gms | German Medical Science

GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Familiengründung bei Medizinerinnen und Medizinern bereits im Studium? Ergebnisse einer Pilotstudie zur Familienfreundlichkeit im Studium der Humanmedizin an der Universität Ulm

Forschungsarbeit Humanmedizin

  • corresponding author Hubert Liebhardt - Universitätsklinikum Ulm, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Ulm, Deutschland
  • author Katrin Stolz - Universität Ulm, Medizinische Fakultät, Arbeitsstelle Lehrevaluation, Ulm, Deutschland
  • author Kathrin Mörtl - York University, Psychology Department, Toronto, Canada
  • author Katrin Prospero - Universitätsklinikum Ulm, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Ulm, Deutschland
  • author Johanna Niehues - Universitätsklinikum Ulm, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Ulm, Deutschland
  • author Jörg Fegert - Universitätsklinikum Ulm, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Ulm, Deutschland

GMS Z Med Ausbild 2011;28(1):Doc14

doi: 10.3205/zma000726, urn:nbn:de:0183-zma0007265

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2011-28/zma000726.shtml

Eingereicht: 11. März 2010
Überarbeitet: 3. Oktober 2010
Angenommen: 14. Dezember 2010
Veröffentlicht: 4. Februar 2011

© 2011 Liebhardt et al.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Zusammenfassung

Zielsetzung: Die Ulmer Studie zur Familienfreundlichkeit des Medizinstudiums ermittelte Faktoren für eine erfolgreiche Kombination von Medizinstudium und Familie. Sie zeigt, inwieweit das Studium als richtiger Zeitpunkt für eine Familiengründung geeignet ist. Die Ergebnisse der Studie dienen als Grundlage einer evidenzbasierten Curriculumreform nach familienfreundlichen Kriterien.

Methodik: Im Jahr 2009 wurde eine qualitative Interviewstudie mit 37 der 79 Medizinstudierende mit Kindern der Universität Ulm durchgeführt und inhaltsanalytisch ausgewertet. Auf Grundlage der festgestellten Problem- und Lösungsfaktoren wurde eine quantitative Fragebogenerhebung durchgeführt, an der 45 studierende Eltern und 53 Lehrende in der Medizin teilnahmen.

Ergebnisse: Studierende Eltern der Ulmer Humanmedizin sind durchschnittlich älter, häufiger verheiratet und haben bereits häufiger als andere Studierende eine Erstausbildung absolviert. Knapp ein Drittel der befragten Studierenden und Lehrenden sehen keinen idealen Zeitpunkt für die Familiengründung im Arztberuf. Allerdings wird die Vereinbarkeit von Familie und Studium mehrheitlich leichter eingeschätzt (61% der befragten Studierenden) als die Vereinbarkeit im Arztberuf, insbesondere während der Facharztausbildung. Die Ulmer Interviewdaten zeigen, dass sich vor allem das Ende des Studiums – idealerweise mit Geburtstermin in den Semesterferien – zur Familiengründung ohne größeren Zeitverlust eignet.

Schlussfolgerung: Sowohl die Lebensbiographien als auch die Ausbildungs- und Berufsprofile von studierenden Eltern weisen Besonderheiten auf. Die Universitäten und Kliniken sind gefordert, Vereinbarkeitsfragen nicht mehr nur der Verantwortung der jungen Nachwuchskräfte in der Medizin zu überlassen, sondern verlässliche Strukturen zu schaffen, die es ermöglichen die Familienphase parallel zur Ausbildungsphase zu beginnen. Hierzu gehören neben dem Ausbau von Kinderbetreuungsmöglichkeiten auch die stärkere Unterstützung der Universitäten im Bereich Studienberatung und Karriereförderung.

Schlüsselwörter: Karriereplanung, Familienforschung, Familienfreundlichkeit, Medizinstudium, Vereinbarkeit


Einleitung

Besonders für gut ausgebildete Akademikerinnen scheint es nicht einfach zu sein, Familie und Beruf zu vereinbaren. So bleibt etwa ein Viertel der Akademikerinnen in Westdeutschland kinderlos; deutlich mehr als Frauen ohne Studium [1], [2], [3], [4]. Dies betrifft vor allem auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf über den gesamten Bildungs- und Erwerbsweg für Frauen und Männer in der Medizin. So konstatiert auch die Bundesregierung, dass die Attraktivität der Gesundheits- und Pflegeberufe im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert werden muss [5].

