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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Eckhard Frick (unter Mitarbeit von Harald Gündel): Psychosomatische Anthropologie. Ein Lehr- und Arbeitsbuch für Unterricht und Studium

Buchbesprechung/book report Humanmedizin

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GMS Z Med Ausbild 2009;26(4):Doc37

doi: 10.3205/zma000630, urn:nbn:de:0183-zma0006302

Eingereicht: 14. August 2009
Überarbeitet: 19. August 2009
Angenommen: 19. August 2009
Veröffentlicht: 16. November 2009

© 2009 Rimpau.
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Bibliographische Angaben

Eckhard Frick (unter Mitarbeit von Harald Gündel)

Psychosomatische Anthropologie - Ein Lehr- und Arbeitsbuch für Unterricht und Studium

Kohlhammer, Stuttgart

Seitenzahl: 237; € 19,90

Erscheinungsjahr: 2009; ISBN13: 978-3-17-030337-2237-2


Rezension

Die Alterung medizinischen Wissens wird gegenwärtig mit einer Halbwertszeit von 4 bis 5 Jahren angegeben. Aktuelle Lehr- und Fachbücher gelten dann als modern und evidenzbasiert, wenn sie allein wissenschaftliche Literatur nach dem neuesten Stand berücksichtigen. So finden sich kaum mehr Rückbezüge und Zitate, die älter als fünf Jahre sind; weil nicht mehr gültig? veraltet? überholt? Kann es nicht doch so sein, dass die Altvorderen und Wegbereiter der heute praktizierten Medizin etwas zu sagen haben, was (noch) immer gilt? Ist die Frage nach dem Menschsein in Gesundheit und Krankheit Moden unterworfen? Sind ältere Analysen und Erkenntnisse nur deswegen unmodern und nicht mehr aktuell, weil Jahrzehnte, gar Jahrhunderte alt?

Bei der Anthropologie geht es um unsere Wurzeln. Der Mensch als „Forschungs-Gegenstand“ bedarf eines gemeinsamen Fundaments. Es gilt Krankheiten vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte und der psycho-sozialen Rahmenbedingungen zu verstehen. Die gesamte Medizin braucht mehr Synergien zwischen der psychosomatischen und Organ-Medizin einerseits und den Naturwissenschaften, den Geisteswissenschaften, der Ökonomie, der Politik. Die Frage nach dem Wesen des Menschen bleibt in der Medizin unbeantwortet. Dennoch scheint es, als stecke hinter der evidenzbasierten Medizin eine implizite Anthropologie, die den Menschen eher als „Maschine mit Bedürfnissen“ sieht. Zu den Fundamenten unserer Geistesgeschichte gehört vor allem auch die Auseinandersetzung mit der Frage `was ist der Mensch´. Kants Fragen, was kann ich wissen? was soll ich tun? was darf ich hoffen? gilt es mit dem zu verknüpfen, was heute aktuell ist, mit der Neurobiologie und den qualitativ-verstehenden und quantitativ-messenden Zugängen. Wie können unsere impliziten Annahmen über den Menschen bewusst gemacht und reflektiert werden?

Dies sind die Grundlagen eines Gesprächs zwischen Eckhard Frick, Hochschullehrer für Philosophie, Lehranalytiker des C. G. Jung-Instituts und Jesuit in München und Harald Gündel, Psychoanalytiker und Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover. Ihre Überlegungen ersetzen das Vorwort. Es folgt eine „Gebrauchsanleitung“ für ihr in Lernmodulen gegliedertes Buch. Dieses möchte einen Beitrag zur philosophischen Grundlegung einer bio-psycho-sozial verstandenen Medizin und zur humanwissenschaftlichen Anwendung der philosophischen Anthropologie leisten. Es werden empirische Fakten dargestellt und auf philosophische Probleme hingewiesen, die mit ihnen verknüpft sind. Es wird deutlich gemacht, was die Medizin von einer medizinischen Anthropologie lernen kann.

