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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Pilotprojekt "Patientensicherheit" in der medizinischen Lehre

Projekt Humanmedizin

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  • corresponding author Michael Rosentreter - RWTH Aachen, Medizinische Fakultät, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Aachen, Deutschland
  • Dominik Groß - RWTH Aachen, Medizinische Fakultät, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Aachen, Deutschland
  • Gereon Schäfer - RWTH Aachen, Medizinische Fakultät, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Aachen, Deutschland

GMS Z Med Ausbild 2011;28(1):Doc12

doi: 10.3205/zma000724, urn:nbn:de:0183-zma0007246

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2011-28/zma000724.shtml

Eingereicht: 22. Juli 2009
Überarbeitet: 27. Oktober 2010
Angenommen: 28. Oktober 2010
Veröffentlicht: 4. Februar 2011

© 2011 Rosentreter et al.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Zusammenfassung

Seit dem Sommersemester 2009 wird im Rahmen des Modellstudiengangs Medizin der RWTH Aachen das Lehrprojekt „Patientensicherheit – Der klinische Umgang mit Patienten- und Eingriffsverwechslungen sowie Medikationsfehlern“ angeboten Seminare zur Patientensicherheit in Deutschland zielen bislang vor allem auf ausgebildete Ärzte und Gesundheitsökonomen ab. Demgegenüber soll das Lehrprojekt Patientensicherheit einen frühzeitigen Beitrag zu einer „Kultur der Fehlerdiskussion und -vermeidung“ leisten – ein Aspekt, der bisher in der klinischen Medizin, aber auch in der medizinischen Ausbildung wenig etabliert ist. Dazu wurde ein thematisch breit angelegtes Lehrangebot erarbeitet, das die Studierenden auf der Grundlage des problemorientierten Lernens befähigt, sog. Unerwünschte Ereignisse (UE) zu analysieren und – auf der Basis der so gewonnenen Erkenntnisse – geeignete Präventionsmaßnahmen zu entwickeln. Theoretische Lerneinheiten werden ergänzt durch Besprechungen prototypischer klinischer Fälle, die von erfahrenen Klinikern moderiert werden. Bei den selbsteingeschätzten Kompetenzen „Wissen zu Patientensicherheit“ und „Wahrnehmung von Risikosituationen“ wiesen die Studierenden nach Abschluss des Seminars einen signifikanten Zuwachs (Mittelwertvergleich) auf. Insgesamt bewerteten die Studierenden ihren Lernerfolg mit gut (1,5).

Schlüsselwörter: Medizinstudium, Patientensicherheit, Unerwünschte Ereignisse, Problemorientiertes Lernen, Medizinerausbildung


Einleitung

Problemaufriss und Bedarf

„Patientensicherheit” wird definiert als „Abwesenheit Unerwünschter Ereignisse“ im Zusammenhang mit der medizinischen Versorgung [1]. Die in dieser Definition enthaltene Handlungsaufforderung impliziert das Erkennen und Vermeiden derartiger Ereignisse.

Untersuchungen aus Hochrisikobereichen (z.B. Luft- und Raumfahrt, Kernenergie) belegen, dass dort bis zu 70% der Fehlerereignisse auf menschliche Faktoren zurückzuführen sind [8], [19]. In der Diskussion um eine medizinische Sicherheitskultur wird dieser Vergleich häufig herangezogen. Daneben werden internationale Studien zu Fehlern in der Gesundheitsversorgung zitiert; sie kommen zu dem Ergebnis, dass individuelle Versäumnisse im Verhältnis zu Systemfehlern als Ursache für entstandene Gesundheitsschäden quantitativ nachrangig sind [4], [12], [13], [14], [15]. Menschliche Faktoren (Human Factors) sind letztlich „alle physischen, psychischen und sozialen Charakteristika des Menschen, insofern sie das Handeln in und mit sozio-technischen Systemen beeinflussen oder von diesen beeinflusst werden“ [2]. In den verschiedenen Bereichen der Gesundheitsversorgung sind Menschen und Technologien in einer bestimmten Weise als sozio-technische Systeme organisiert, um für ihre Klienten und Patienten das Gut der bestmöglichen Gesundheit zu erzielen.