Eine Vielzahl der Untersuchungen zeigt die Auswirkungen von Familienpflichten auf die wissenschaftlichen Karrierewege von Frauen im Sinne eines Karriereknicks in den höheren Positionen und damit die schwierige Vereinbarkeit von Familie und Arztberuf [6]. Familienpflichten bei Studierenden der Humanmedizin stellt dabei ein wenig untersuchtes Randphänomen dar. Die Quote der Medizin studierenden Eltern liegt bundesweit bei rund 7% [7]. Cujec et al., die auf die Situation Medizinstudierender Eltern in Kanada eingegangen sind, weisen auf die Notwendigkeit hin, diesen spezifischen Gegenstand auch in anderen regionalen Kontexten zu untersuchen [8].

Im internationalen Vergleich ist festzustellen, dass die Frage nach der eigenen Familiengründung von dem gesellschaftlichen Familienbild überhaupt, von der finanziellen Eigenständigkeit von Studierenden und den staatlichen Fördermöglichkeiten abhängt [9]. Ochel beschreibt, dass Studierende in skandinavischen Ländern bereits im Studium alleine für ihren Lebensunterhalt verantwortlich sind. Sie erhalten umfangreiche staatliche Fördermittel. Hingegen bleiben Studierende in Südeuropa, Westeuropa und Irland bis zum Studienabschluss abhängig von ihren Eltern.

Die Möglichkeit der Vereinbarkeit von Studium und Familie ist in Deutschland bereits Gegenstand mehrerer Untersuchungen [2], [7], jedoch fehlt in diesen Zusammenhängen der Fokus auf die Besonderheit der ärztlichen Ausbildung. Denn speziell die komplexen Rahmenbedingungen des in der Regel sechs jährigen Medizinstudiums mit seinem hohen anwesenheitspflichtigen Praxisanteil gestalten die Vereinbarkeit mit einem Kind schwierig.

Die vorliegende Studie schlägt eine Brücke zwischen allgemeiner Literatur zu studierenden Eltern und der Notwendigkeit der Vereinbarkeit von Karriere und Familie während der gesamten Medizinischen Ausbildung, nicht erst nach Abschluss des Studiums [10]. In Anbetracht der Aktualität familienpolitischer Themen in der politischen Debatte geht die vorliegende Originalarbeit daher der Frage nach, ob bereits das Medizinstudium der richtige Zeitpunkt für die Familiengründung im Arztberuf sein kann. Die empirische Studie ermittelt Faktoren einer erfolgreichen Kombination von Medizinstudium und Familie, und dient darüber hinaus als Grundlage einer evidenzbasierten Curriculumreform nach familienfreundlichen Kriterien.


Methodik

Eine an der Universität Ulm im Studienjahr 2008/2009 durchgeführte Studie erhob in einem zweistufigen – qualitativen und quantitativen – Verfahren die Lebens- und Studiensituation studierender Eltern in der Humanmedizin. Als Erhebungsinstrument wurde ein problemzentriertes Leitfadeninterview eingesetzt. Der Leitfaden umfasste die Kategorien „Biographie und Lebenssituation“, „Umfeld und Einstellungen“ sowie „Studienverlauf und -probleme“. Das Forschungsprojekt wurde von der Ethikkommission der Universität befürwortet, die Teilnehmenden wurden über die Ziele der Studie aufgeklärt und gaben vor Durchführung der qualitativen Interviews ihr schriftliches Einverständnis. Die Interviews wurden aufgezeichnet, transkribiert und anschließend nach der qualitativen Inhaltsanalyse von Mayring und der Grounded-Theory Methodologie paraphrasiert und in einem dreistufigen Verfahren (offenes, theoretisches und selektives Kodieren) mit der Software ATLAS.ti 5.2 kategorisiert [11], [12].

Bei der schriftlichen Befragung wurde jeweils ein Fragebogen für Studierende und Lehrende eingesetzt. Die quantitative Datenanalyse fand mit der Standardsoftware SPSS Version 11.0 statt.

