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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Roland Schiffter: Vom Leben, Leiden und Sterben in der Romantik. Neue Pathografien zur Romantischen Medizin

Buchbesprechung/book report Humanmediziin

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GMS Z Med Ausbild 2009;26(2):Doc16

doi: 10.3205/zma000608, urn:nbn:de:0183-zma0006088

Eingereicht: 8. November 2008
Überarbeitet: 19. Januar 2009
Angenommen: 19. Januar 2009
Veröffentlicht: 15. Mai 2009

© 2009 Rimpau.
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Bibliographische Angaben

Roland Schiffter

Vom Leben, Leiden und Sterben in der Romantik

Neue Pathografien zur Romantischen Medizin

Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann

ISBN: 978-3-8260-3868-6

180 Seiten, € 19,80

Erscheinungstermin: 2008


Rezension

Das empfehlenswerte Buch des Berliner Neurologen Schiffter gibt einen Überblick über Grundzüge und Besonderheiten der Romantischen Medizin und damit der vorwissenschaftlichen Heilkunde in der ersten Hälfte des 19. Jhts. Diese stützte sich auf die Hippokratische Säftelehre, das Brownsche Reiz-Reaktionskonzept, den tierischen Magnetismus von Messmer und Hahnemanns Homöopathie. Die Romantische Medizin gründet sich aber auch auf der Neigung damaliger Philosophen und Mediziner, alles menschliche Leben einschließlich des Krankseins in großen kosmischen, geistig-seelischen, psychosomatischen und physikalisch-materiellen Gesamtzusammenhängen zu sehen. Das Wesensmerkmal der Störung als den eigentlichen Sinn des Daseins überhaupt erkannt zu haben, insofern Leben als Pathos gesehen wird, ist ein Verdienst der Romantik, das sie grade der modernen funktional denkenden Medizin auf den Weg gegeben hat. Das Subjekt und der Biografie des Kranken mit ihren psychischen und sozialen Aspekten zu würdigen war ein Kennzeichen der Romantischen Medizin und wurde von Viktor von Weizsäcker (1886-1957) mit der anthropologischen Medizin aktualisiert.

Schiffters Berichte sind lebendige Kulturgeschichte und an Anekdoten reich und anschaulich bebildert mit didaktischem Geschick vorgestellt und ergänzen die Leibbrand´sche geistesgeschichtliche Analyse in seinem als Klassiker geltenden Buch `Die spekulative Medizin der Romantik´ (1956). Die Romantik und ihren Folgen für unsere Gegenwart findet mit den jetzigen Darstellungen vom Leben, Leiden und Sterben berühmter Menschen eine höchst ansprechende Ergänzung, die für jeden Medizinstudierenden die Geschichte unseres Faches zu einem spannenden Ausflug macht. „Die hilflos befangenen Ärzte … irrten ratlos durch einen diagnostischen Dämmerwald von allerlei Fiebern, Wechselfieber, Nervenfieber, kalten Fiebern, Faulfiebern, Nervenschwächen, Wassersüchten, Darren und Auszehrungen …“. Das Vertrauen in den Ärztestand war gering, Wunderheiler und Scharlatane zogen durchs Land und füllten ihre Beutel. Medizinische Moden weckten Hoffnungen, die sich nicht erfüllten. Badekuren erfrischten und enttäuschten, waren aber auch gesellschaftliche Höhepunkte im Leben „höherer Stände“. Anhand von Zeitdokumenten veranschaulichen die Krankengeschichten von Bettina und Achim von Arnim, Karl Friedrich Schinkel, Christiane von Goethe, E.T.A. Hoffmann, Robert Schumann und Heinrich Heine die Not, wenn sie mit Aderlässen, Abführmitteln, Brenneisen und künstlich unterhaltenen Eiterungen traktiert wurden. Bettina von Arnim wehrt sich erfolgreich. Sie selbst wurde 74 Jahre alt und starb infolge eines Schlaganfalls. Alle ihre sieben Kinder überlebten – ungewöhnlich für die Zeit. „Ich habe immer klüger gehandelt für die Gesundheit meiner Kinder, als die philisterhaften Ärzte … wenn ich denen hätte ängstlich folgen wollen, so hätten sie vielleicht auch ins Gras beißen müssen …“. Das Beispiel Schinkels kann Ärzte und Kranke gemahnen, jeglichen therapeutischen Aktionismus mit seinen Risiken zu meiden, jegliche Therapie immer wieder aufs Neue zu hinterfragen. „Heute sind andere Fehlleistungen der Ärzte und Fehlentwicklungen der Medizin zu beklagen: Viele überflüssige Operationen, viele überflüssige Medikamentenverordnungen, viele überflüssige und teure apparative Untersuchungen, der zunehmende Mangel an menschlicher Zuwendung und psychosomatischer Kompetenz der Ärzte, aber auch viele obskure Außenseitermethoden und Modeerscheinungen des modernen Medizin- und Wellness-Betriebes.“ „Die Wunde Heine, die Adorno beschwor, scheint immer noch offen zu sein“. Die einleitende Frage „Woran litt Heine?“ wird bündig beantwortet: „an Preußen-Deutschland, an seinem Judentum, an Migräne, an Liebesangst, an Neuro-Syphilis, an der Frage nach Gott.“ Robert Schumann litt nicht – wie gelegentlich und noch 2007 behauptet – unter der Syphilis, sondern unter einer relativ gutartigen Verlaufsform der Schizophrenie seit seinem 20. Lebensjahr.

Schiffter beschließt die Pathografien mit einer kurzen Vorstellung des Reformators Moritz Heinrich Romberg (1795-1873). Dieser gilt zu Recht seit seinem 1840 veröffentlichten „Lehrbuch der Nerven-Krankheiten des Menschen“ als der Begründer des Faches Neurologie in Deutschland. Als Fazit seines Buches formuliert Schiffter, dass „Ratio, also Aufklärung und Emotio, also Romantik in ein ausgewogenes Gleichgewicht gebracht werden müssen.“ Viktor von Weizsäcker wird, auch angeregt durch Leibbrands Darstellung, auf dem Weg zur Anthropologischen Medizin in der Romantik die Frage beantworten, „ob das organische Geschehen mit Seele oder ohne Seele zu denken ist, … ob die Wissenschaft von der Natur moralisch, sittlich bestimmt sein muß oder nicht, ob ihr das Anthropomorphe verwehrt ist oder ob ihr eigentlicher Gegenstand der persönliche Mensch sein muß.“

Bettina von Arnims Botschaft an den Leser dieses Buches lautet: „Selbst denken ist der höchste Mut, wer anfängt selbst zu denken, der wird auch selbst handeln“ – eine Empfehlung, die heute Grundlage jeder Reform des Medizinstudiums ist, will sie ernst genommen werden.