Der Bedarf an einem derartigen Lehrprojekt aus Sicht der Studenten wurde in einer zu Semesterbeginn durchgeführten Befragung (n=14) im Rahmen eines Pilotseminars zum Thema ermittelt. In einer sechsstufigen Skala (6=sehr wichtig) sollten die Studierenden angeben, wie wichtig ihnen selbst das Thema Patientensicherheit ist, und welcher Stellenwert dem Thema in der medizinischen Ausbildung beigemessen wird bzw. beigemessen werden sollte. Den Seminarteilnehmern war das Thema persönlich sehr wichtig (Mittelwert MW=5,67; Standardabweichung s=,651) in der medizinischen Lehre sollte es, ihrer Meinung nach, einen hohen Stellenwert einnehmen (MW=5,38; s=,650). Gleichzeitig stuften die Seminarteilnehmer den aktuellen Stellenwert als eher niedrig (MW=1,92; s=,954) ein.

Aktueller Stand

Ein „Curriculum Patientensicherheit“ für die studentische Ausbildung im Medizinstudium liegt in der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig nicht vor. Das erarbeitete Curriculum des European Network for Patient Safety (EuNetPas) hat das Reviewverfahren gerade durchlaufen; die Richtlinien des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin (ÄZQ) sind als Fortbildungskonzept für ausgebildete Mediziner erarbeitet worden. Am 3. Mai 2010 traf sich in Berlin die Arbeitsgruppe „Bildung und Training“ zu ihrer konstituierenden Sitzung unter der Ägide des Aktionsbündnisses für Patientensicherheit mit dem Ziel, das Thema Patientensicherheit innerhalb der nächsten fünf Jahre in der medizinischen Pflichtlehre zu etablieren.

Lehrangebote zum Thema Patientensicherheit in Form von Seminaren werden in den Studiengängen Medizintechnik (TU Ilmenau), Gesundheitsökonomie (Universität Köln) und Public Health Management (Dresden International University) durchgeführt. Der Bedarf an Lehrangeboten zur Vermittlung eines systemischen Verständnisses von der Fehlerentstehung und einer zu entwickelnden „Fehler- bzw. Sicherheitskultur“ in der ärztlichen Ausbildung besteht demgegenüber fort.


Projektbeschreibung

Kompetenzbegriff und Lernziele

Im Zentrum des Konzepts für das Lehrprojekt Patientensicherheit stehen zwei maßgebliche Dimensionen: Die personelle Dimension betrifft sowohl das individuelle Verhalten im Zusammenhang mit Patientensicherheit als auch die Etablierung einer sog. Fehlerkultur innerhalb der „Lernenden Organisation“; die zeitliche Dimension betrifft die Vermeidung von Fehlern (Fehlerprävention) und den kreativen Umgang mit Fehlerereignissen.

Nach Klafki ist Kompetenz die umfassende Befähigung, in variablen Situationen Problemlösungen zu finden und diese selbstverantwortlich anzuwenden. Dazu sind sowohl kognitive wie psychosomatische Fähigkeiten und Fertigkeiten notwendig als auch eine entsprechende Motivation und Handlungswille [11], [10]. Ein wichtiger Aspekt dieser Selbstorganisation ist die Fähigkeit, individuelle Möglichkeiten realistisch einzuschätzen und sich keiner (idealistischen) Überforderung auszusetzen [6].

Für das Handlungsfeld Patientensicherheit wurden die Lernziele in Anlehnung an die Lernzieltaxonomie nach Bloom [3] formuliert:

1. Kognitive Lernziele

  • Wissen über Konventionen und zeitlichen Abfolgen: Die Studierenden sollen Fehlerarten unterscheiden können (Terminologisches Wissen) und eine Vorstellung von juristischen Aspekten sowie ökonomischer Bewandtnis der Patientensicherheit (Kenntnis von Kriterien und Kategorien) erhalten. Dazu gehören Kenntnisse des Qualitätsmanagements und des Lernens in Organisationen.
  • Analyse und Synthese: Die Seminarteilnehmer sollen in die Lage versetzt werden, auf der Basis eines systemischen Verständnisses der Fehlerentstehung aufgetretene Fehler und Schäden zu erkennen, zu analysieren und darauf aufbauende Präventionsmaßnahmen zu entwickeln.

2. Affektive Lernziele

  • Verständnis entwickeln: Studierende der Medizin sollen frühzeitig erkennen, dass unabhängig von der medizinischen Kompetenz auch Systemfehler wie Organisations- und Kommunikationsmängel schwerwiegende Folgen nach sich ziehen können. Dazu gehört ein vertieftes Verständnis für Organisations- und Kommunikationsprozesse.
  • Bewerten: Die Medizinstudierenden sollen sich ihrer eigenen wie der Werthaltungen und Einstellungen Anderer bewusst werden, um argumentations- und handlungsfähig zu sein.