Sowohl der Interviewleitfaden als auch der Fragebogen durchlief einen Pretest mit studierenden Eltern anderer verwandter Studiengänge. Um die Güte der Erhebung zu gewährleisten, wurde eine Daten- und Methodentriangulation durchgeführt [13] sowie durch die Beteiligung verschiedene Personen (Autoren dieses Artikels) an der Datenerhebung und Datenauswertung gleichzeitig eine Forschertriangulation sichergestellt. Die Ergebnisse wurden zudem mit einer ausgewählten Expertenrunde der Universität Ulm kritisch reflektiert und auf Plausibilität überprüft.

Stichprobe

Aus der Gesamtstichprobe von 79 studierenden Eltern der Humanmedizin an der Universität Ulm, die auf der Grundlage der Studiengebührenbefreiung ermittelt wurden, (4% der Medizinstudierenden im Studienjahr 2008/2009 insgesamt) haben 37 Personen an problemzentrierten Interviews bzw. 45 Personen an der Fragebogenerhebung teilgenommen (insgesamt 72% Beteiligungsquote, doppelt Beteiligte nur einmal gezählt). Ebenso haben sich 53 Lehrende (29% Rücklaufquote der 184 befragten Lehrbeauftragten der Fakultät) an der Fragebogenaktion beteiligt.

Die Ergebnisse der Fragebogenbefragung zeigen, dass der Altersdurchschnitt der studierenden Eltern bei 31,4 Jahren und damit deutlich über dem gesamten Altersdurchschnitt (24,2 Jahre) der Ulmer Medizinstudierenden liegt. 69% der Befragten sind weiblich und 31% männlich. 58% der Studierenden sind verheiratet, 33% leben in einer nicht-ehelichen Lebensgemeinschaft und 9%, ausschließlich Frauen, sind Alleinerziehende. Im Mittel gibt es 1,3 Kinder pro studierenden Elternteil. 67% haben ein Kind, 22% haben 2 Kinder. Die insgesamt 57 Kinder sind zu 79% unter 6 Jahren, wobei knapp ein Drittel unter 2 Jahren, ein Fünftel zwischen 2 und 3 Jahren und ein Drittel zwischen 3 und 6 Jahren alt sind.


Ergebnisse

Die hier dargestellten Ergebnisse fokussieren auf den richtigen Zeitpunkt der Familiengründung im Medizinstudium. Ergebnisse der übrigen im Fragebogen abgefragten Themenbereiche und konkrete strukturelle Schlussfolgerungen werden in folgenden Publikationen gesondert besprochen. Vorgestellt werden die Daten der Fragebogenbefragung, die durch Aussagen aus den Interviews veranschaulicht werden.

Klinischer Studienabschnitt als idealer Geburtszeitpunkt

Die befragten Studierenden haben laut Fragebogenerhebung ihren Nachwuchs zu 59% im klinischen Ausbildungsabschnitt (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]) bekommen, wobei jeweils 35% das Kind bewusst oder eben nicht geplant haben. Weitere 30% hatten zur Geplantheit des Kindes keine eindeutige Antwort gegeben.

Bei der Bewertung, welcher Zeitpunkt für Familiengründung im Arztberuf der Richtige sei, zeichnet sich in der Fragebogenbefragung ein heterogenes Meinungsbild ab (siehe Abbildung 2 [Abb. 2]). Etwa ein Drittel der befragten Studierenden und Lehrenden sehen derzeit keinen idealen Zeitpunkt für eine Familiengründung im Arztberuf. 44% der betroffenen Studierenden favorisieren den klinischen Studienabschnitt, also eine Familiengründung zwischen dem 3. und 6. Studienjahr.

37% der im Fragebogen befragten Lehrenden sehen hingegen eher den Zeitraum der Facharztausbildung oder später als geeigneten Zeitpunkt an.

