltern mit der Möglichkeit des Erfahrungsaustausches und gegenseitiger Unterstützung) („Offener Beratungsbedarf“ bezüglich „studentischer Beratung durch studierende Eltern“ MFT 56%, Gesamt 50%). Hierdurch könnten die aufgeführten Nachteile („weniger Zeit fürs Lernen“ 83,3% und „sich selbst“ 73,6% zu haben) der Familiengründung im Studium erstens geteilt und zweitens eigeninitiativ gemindert werden.

Betrachtet man den Geburtszeitpunkt der Kinder so werden diese primär im klinischen Studienabschnitt inklusive PJ (53,0%, im Landesdurchschnitt 45,4%) geboren. Einen deutlichen Unterschied im landesweiten Vergleich gibt es hier bei der Anzahl der bereits vor dem Studium geborenen Kinder (MFT 25,3%, Gesamt 35,9%). Dies bedeutet, dass in Tübingen nicht nur ein im Vergleich höherer Prozentsatz an Studierenden mit Kind eingeschrieben ist, sondern dass dieser verändernde Lebensabschnitt zu einem größeren Prozentsatz während des Studiums gemeistert werden muss. Hierin könnte ein Grund für die etwas erhöhte Studienverzögerung („Hat sich Ihr Studium im Vergleich zum regulären Verlauf verzögert?“: Ja: MFT 68,2%, Gesamt 63,7%) im Vergleich zum Landesdurchschnitt sein. Dafür spricht auch die deutliche Geschlechterverteilung bei nicht entstandener Verzögerung (Männlich: 84,6% MFT, 78,4 Gesamt; Weiblich 15,4% MFT, 21,6% Gesamt). Weiterhin zur Studienverzögerung beitragen kann auch die in Tübingen stark genutzte Möglichkeit der Sondereinteilung mit Entzerrung der Pflichtveranstaltungen und deren Prüfungen auf einen längeren Zeitraum. Diese individuelle Sondereinteilung wirkt sich positiv auf die Vereinbarkeit von Studium und Familie im Landesvergleich aus („Hatten Sie im letzten Semester Probleme bei der Vereinbarkeit Studium und Familie“: Nein: MFT 43,3%, Gesamt 39,4%; „Vereinbarkeit im Studium ist leichter als im Arztberuf“ MFT 72,9%, Gesamt 66,7%), birgt allerdings die Gefahr, Studierende, welche zu einem hohen Prozentsatz bereits in der 2. Ausbildung befindlich sind (MFT 57,1%), länger vom Arbeitsmarkt fern zu halten. Hier gilt es die Balance zwischen der Belastbarkeit und Produktivität des Einzelnen und den Ansprüchen und Bedürfnissen der Gesellschaft zu finden.


Organisation, Beratung und strukturelle Herausforderungen

Geht man nun genauer auf den Studienablauf ein, finden sich einige Bereiche in denen zukünftig zusätzliche Unterstützung für unsere Studierenden mit Kind eingerichtet werden sollten. Diese teilen sich in zwei Bereiche:

Das Studiendekanat als organisatorischer Helfer:

Die durch individuelle Betreuung mögliche frühzeitige Einteilung unserer Studierenden erhöht deren Planungssicherheit und erleichtert damit den alltäglichen Ablauf. Die von Seiten des Studiendekanats angebotene Beratung wird noch deutlich zu wenig genutzt (MFT 24,7%, Gesamt 25,1%). Ein proaktiveres Zugehen auf die Studierenden seitens des Studiendekanats und der Studienberatung („Ich würde eine individuelle Studienberatung zur Studienorganisation mit Kind in Anspruch nehmen“ 62,5%, „Ich wusste nicht dass das Dekanat so etwas anbietet“ 42%) soll hier in Zukunft unterstützend implementiert werden. Eine semesterübergreifende Betreuung („Ich stehe regelmäßig … mit der Studienfachberatung in Kontakt“ „trifft nicht zu“ MFT 68,3%, Gesamt 73,5%; „Eine Semesterübergreifende Vereinbarung mit dem Dekanat erachte ich als sinnvoll“ 78%) kann hier die langfristige Planung zusätzlich erleichtern.

Das Studiendekanat als Fürsprecher:

Die Anwesenheitspflicht vor allem am Vormittag stellt diese Studierenden immer wieder vor Herausforderungen. Im Bereich der Pflichtveranstaltungen können Sonderregelungen für eventuelle Fehltermine, entstanden durch organisatorische Engpässe oder Fehlzeiten durch Kinderkrankheiten, unterstützend wirken. Hierbei ist es Aufgabe des Studiendekanats als Fürsprecher die Fächer zu sensibilisieren und über die entsprechenden Möglichkeiten zu informieren. Gemeinsam mit Studierenden und Dozierenden können dann mögliche Alternativen gefunden werden (Blended Learning, etc.), welche die inhaltliche Qualität des Studiums weiterhin gewährleisten („Folgendes Angebot hätte mir die Studiendurchführung erleichtert: Flexibilisierung der Anwesenheitspflicht“ 83,3%, „Nachholen von Fehlterminen“ 65,2%). Eine gesonderte Regelung muss hierbei für die Fehltermine gefunden werden, die durch Krankheit der Kinder entstehen („Für Fehltermine wegen Krankheit des Kindes sollte eine gesonderte Regelung geschaffen werden“ MFT 92,9%). Um den Studierenden den direkten Kontakt mit den Dozierenden bei akuten Problemen zu erleichtern, werden wir einen Studiums-Elternpass nach Ulmer Vorbild einführen [4]. Er soll durch die Visualisierung der besonderen Situation die Dozierenden und Mitarbeiter der Administration sensibilisieren und den Studierenden den Status des Bittstellers nehmen.