Verortung des Lehrangebots „Patientensicherheit“ an der Medizinischen Fakultät Aachen

Das Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin bietet in ein Qualifikationsprofil „Medizin und Ethik – Arzt, Patient, Gesellschaft“ an, in dem das Innovative Lehrprojekt „Patientensicherheit – Der klinische Umgang mit Patienten- und Eingriffsverletzungen sowie Medikationsfehlern“ verortet ist. Das Seminar wird seit dem Sommersemester 2009 als Wahlpflichtveranstaltung angeboten und aus Studiengeldern finanziert.

Studierende und Dozenten

Die Seminarleitung liegt bei einem Medizinsoziologen mit berufspraktischer Erfahrung in der Anästhesie und Intensivmedizin. Das Lehrprojekt wird in Kooperation mit Kollegen aus Klinik und Praxis durchgeführt. Den klinischen Kooperationspartnern kommt insbesondere bei den praxisorientierten Inhalten eine bedeutende Rolle als Experten und Moderatoren zu. Für die Fallbesprechungen konnten erfahrene Praktiker verschiedener medizinischer Disziplinen gewonnen werden, die den Studierenden einen Einblick in die typischen Risikokonstellationen ihres Faches ermöglichen. Insgesamt sind in dem Projekt sieben Praktiker aus Klinik und Pflege, zusätzlich zu dem Kursleiter, an der Lehre beteiligt. Integrale Bestandteile des Projektes sind eine Führung durch das Institut für Transfusionsmedizin und ein Expertengespräch mit einer erfahrenen Pflegedienstleiterin zu „Gewalt gegen Patienten“ enthalten. Der Koordinationsaufwand wird trotz der relativ hohen Anzahl der beteiligten Dozenten bzw. Moderatoren dadurch in Grenzen gehalten, dass alle bereits über einschlägige Erfahrung in der Lehre verfügen und eine Dozentenschulung bis auf wenige Absprachen entfallen kann. Der Aufwand für die Fallbesprechungen liegt im Wesentlichen in der frühzeitigen Koordinierung der Termine und in Absprachen bezüglich der Fallbeispiele, die vom Dozenten vorgeschlagen und aufbereitet werden. Aufwendiger stellt sich die Akquisition neuer Dozenten und Moderatoren dar, die der sukzessiven Erweiterung des angebotenen thematischen Spektrums dienen soll. Bisher konnte dabei auf ein Netzwerk in der Lehre besonders engagierter Praktiker und Kliniker zurückgegriffen werden.

Insgesamt haben sich 16 Studierende im Sommersemester 2009 und Wintersemester 2009/10 für den Kurs Patientensicherheit eingeschrieben, von denen zwei den Kurs mit Hinweis auf andere Studienbelastungen abgebrochen haben. Dazu ist anzumerken, dass neben der Ankündigung im Vorlesungsverzeichnis keine weiteren Hinweise auf das Lehrangebot erfolgten. Am Kurs des Sommersemesters 2010 nahmen bereits 14 Studierende teil.

Das Durchschnittsalter der Kursteilnehmer betrug 24 Jahre (s=4,21); sie befanden sich (gemittelt) im 5. Fachsemester (s=1,46). Gerade hinsichtlich der Semesterzahl und der bisherigen klinischen Erfahrung war die Varianz jedoch sehr groß – so waren zwei Teilnehmer vor Beginn des Studiums mehrere Jahre in der Krankenpflege tätig. Mit 65% entsprach der Anteil der weiblichen Seminarteilnehmer in etwa dem Gesamtanteil der Medizinstudentinnen an der RWTH Aachen (62,8%) im Jahr 2010 [5].

Konzept und Inhalte

Die Zielsetzung des Lehrprojekts und der Themengegenstand selbst legen eine duale Konzeption aus theoretischen und praxisbezogenen Anteilen nahe (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]):

1.
Initiale Vermittlung theoretischer Kenntnisse über Patientensicherheit und Sensibilisierung für damit verbundene Problemstellungen;
2.
Präsentation und Diskussion klinischer Fälle zur Erarbeitung der Risiken und besonderen Umstände, die zu unerwünschten Ereignissen oder Fehlern führen.