Die Interviews erhärten die bewusste Planung der Schwangerschaft zu einem genau durchdachten und gewollten Zeitpunkt, der sich für die Betroffenen als ideal erwies:

  • 27 jährige Mutter, verheiratet, 1 Kind, 10. Semester (Zeile 22:24): „Ja, und also das Kind war richtig geplant. Das heißt, ich habe das so ausgerechnet, dass das genau am Ende des Blocksemesters [8. oder 9. Fachsemester] kommt.“
  • 29 jährige Mutter, verheiratet, 1 Kind, 11. Semester (Zeile 11:38): „…dann bin ich eben im Blocksemester [8. oder 9. Fachsemester] dann schwanger geworden…Das war wirklich ideal eigentlich.“

Geburtstermin ideal in den Semesterferien

Stellen sich die Blocksemester des 2. klinischen Studienjahrs als ideales Zeitfenster für eine Familiengründung im Studium heraus, so zeigen die Interviews, dass die Semesterferien als Geburtszeitraum geeignet zu sein scheinen:

  • 29 jährige Mutter, ledig, 1 Kind, 9. Semester (Zeile 14:38): „…wir haben das schon ein bisschen … also die Geburt nach den Semesterferien ein bisschen geplant, soweit sich das planen lässt, es hätte natürlich auch ganz anders klappen können. Und wenn das Kind mitten im Semester gekommen wäre, weiß ich nicht, ob ich es so geschafft hätte.“

Gründe hierfür könnten sein, dass die Belastungen am Ende der Schwangerschaft in einem laufenden Semester zu groß und das Risiko, das Studium deshalb unterbrechen zu müssen, zu hoch sind. Geht das modular aufgebaute Blocksemester voraus, so kann bei Schwangerschaftsproblemen leichter das Studium unterbrochen werden. Ein späteres Nachholen von Modulen ist ohne Zeitverlust realisierbar. Für das Konzept „Geburtstermin in Semesterferien“ spricht auch, dass nach der Geburt genügend Erholungsphase gegeben ist, ohne zwingend Studienzeit verlieren zu müssen.

Familienpflichten leichter vereinbar mit Medizinstudium als mit Arztberuf

61% der im Fragebogen befragten Studierenden sehen im Studium eine leichtere Vereinbarkeit mit den Familienpflichten als im Arztberuf (siehe Abbildung 3 [Abb. 3]). Auch der soziale Kompetenzzuwachs schon während des Studiums wird positiv eingeschätzt.

Die Interviews unterstützen gerade auch im Verhältnis zu einer späteren Familiengründung während der Berufstätigkeit die Annahme, dass der Zeitpunkt „Studium“ durchaus vorteilhaft ist:

  • 29 jährige Mutter, verheiratet, 1 Kind, 9. Semester (Zeile 26:31): „[Im Studium] kann ich auch mal daheim bleiben und selber lernen und selber nacharbeiten. Und im Job, gerade am Anfang, denke ich, wo ja die Zeit ist für Kinder, wenn man noch relativ jung ist, ist es schwieriger.“

Eine Familiengründung im Medizinstudium, so zeigen die Interviews, ermöglicht ein einfacheres und flexibles Zeitmanagement für Studium und Kleinkinderbetreuung. In Betreuungsnotfallsituationen sind Zeitressourcen leichter und unkomplizierter einteilbar, da die Verbindlichkeit im Studium nicht so hoch ist wie im Berufsleben.

  • 28 jährige Mutter, verheiratet, 2 Kinder, 9. Semester (Zeile 27:124): „Na ja, wenn ich jetzt mit dem Studium fertig bin, dann bin ich 30 und ich habe 2 Kinder. Und wenn ich mich irgendwo mal bewerbe, können die damit rechnen, dass ich nicht in den nächsten 2, 3 Jahren ausfalle wegen einem Kind.“

Vorteilhaft wirkt sich auch die zeitliche Selbständigkeit und Unabhängigkeit im Studium im Gegensatz zur Berufstätigkeit aus, die gerade in der Assistenzarztzeit erhebliche Zeitressourcen in Anspruch nimmt. Entsprechend kann eine Familiengründung im Studium unter Umständen Bewerbungsvorteile bringen.

Als großer Nachteil der Elternschaft im Studium erweist sich der Zeitmangel zum Lernen bzw. für sich selbst (siehe Abbildung 4 [Abb. 4]). Auch die unplanbare Kinderbetreuung wirkt sich nachteilig aus.

Die Interviews zeigen allerdings auch, dass die zeitliche Mehrfachbelastung im Studium als hoch empfunden wird, und es herrscht eher Zeitmangel für alle Lebensbereiche.