Die 10 Kapitel bzw. Lernmodule behandeln Fragen zu Erfahrungen und Problemen, die jeder Mensch, ob gesund oder krank, macht. „Der sich bindende Mensch“ behandelt die lebenslange menschliche Entwicklung auf der Grundlage der heute als zentrales Paradigma der Verhaltenswissenschaften geltenden Bindungstheorie. „Der Zeichen verstehende Mensch“ untersucht Kausal- und Sinnzusammenhängen, die auf der genetischen Matrix aufbauend einer Bedeutungserteilung durch den Menschen bedürfen. „Der träumende Mensch“ fragt nach dem Unbewussten im Anschluss an Freud. Sind Arbeitsstörungen analog zu betrachten wie die Spielstörungen des Kindes fragt das Modul „Der spielende Mensch“. Im Anschluss an Kierkegaard wird „der sich ängstigende Mensch“ thematisiert. Mit der Geschichte Viktor von Weizsäckers vom Bauern, „dem es da im Leibe weh tut“, wird in die polare Betrachtungsweise von Körper und Leib eingeführt. „Der leidende Mensch“ greift Fragen auf, die Weizsäcker 1926 in seinem Aufsatz „Die Schmerzen“ in der KREATUR formulierte und die als erste Thematisierung der medizinischen Anthropologie in Weizsäckers Werk gelten. Dem „Ontischen“ mit der Seinsfrage Heideggers wird das „Pathische“ Weizsäckers gegenübergestellt. Im „pathischen Pentagramm“ – dürfen, wollen, können, müssen, sollen - wird Die-Erste-Person-Perspektive in der Arzt-Patient-Beziehung zur Ergänzung des objektivierenden Beschreibens auf der ontischen Ebene. Mit Weizsäckers „Gestaltkreis“ von der „Einheit von Wahrnehmen und Bewegen“ wird aus dem „Schlagwort“ von der „Einführung des Subjekts in die Medizin“ eine Theorie und Praxis der Begegnung von Arzt und Krankem. Ist der Mensch schuldfähig wird im nächsten Modul untersucht. Die Neurobiologie der reflexiven Emotionen, zu der neben Schuld auch Empathie und Scham gehören, wird mit der „Theory of Mind“ zum Lerngegenstand. Theologische Aspekte verdeutlichen den Zusammenhang von Schuld, Sünde und Krankheit. C. G. Jungs vier Funktionstypen, das Denken, Fühlen, Empfinden und Intuieren sind interne Instanzen, welche innere Wahrnehmung mit der Außenwahrnehmung in Einklang zu bringen suchen. Das Kapitel „Der trauernde Mensch“ greift die modernen Überlegungen zur Bindung (attachment) auf und fragt nach dem Abschied, nach der Lösung der Bindung. Das letzte Kapitel „Der lebendige Mensch“ macht Modelle zum Lernprogramm, welche die Sinnorientierung des Menschen und deren Gefährdung erfassen. Wie unterscheiden sich der personalistische Sprachgebrauch der Alltagssprache von F. Nietzsches Begriffe Ich – Selbst – Leib – Seele? Fichte als Repräsentant des deutschen Idealismus wird herangezogen. Nach S. Freud´s Instanzenmodell leidet das Ich unter seinen „Zwingherren“ Es und Über-Ich. Der kindliche Stolz des Ich-Sagens belegt die Annexion des Selbst durch das Ich. Kierkegaard, Nietzsche, Heidegger und Jung wie Vertreter der Postmoderne thematisieren die Brüchigkeit und Verlierbarkeit der Identität. Eine lineare Kausalität der gängigen Pathogenese in der Biographik erweitert Weizsäcker mit dem Konzept des „ungelebten Lebens“ und Jung mit dem „Schatten-Archetypus“. Beide meinen damit die Frage nach der Summe der ungelebten Möglichkeiten des jeweiligen individuellen Lebens, welche nur schwer akzeptiert werden oder gar krank machen. Die nicht realisierten Aspekte seiner selbst gilt es loszuwerden, zu „projezieren“, zu verdrängen. Diese verborgene Biographik wird Teil der Analyse der Pathogenese.