Darüber hinaus gibt es einige Punkte bei denen grundsätzliche Regelungen, welche nicht im Entscheidungsbereich des Studiendekanats liegen, den studierenden Eltern Schwierigkeiten bereiten. Hier können wir am besten durch eine landesweite Initiative auf diese Bereiche (z. Bsp. Ausweitung der Fehlzeiten während des Praktischen Jahres bei Krankheit des Kindes (Ansprechpartner LPA) oder die Einforderung von Mutterschutzbestimmungen für die Studienphase im Bundes- oder Landesgesetz) aufmerksam machen und eventuell eine Neuregelung erreichen.

Infrastruktur:

Auch im Bereich der Infrastruktur müssen, unterstützt durch die Fürsprache seitens des Studiendekanats, zusätzliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden („Folgende Angebote stehen genügend zur Verfügung: Trifft nicht zu“: Wickelräume MFT 94,5%, Gesamt 83,8%; Parkplätze MFT 57,1%, Gesamt 73,6%). Eine besondere Rolle spielt hierbei die Kinderbetreuung („Nachteile einer Familiengründung im Studium: Unplanbare Kinderbetreuung“ MFT 62,3%; „Problem Vereinbarkeit: Fehlende Kinderbetreuung“ MFT 54,1%; „Würden Sie eine stundenweise Kurzeitbetreuung der Universität nutzen“ MFT Ja 74%). Flexible Betreuungszeiten in diesem Bereich würden den Studierenden mehr Freiraum für die erfolgreiche Absolvierung ihres Studiums bieten.


Ausblick

Offene Fragen

In zukünftigen Gesprächen und Befragungen werden wir einzelne Aspekte, die sich in dieser Studie herauskristallisiert haben, weiter verfolgen. So besteht noch Klärungsbedarf, warum bei der Vereinbarkeit von Studium und Familie in der Vorklinik deutlich häufiger Probleme auftreten als im klinischen Studienabschnitt (Vorklinik 69,2%, Klinik 53,7%). Auch absolvieren aus noch ungeklärter Ursache deutlich mehr Väter das Humanmedizinstudium als zweite Ausbildung als Mütter (MFT: 53,6% Mütter, 85,7% Väter). Die Antworten zu diesen Fragen können weitere Unterstützungsmöglichkeiten aufzeigen.

Besonders freut uns der Wunsch der in Tübinger studierenden Eltern, weitere Kinder bekommen zu wollen (MFT: 64,3%, Gesamt 57%). Durch eine enge Kooperation mit dem Universitätsklinikum Tübingen wollen wir diesen Eltern den Start in den Berufsalltag mit Kindern erleichtern und uns gleichzeitig ihre wertvolle Arbeit erhalten. Wir wollen hierdurch dazu beitragen, den zu Beginn geschilderten neuen Herausforderungen an unsere Studierenden, die Dozierenden und letztlich die Gesellschaft gerecht zu werden.


Anmerkung

1 Studierendenstatistik der Universitäten SS 2010

2 Befreiung von Studiengebühren mit Grund der Kindererziehung im SS 2010

3 Rücklauf: 55,9% der Studierenden mit Kind


Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

1.
Boerma WG, van den Brink-Muinen A. Gender-related differences in the organization and provision of services among general practitioners in Europe: a signal to health care planners. Med Care. 2000;38(10):993-1002. DOI: 10.1097/00005650-200010000-00003 Externer Link
2.
Schmidt CE, Möller J, Schmidt K, Gerbershagen MU, Wappler F, Limmroth V, Padosch SA, Bauer M. Generation Y : recruitment, retention and development. Anaesthesist. 2011;60(6):517-524. DOI: 10.1007/s00101-011-1886-z Externer Link
3.
Niehues J, Prospero K, Fegert JM, Liebhardt H. Familienfreundlichkeit im Medizinstudium in Baden-Württemberg. Ergebnisse einer landesweiten Studie. GMS Z Med Ausbild. 2012;29(2):Doc33. DOI: 10.3205/zma000803 Externer Link
4.
Liebhardt H, Niehues J, Fegert JM. Praktische Ansätze für ein familienfreundliches Medizinstudium. GMS Z Med Ausbild. 2012;29(2):Doc32. DOI: 10.3205/zma000802 Externer Link