Diskussion

Die Frage, ob das Studium bereits der richtige Zeitpunkt für eine Familiengründung ist, eröffnet eine Vielzahl von strukturellen, curricularen und gesellschaftlichen Herausforderungen, die sowohl aus sozialwissenschaftlicher als auch volksökonomischer Sicht betrachtet werden müssen. Gleichzeitig müssen Ausbildung und Beruf stärker als eine Einheit gedacht und letztlich von der Gesundheitspolitik gemeinsam mit der Bildungs- und Familienpolitik angesprochen werden. Dabei ist insbesondere die Medizinerausbildung durch den notwendigen Praxisbezug integraler Bestandteil des Klinikalltags an der Universitätsklinik und damit einzigartig im Vergleich zu anderen Studiengängen. Die vorliegende Studie zeigt Besonderheiten sowohl in den Lebensbiographien als auch den Ausbildungs- und Berufsprofilen im Arztberuf von studierenden Eltern, die bei dem Streben nach mehr Familienfreundlichkeit berücksichtigt werden müssen.

Medizin studierende Eltern: älter, verheiratet, meist finanziell gesichert und mit Erstausbildung

Charakteristisch für die interviewten Medizinstudierenden ist oftmals eine hohe intrinsische Motivation, den Arztberuf zu ergreifen, auch wenn die Zulassungsvoraussetzungen (Numerus Clausus) zunächst nicht erfüllt werden können. Der Berufswunsch „Arzt/Ärztin“ motiviert zu aufwendigen Umwegen, bis ein Studienplatz letztlich aufgrund anderer Zulassungskriterien (Wartezeit, Zweitzulassungsquote, Ausländerquote etc.) zugeteilt wird. Die Wartephase wird durch eine Ausbildung und anschließende Berufstätigkeit in medizinnahen Berufen kompensiert. So können die Ulmer studierenden Eltern größtenteils bereits eine medizinische Erstausbildung (73%) vorweisen [14]. Davon sind 67% im Gesundheitswesen ausgebildet und bereits bis zu drei Jahren berufstätig gewesen. Eine andere Interpretation des Berufswechsels innerhalb des Gesundheitswesens ist, dass die Erstausbildung ausschlaggebend das Interesse am Arztberuf geweckt hat.

Studierende Eltern in der Ulmer Humanmedizin zeigen daher insofern ein spezifisches Profil, als dass sie mit einem Altersdurchschnitt von 31,4 Jahren deutlich über dem Durchschnitt der Regelstudierenden (7 Jahre Differenz) liegen. Isserstedt beschreibt für alle Studierenden in Westdeutschland eine Altersdifferenz lediglich von zwei Jahren zwischen Studierenden mit und ohne Kind [15].

Die meisten studierenden Eltern der Studie leben im Ehestand oder in nicht-ehelicher Partnerschaft und sichern damit ein stabiles sowohl soziales als auch finanzielles Umfeld für eine Familiengründung. Verheiratete Studierende weisen dabei tendeziell das 1,5 fache Einkommen von unverheirateten Studierenden auf [16]. Betrachtet man die Lebenssituation Medizin studierender Eltern, so ist festzuhalten, dass ein Studium mit Kind(ern) nicht zur Normalität gehört. Die Lebensbiographien Medizin studierender Eltern sind meist besonderes, weil sie den Mainstream verlassen und eine Familie geplant oder ungeplant bereits in der Ausbildungsphase gründen.

Flexible und individuelle Profile medizinischer Ausbildungscurricula

Will man das Medizinstudium zukünftig als attraktiven und vernünftigen Zeitpunkt für eine Familiengründung gestalten, müssen an den Medizinischen Fakultäten Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen ergriffen werden, die ein flexibles und individuelles Studium ermöglichen und der Verschultheit des Medizinstudiums entgegenwirken. Nach Cujec et al. bringen besonders Studierende mit Familienpflichten ein großes Bedürfnis nach Flexibilität der Ausbildung zum Ausdruck [8].