Dieser Zweigliederung folgend, dient der erste theoretische Teil der Doppelstunde der Vermittlung von Basiswissen wie Definitionen, Begriffen und juristischen Aspekten. In der zweiten Phase des Lehrprojekts wird darauf aufbauend der institutionelle und gesellschaftliche Kontext von Patientensicherheit erarbeitet. Themen dieses Kursabschnittes sind die ethischen Dimensionen des Themas Patientensicherheit, Fehlerkultur und Organisationslernen, Handlungsempfehlungen der Patientenschutzverbände und aktuelle Forschungsergebnisse.

Der zweite, theoretische Teil der jeweiligen Unterrichtseinheiten ist für Fallbesprechungen vorgesehen. Für die Moderation der Fallbesprechungen konnten erfahrene Kliniker und Praktiker aus einem breiten Spektrum medizinischer Fachrichtungen gewonnen werden. Die Auswahl und Aufbereitung typischer Beispiele aus den jeweiligen internetbasierten Fehlermeldesystemen (paSOPS, jeder-fehler-zählt, cirsmedical usw.) erfolgt in Absprache mit den Moderatoren. Der schriftlichen Fallvorstellung sind Fragen nach Ursachen und komplementären Faktoren der Fehlerentstehung sowie nach möglichen Präventionsmaßnahmen angehängt. Dadurch wird die Diskussion der Studierenden strukturiert und der Prozess der Fehleranalyse in dem vom Aktionsbündnis für Patientensicherheit empfohlenen Vorgehen eingeübt. Das Spektrum der exemplarisch vorgestellten Risikosituationen reicht von der Hausärztlichen Versorgung über die großen klinischen Bereiche bis zu Aspekten der Geschlossenen Psychiatrie. Als Vertreter ihrer Disziplin ist es den moderierenden Ärzten so möglich, konkret auf die Gesetzmäßigkeiten der Fehlerentstehung sowie auf die Spezifika ihrer Fachrichtungen einzugehen.

Durch diese direkte Verzahnung von Theorie und Praxis können die Seminarteilnehmer zuvor eingeführte theoretische Begriffe und Konzepte unmittelbar anwenden und deren Relevanz in der Praxis selbst überprüfen.

Wichtige Bestandteile des Lehrangebots sind, in Anlehnung an die Theorie der kategorialen Bildung nach Klafki [11], [10], die Exkursion in die Transfusionsmedizin zur exemplarischen Darstellung grundlegender Probleme der Arzneimittelsicherheit in der Praxis und das Expertengespräch zur Vermittlung eines Verständnisses für die Entstehung von Gewalt gegen Patienten.

In der dritten Lernphase erarbeiten die Studierenden übergreifende Themenkomplexe auf der Basis sozialpsychologischer, medizinethischer und soziologischer Theorien und Befunde. Mit Themen wie Kommunikative Grundlagen, Soziale Wahrnehmung oder Persönlicher Umgang mit Fehlern soll die Introspektionsfähigkeit und Selbstkritik der angehenden Ärzte geschult werden, um so psychischen Belastungen im Vorfeld oder in der Folge unerwünschter Ereignisse adäquat begegnen zu können [18]. Konkret bedeutet dies, sich der eigenen Werte und Einstellungen bewusst zu werden, assistierende Angebote und Möglichkeiten, z. B. die Arbeit von Ethik-Komitees und Maßnahmen der Burnout-Prävention, kritisch zu prüfen und bekannten Phänomenen wie die fehlerhafte Zuschreibung von Eigenschaften (Vorurteile und Stereotype) und Wahrnehmungsverzerrungen durch gruppendynamische Prozesse entgegen zu arbeiten. Übergreifendes Ziel dieser Themensetzung ist die Festigung der für medizinethische Entscheidungen notwendigen Grundlagen bei den Studierenden.

Mit der ergänzenden Verwendung literarischer Zeugnisse von Ärzten (P. Bamm, M. Bulgakow) sollte bei der Vermittlung dieser ernsten und kritischen Thematik zudem eine ästhetische Ebene des Lernens angesprochen werden [16], [17].

Den obligaten Leitungsnachweis hatten die Studierenden in Form eines Referates oder einer schriftlichen Fallbesprechung zu erbringen.