Als Lehr- und Arbeitsbuch fordert Fricks Psychosomatische Anthropologie den Hochschullehrer auf, seinen Studenten das spezifische klinische Fach als Teil einer „Allgemeinen Medizin“ zu präsentieren. Viktor von Weizsäcker wurde 1946 auf das persönliche Ordinariat für „Allgemeine klinische Medizin“ in Heidelberg berufen (vgl. die Buchbesprechung zu Deter in Z f med Ausbild 2008; 25, 3). Er vertrat die Auffassung, dass damit nicht ein neues umfassenwollendes Fach für die Prüfung angelegt wird, sondern die „Schulmedizin“ in ihren Grundlagen und Grenzen erweitert wird. Es galt (und gilt noch heute) einen „nivellierenden Positivismus“, eine „reine Tatsachenforschung“, die eine Beschränkung auf ein Einzelgebiet erfordere, zu überwinden. Mit der „Einführung des Subjekts in die Wissenschaft“ meint Weizsäcker die Anerkennung unterschiedlicher Erkenntnisse in den Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften und Psychologie. Dadurch kann die das Subjekt des Kranken ausklammernde empirische Naturforschung erweitert werden um eine „allgemeine Lehre vom kranken Menschen“. Genau diesem Anliegen dient auf vorbildhafte Weise das vorliegende Buch.

Der Medizinstudent, lässt er sich Dank der didaktisch hervorragenden Führung auf diesen Lernprozess ein, wird den Sinn seines Studiums begreifen. Durch Schulung seines Denkens wird er vom Allgemeinen zum Speziellen geführt und nicht allein gelassen in der Addition unzusammenhängend erscheinenden Faktenwissen in den medizinischen Einzeldisziplinen.

Jedem Kapitel, jedem Modul, ist ein Lernziel vorangestellt. Zunächst wird ein Basistext studiert, der in die Thematik des Kapitels einführt, Orientierung und Konzentration auf das Wesentliche verschafft. Es folgen Details und Literaturübersichten, die das Einzelstudium, die Diskussion in der Lerngruppe, den kollegialen Austausch und die Prüfungsvorbereitung erleichtern. Die Gliederung und Inhalte der Module erleichtern den jeweils eigenen Weg nach Interesse baukastenartig zusammenzustellen. Fragen zur Selbstkontrolle besorgen das notwendige Feedback. Ein ausführliches Stichwortverzeichnis (ein Personenverzeichnis fehlt leider) erleichtert die Arbeit mit diesem Buch. Zu hoffen bleibt, dass das ausführliche Literaturverzeichnis, welches nicht im Buch erscheint, sondern online bei Kohlhammer zugänglich ist, nicht auch den kurzfristigen Marktentscheidungen zum Opfer fällt, wie es mit der Online-Version (worauf Frick verweist) von Meyers Lexikon geschehen ist. Das dort lesenswerte Kapitel „Psychosomatik“ muss man nun wieder z.B. in der Staatsbibliothek studieren.

Die „Psychosomatische Anthropologie“ von Frick und Gündel füllt eine Lücke. Die notwendige Grundorientierung für das Medizinstudium ist jedem Studenten, jedem klinischen Hochschullehrer, jedem Studiendekanat, welches ein Teachers-Training moderiert, empfohlen. Mögen der hiermit eingeleitete Prozess des Nachdenkens über die Medizin Leser stimulieren und die Autoren erbetene Hinweise erhalten, die in folgenden Auflagen das Anliegen weitertragen im Interesse einer Reform nicht nur des Studiums sondern auch der Praxis der Medizin und der ihr dienenden Wissenschaft.