In Hinblick auf das Gesamtcurriculum im Kontext der Familien- und Karriereplanung bietet es sich laut der vorliegenden Befragung an, zunächst die Wochenstundenpläne des klinischen Ausbildungsabschnitts, der sich als geeigneter Zeitpunkt für Familiengründung erweist, auf Familienfreundlichkeit zu überprüfen. Im Speziellen braucht es, wie am Standort Ulm deutlich wurde, eine modulare Flexibilisierung des Wochenstundenplans dahingehend, dass innerhalb der Kernzeiten (9.00 bis 16.00 Uhr) einzelne Gruppen einer Lehrveranstaltungen zu verschiedenen Tageszeiten mehrfach angeboten werden, damit die Teilnahme von studierenden Eltern leichter mit der Kinderbetreuung abstimmbar wird. Ebenso müssen die Betreuungszeiten universitärer Kinderbetreuungseinrichtungen stärker auf die ganztägige Ausbildungsstruktur in der Medizin Rücksicht nehmen, da ausschließlich das Medizinstudium in den klinischen Alltag integriert ist und sich an den Dienstzeiten der Ausbildungsärzte orientiert. Leerlaufzeiten im Tagesverlauf sind zu vermeiden, Einteilungspläne sind verlässlich und frühzeitig vor Semesterbeginn (z.B. am Ende des Vorsemesters) zu veröffentlichen. Die Interviews machten deutlich, dass Anmeldeverfahren zentral organisiert werden müssen, damit kein unnötiger Organisationsaufwand entsteht. Beratung sollte systematisch auf die Bedürfnisse der studierenden Eltern zugeschnitten werden, was beispielsweise durch ein Studienverlaufsmonitoring realisiert werden könnte [17]. Der Ausbau von E-Learning Angeboten, insbesondere als Alternative für theoretischen, nicht anwesenheitspflichtigen Unterricht, wie Vorlesungen, ist zu fördern.

Parallele Ausbildungs-, Erwerbs- und Familiengründungsphase im Arztberuf

Der 7. Familienbericht des Bundesfamilienministeriums fordert einen systematischen Blick auf die „Rush-Hour des Lebens“, weil sich von der Berufseinmündung und Familiengründung bis zur Lebensmitte Lebensläufe zunehmend verdichten und Alternativen zu den traditionellen Lebensentwürfen gefunden werden müssen [18]. Insbesondere im Arztberuf verengt die lange Ausbildungsdauer (6 Jahre Regelstudienzeit und 4 bis 6 Jahre Facharztausbildung) das Zeitfenster für die Familiengründungphase. Meist folgt das Timing der Familiengründung dem Lebensphasenmodell [19]. Nur 6% aller Studierenden in Deutschland sprachen sich laut einer Allensbach-Befragung 2005 für eine frühe Elternschaft aus, was ein klares Indiz für das Phasenmodell ist [20]. Der Anteil derer, die das Phasenmodell durchbrechen und ein Parallelisierungsmodell, also die Gleichzeitigkeit von Ausbildung bzw. Erwerbstätigkeit und Familie [21], [22] eingehen, ist entsprechend vergleichbar gering. Im Arztberuf sprechen für das Parallelisierungsmodell die leichtere organisatorische Vereinbarkeit von Studium und Familie im Gegensatz zur Vereinbarkeitsproblematik im arbeitszeitintensiven Einstieg ins Berufsleben, insbesondere in der Phase der Facharztausbildung. Die sich veränderten Rahmenbedingungen in der Medizin und die immer stärker spürbare Verknappung der Ressource „Zeit“ verlangen nach anderen Modellen der Lebensplanung. Lebensmodelle, die auf eine Parallelisierung der Lebensphasen bauen, könnten so stärker zu einem Teil der Normalität werden und längerfristig besser die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gewährleisten.

Gerade auch im Hinblick auf die Nachwuchsförderung in der Medizin mit einer stetigen Zunahme des Frauenanteils kann die mit dem bisherigen Phasenmodell verbundene Undurchlässigkeit in Führungspositionen für Frauen nicht weiter hingenommen werden [6]. Ein Parallelisierungsmodell ermöglicht es leichter, die so genannte „gläserne Decke“, die wesentlich durch Elternzeitphasen während der Facharztausbildung als karriererelevanter Phase bedingt sind, zu durchstoßen. Die Familiengründung in das Medizinstudium zu verlegen, bringt nach der vorliegenden Studie insofern Vorteile, als die Kinder während des Studiums mit eigener Betreuung versorgt werden können und diese bei Berufseinstieg dann dem betreuungsintensiven Kleinkindalter entwachsen sind. Eine Erwerbstätigkeit wird entsprechend leichter organisierbar [23]. Die Qualifikation entspricht zudem bei Berufseintritt dem neuesten fachlichen Stand, was gerade für den Medizinberuf bei einem ständig wachsenden Wissen große Bedeutung hat [24].