Ergebnisse

Lernerfolg und Ergebnisse der Evaluation

Zum Semesterbeginn (t0) wurden die Studierenden mittels eines Fragebogens zu Vorwissen, Einstellungen und selbsteingeschätzten Kompetenzen hinsichtlich der Patientensicherheit befragt [7], [9]. Mit dem gleichen Instrument wurde zum Ende des Semesters (t1) eine erneute Befragung durchgeführt und Änderungen mittels Mittelwertvergleich (T-Test bei abhängigen Stichproben) gemessen. Erhebliche Schwierigkeiten bereitete die Operationalisierung des Kompetenz-Konzeptes angesichts des Querschnittcharakters des Themas. Aus Mangel an bewährten Instrumentarien wurden sachliche und soziale Kompetenz im Bereich Patientensicherheit als Selbsteinschätzung des thematischen Wissens, als Erkennen von Risikosituationen und als Informationsverhalten in uneindeutigen Situationen erfasst (vergleiche Abbildung 2 [Abb. 2]). Auf einer Skala mit sechs Ausprägungen schätzten die Studierenden ihr Wissen zur Patientensicherheit und ihre Kompetenz im Erkennen von Risikosituationen am Semesterende um 1,7 bzw. 2,7 Stufen – und damit signifikant – höher als zu Beginn des Kurses ein. Lediglich beim Aspekt „Kommunikation in Risikosituationen“ war der Effekt schwach und nicht signifikant, wobei innerhalb der Gruppe von vornherein eine hohe Bereitschaft dazu bestand, sich in fraglichen Situationen weitere Informationen zu beschaffen.

Für die Lehrevaluation wird ein aus einem Didaktikseminar heraus entwickelter Fragebogen verwendet, der Indizes für Konzeption, Durchführung und Lerneffekt erfasst. Dieses Instrument lässt sich leicht an verschiedene Lehrprojekte anpassen (z.B. Die Trainingsziele der Übungen / der Fallbeispiele waren klar erkennbar).

Erfreulicherweise evaluierten die Studierenden das Lehrangebot insgesamt mit gut (1,5). Für Durchführung (Bewertung des Kursleiters) und Lerneffekt vergaben die Kursteilnehmer jeweils 1,5 (alle Werte abgerundet; siehe Abbildung 3 [Abb. 3]).

Großen Anklang fanden die praktischen Anteile des Seminars wie die Fallbesprechungen mit erfahrenen Klinikern und Praktikern (Trainingsziele der Fallbeispiele wurden erreicht: 1,3; Bearbeitete Fallbeispiele sind hilfreich für zukünftige ärztliche Tätigkeit: 1,0) sowie Exkursion und Expertengespräch (Exkursion & Expertengespräch als sinnvolle Ergänzung: 1,2).

Der Erfolg der Fallbesprechungen lässt sich aus den Antworten auf die offenen Fragen herauslesen. So gaben die Teilnehmer an, dass die Fallbeispiele gut gewählt seien, um das Thema Patientensicherheit zu vermitteln, dass die Gespräche mit Ärzten gut geeignet seien, um einen Eindruck von der Vielfalt und spezifischen Fehlerproblematik in den unterschiedlichen Disziplinen zu vermitteln und dass durch diese Kombination von Theorie und Praxis unmittelbare Zusammenhänge verdeutlichen werden konnten.

Ungeachtet der Präferenz für Seminaranteile mit eindeutigem Praxisbezug äußerten die Studierenden in offenen Fragen mehrfach ein großes Interesse für sozialwissenschaftliche Themen, die scheinbar keinen direkten medizinischen Bezug haben – wie z.B. soziale Wahrnehmung, Kommunikation oder persönlicher Umgang mit Fehlern. Kritisch kommentierten sie hingegen die Terminierung des Seminars nach 17:00 Uhr.


Diskussion

Bei der geringen Fallzahl müssen die vorliegenden Ergebnisse zurückhaltend interpretiert werden. Hinzu kommt, dass die Evaluation nur mehr auf der Lernzufriedenheit der Studierenden hinsichtlich der Aspekte Konzeption, Durchführung und Lerneffekt sowie der Selbsteinschätzung ihrer erworbenen Kompetenzen beruht. Damit wird das grundsätzliche methodische Problem berührt, wie ein Lernerfolg, der z.B. in der Vermeidung Unerwünschter Ereignisse besteht, positiv zu beschreiben, geschweige denn zu messen sei.

Der Umgang mit Unerwünschten Ereignissen in der medizinischen Behandlung und ihre Vermeidung erfordern Wissen und Erfahrung, aber auch Intuition und entsprechende persönliche Einstellungen. Das beschriebene Lehrprojekt trägt diesen Erfordernissen mit medizinischen, sozialpsychologischen und organisationssoziologischen Themen, und mit einer engen Verknüpfung von theoretischen Inhalte und klinisch-praktischen Erfahrungen, Rechnung.