Kinderlose Medizinerinnen und Mediziner?

Auch junge Ärztinnen und Ärzte werden oftmals beim Kinderwunsch vor die Alternative Kinder oder Arztkarriere gestellt. Berufliche Entfaltung einerseits und der Wunsch nach Familie andererseits scheinen sich aktuell noch auszuschließen. Die Gefahr des „Karriereknicks“ ist zu groß, sodass das Spannungsverhältnis zwischen Kinderwunsch und Beruf oftmals zu Gunsten der Erwerbstätigkeit gelöst wird. Ergebnisse der 14. Shell-Studie zeigen, dass die Verbindung von Beruf und Familie jedoch das zentrale Lebenskonzept für junge Frauen und Männer ist [25]. Nach Kemkes-Grottenthaler wünschen sich 74,5% der Studierenden Kinder [26], [27]. Eine aktuelle Studie von 2009 in Nordrhein-Westfalen untersuchte die Kinderlosigkeit des wissenschaftlichen Personals und kommt zur Erkenntnis, dass junge Wissenschaftler/-innen (78% der Frauen, 72% der Männer) an einem erfüllten Leben mit Wissenschaft als Beruf und ein Leben mit Kindern festhalten [5]. Allerdings bleiben dauerhaft 23% der Akademikerinnen kinderlos [3]. Eine zu lange Ausbildungszeit wird für die Kinderlosigkeit der Akademikerinnen mitverantwortlich gemacht. Ein zunächst aufgeschobener Kinderwunsch wird dadurch eventuell später nicht mehr realisiert.


Schlussfolgerung: Fazit für die Praxis

1.
In Anbetracht der sich verändernden Ärzte(innen)schaft (Ärztemangel, erhöhter Frauenanteil, Abwanderungstendenz, zunehmende Dienstbelastung etc.) sollten die strukturellen Rahmenbedingungen zu allen Zeiträumen der Ärzteausbildung verbessert werden, damit eine gewünschte Familiengründung unabhängig von der beruflichen Karriere realisiert werden kann.
2.
Es sollten Möglichkeiten geschaffen werden, das Lebensphasenmodell zu durchbrechen, indem schon während des Studiums bzw. des Berufseinstiegs Entlastungen beispielsweise durch flexible und individualisierte Curriculumsgestaltung, Teilzeitmöglichkeiten, Kinderbetreuung oder Kontakthalte- und Wiedereinstiegsprogramme geboten werden.

Danksagung

Dank gilt dem Präsidium der Universität Ulm, die die Finanzierung der Studie aus Studiengebühren bewilligt hat. Ein besonderer Dank gilt allen Ulmer Medizin Studierenden mit Kind, die an der Studie teilgenommen haben.


Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenskonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

1.
Schmitt C, Wagner G. Kinderlosigkeit von Akademikerinnen überbewertet. Wochenbericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). 2006;21:313-317.
2.
Cornelißen W, Fox K. Studieren mit Kind. Die Vereinbarkeit von Studium und Elternschaft: Lebenssituationen, Maßnahmen und Handlungsperspektiven. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; 2007. S.194.
3.
Statistisches Bundesamt. Mikrozensus 2008. Neue Daten zur Kinderlosigkeit in Deutschland. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt; 2009. S.1-38.
4.
Metz-Göckel S. Wissenschaft als Lebensform - Eltern unerwünscht? Kinderlosigkeit und Beschäftigungsverhältnisse des wissenschaftlichen Personals aller nordrhein-westfälischer Universitäten. Opladen [u.a.]: Budrich; 2009.
5.
CDU, CSU, FDP. Wachstum. Bildung. Zusammenhalt. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP. Berlin: CDU; 2009. Zugänglich unter/available under: http://www.cdu.de/doc/pdfc/091026-koalitionsvertrag-cducsu-fdp.pdf (Zugriff: 18.03.2010) Externer Link
6.
Reed V, Buddeberg-Fischer B. Career obstacles for women in medicine: an overview. Med Educ. 2001;35(2):139-147.
7.
Middendorff E. Studieren mit Kind. Ergebnisse der 18. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks durchgeführt durch HIS Hochschul-Informations-System. Bonn, Berlin: HIS Hochschul-Informations-System; 2008.
8.
Cujec B, Oancia T, Bohm C, Johnson D. Career and parenting satisfaction among medical students, residents and physician teachers at a Canadian medical school. Can Med Ass J. 2000;126(5):637-640.
9.
Ochel W. Familiengründung trotz Studiums. Ifo schnelldienst. 2006;59:7-11.
10.
Liebhardt H, Fegert JM. Medizinstudium mit Kind: Familienfreundliche Studienorganisation in der medizinischen Ausbildung. Lengerich: Pabst Sciences Publisher; 2010.
11.
Mayring P. Qualitative Inhaltsanalyse. 10. Auflage. Weinheim, Basel: Beltz; 2008.
12.
Glaser BG, Strauss AL, Paul AT. Grounded theory: Strategien qualitativer Forschung. 2. korrigierte Aufl. Bern: Huber; 2005.
13.
Lamnek S. Qualitative Sozialforschung Lehrbuch. 4., vollst. überarb. Aufl. Weinheim, Basel: Beltz; 2008.
14.
Liebhardt H, Fegert J M, Dittrich W, Nürnberger F. Medizin studieren mit Kind. Ein Trend der Zukunft? Dtsch Ärztebl. 2010;34-35:1613-1614.
15.
Isserstedt W, Middendorff E, Fabian G, Wolter A. Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland 2006. 18. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks durchgeführt durch HIS Hochschul-Informations-System; ausgewählte Ergebnisse. Bonn: Bundesministerium für Bildung und Forschung; 2007.
16.
Middendorff E. Kinder geplant? Lebensentwürfe Studierender und ihre Einstellung zum Studium mit Kind. Befunde einer Befragung des HISBUS-Online-Panels im November/Dezember 2002. Hannover: HIS Hochschul-Informations-System GmbH; 2003.
17.
Liebhardt H, Stolz K, Mörtl K, Prospero K, Niehues J, Fegert J M. Evidenzbasierte Beratung und Studienverlaufsmonitoring für studierende Eltern in der Medizin. Z Berat Stud. 2010;2:50-55.
18.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Siebter Familienbericht. Berlin: Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend; 2006.
19.
Myrdal A, Klein V, Schroth-Pritzel U. Die Doppelrolle der Frau in Familie und Beruf. 2. Aufl. Köln [u.a.]: Kiepenheuer & Witsch; 1962.
20.
Institut für Demoskopie Allensbach. Einflussfaktoren auf die Geburtenrate. Ergebnisse einer Repräsentativbefragung der 18- bis 44jährigen Bevölkerung. Einflussfaktoren auf die Geburtenrate. Allensbach/Bodensee: Institut für Demoskopie Allensbach; 2005.
21.
Kurscheid C. Das Problem der Vereinbarkeit von Studium und Familie. Eine empirische Studie zur Lebenslage Kölner Studierender. Münster: LIT; 2005.
22.
Amend-Wegmann C. Vereinbarkeitspolitik in Deutschland: aus der Sicht der Frauenforschung. Hamburg: Kovac; 2003.
23.
Helfferich C, Hendel-Kramer A, Wehner N. fast - Familiengründung im Studium. Eine Studie in Baden-Württemberg; Abschlußbericht zum Projekt. Stuttgart: Landesstiftung Baden-Württemberg; 2007.
24.
Allmendinger J. Familien auf der Suche nach der gewonnenen Zeit. In: Aus Politik und Zeigeschichte. Parlament. 2005;23-24:24-29.
25.
Deutsche Shell-Aktiengesellschaft Jugendwerk. Jugend 2002 zwischen pragmatischem Idealismus und robustem Materialismus. 4. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag; 2003.
26.
Kemkes-Grottenthaler A. Determinanten des Kinderwunsches bei jungen Studierenden: Ein Pilotstudie mit explorativem Charakter. Z Bevölkerungswiss. 2004;29(2):193-217.
27.
Wirth H, Dümmler K. Der Einfluss der Qualifikation auf die Kinderlosigkeit von Frauen zwischen 1970 und 2001 in Westdeutschland: Analysen mit dem deutschen Mikrozensus. Z Bevölkerungswiss. 2005;30(2/3):313-336.