In Anbetracht der allgemeinen Akzeptanz auch solcher Lerninhalte aus dem Bereich der Sozialpsychologie und angesichts des Umstandes, dass das Thema Patientensicherheit eine wachsende gesellschaftliche und gesundheitspolitische Aufmerksamkeit erfährt, erscheinen derartige Lehrmodule als konkrete Chance, Studierende an bisher wenig beachtete Inhalte heranzuführen und ihr kritisches (Selbst-)Verständnis zu schärfen.

Die unglücklich zu nennende Wahl des Veranstaltungszeitpunktes in den frühen Abendstunden verweist auf das Dilemma der Patientensicherheit. Einerseits erfährt das Thema eine breite Akzeptanz, andererseits lassen sich konkrete Maßnahmen in der Praxis oftmals nur bei ausdauernder Beharrlichkeit langsam umsetzen; einerseits könnte eine Terminierung der Lehrveranstaltung während der Regelarbeitszeit zu einem verbesserten Bewusstsein hinsichtlich des Themas führen, andererseits wirft genau dieser Punkt Probleme bei der gewünschten Einbindung von Klinikern in die Lehre auf. Derartige Schwierigkeiten dürften zumindest teilweise dadurch begründet sein, dass das Thema Patientensicherheit gegenwärtig noch nicht zu den klassischen Bestandteilen des Curriculums zählt und von daher nicht in den Kernzeiten angeboten werden kann.

Ausnahmslos stimmten die Teilnehmer in der abschließenden Diskussion darin überein, dass das Thema in das Gesamtcurriculum der medizinischen Lehre einzubinden sei. Meinungsverschiedenheiten ergaben sich in der Frage, wie das Thema Patientensicherheit in das Curriculum integriert werden könnte, ohne den Charakter einer prüfungsrelevanten Pflichtveranstaltung zu bekommen und somit allein aus extrinsischer Motivation belegt zu werden. Realistisch betrachtet wird eine Verankerung des Faches Patientensicherheit im Kerncurriculum der medizinischen Ausbildung jedoch nur auf diesem Wege zu erreichen sein.

Gerade die klinischen Fallbesprechungen machten deutlich, dass Fehler zumeist an den Übergängen zwischen Systemen und Bereichen entstehen, und der Verbesserung der Patientensicherheit nur durch ein Zusammenwirken aller in der medizinischen Versorgung tätigen Berufsgruppen Rechnung getragen werden kann.

Anzumerken ist allerdings auch, dass es sich bei den Seminarteilnehmern möglicherweise um eine „selektive“ Gruppierung handelt, die dem Problem Patientensicherheit eine besondere Bedeutung beimisst und in ihrer Interessenlage und ihren positiven Einschätzungen möglicherweise nicht repräsentativ für das Kollektiv der Medizinstudierenden ist. Die Entscheidung für die Teilnahme am Seminar ist allerdings auch von äußeren Aspekten, wie der Schwerpunktsetzung im Qualifikationsprofil und alternativen Lehrangeboten, abhängig.


Schlussfolgerung

Das Thema Patientensicherheit geht weit über den Umfang eines Lehrprojekts hinaus – es handelt sich de facto um ein lebenslanges „Projekt“ in der persönlichen Verantwortung aller in der medizinischen Versorgung Tätigen. Umso wichtiger ist die frühzeitige Vermittlung bzw. der Erwerb der dazu notwendigen Kenntnisse und Kompetenzen. Die Dynamik des medizinisch-technischen Fortschritts und der gesundheitspolitischen Erfordernisse führt zu erhöhter Komplexität in den Organisationsabläufen, die nur durch eine theorie- und praxisverzahnte Ausbildung kontrolliert werden kann. Die Nachhaltigkeit derartiger Lehrmodule ist nur langfristig und bei Zugrundelegung großer Fallzahlen überprüfbar, d.h. Verhaltensänderungen zugunsten einer verbesserten Patientensicherheit wären insbesondere an entsprechenden Outcomes in der Praxis zu messen. Der Wert des vorgestellten Lehrkonzepts liegt somit vor allem darin, zu zeigen, dass bzw. wie das Interesse der Studierenden für die Patientensicherheit geweckt werden kann und welch großes Potential das Themenfeld in lehr- und berufsdidaktischer, aber auch in gesundheitspolitischer Hinsicht bietet. Einen deutlichen Hinweis hierauf liefert die Tatsache, dass 85% der Teilnehmer angaben, das Thema Patientensicherheit vertiefen zu wollen.


Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenskonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


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