gms | German Medical Science

GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Plädoyer für eine Fortentwicklung der medizinischen Ausbildungsordnung im Spannungsfeld zwischen systematischer und praktischer Ausbildung

Pro and Cons for the development of medical education by incorporating more systematic teaching into the curriculum vs. small group education with patients

Kommentar/commentary Humanmedizin

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GMS Z Med Ausbild 2008;25(1):Doc72

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/journals/zma/2008-25/zma000556.shtml

Eingereicht: 25. September 2007
Überarbeitet: 10. Januar 2008
Angenommen: 10. Januar 2008
Veröffentlicht: 15. Februar 2008

© 2008 von Wichert.
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Zusammenfassung

Der Beitrag befasst sich mit der gegenwärtigen Approbationsordnung für Ärzte, die nach Auffassung des Autors nicht genügend systematische und wissenschaftliche Aspekte der Medizin beachtet, und zu großen Wert auf eine praktische Ausbildung in Kleingruppen legt. Im Gegensatz zu einer sog. praktischen Ausbildung setzt eine wissenschaftliche, systematische Ausbildung die späteren Ärzte in die Lage zukünftige Entwicklungen der Medizin kritisch in ihr Wissen zu integrieren, und ist durch die Erziehung zum kritisch-wissenschaftlichen Denken ein direkter Sicherheitsfaktor für die Patienten.

Schlüsselwörter: Approbationsordnung, praktisch-klinischer Unterricht, wissenschaftliches Denken, Universität versus Fachschule

Abstract

This paper deals with current medical education in Germany which is thought to be too much directed to so-called practical aspects. Particularly learning in small groups is unproductive, because the teaching personnel is not experienced enough to guarantee a high level of education. The author puts forward that it is much more important to teach the scientific foundations of medicine to prepare physicians for the developments of medical science in the future.

Keywords: Academic medical education, scientific education in medicine, undergraduate education in medicine, examination in medicine


Standpunkt

Die moderne Medizin zeichnet sich durch eine zunehmende Übereinstimmung der methodisch-wissenschaftlichen Ansätze in den unterschiedlichen Fächern der Medizin aus. Statistische Methoden sind den operativen und den psychiatrischen Fächern ebenso zuzuschreiben wie etwa experimentellen Ansätzen in der medizinischen Grundlagenforschung. Molekularbiologische und immunologische Verfahren werden in der Inneren Medizin wie auch in der Virologie oder der Pathologie eingesetzt. In der Krankenversorgung dagegen wird die praktische Vorgehensweise in den verschiedenen Spezialitäten immer differenzierter. Die orthopädische Chirurgie kann von einem Viszeralchirurgen nicht mehr ausreichend beherrscht werden, der gastroenterologische Internist kann zwar endoskopieren, ist aber nicht mehr dazu ausgebildet interventionelle Verfahren am Herzen auszuführen, und der Psychiater wird kaum noch ein Röntgenbild beurteilen können. Dennoch beziehen sich alle auf die gleichen wissenschaftlichen Grundlagen des Fachs. Die Entwicklung der Medizin hat in den letzten zwei- bis drei Jahrzehnten zu neuen Berufswirklichkeiten geführt, und dieser Prozess wird weitergehen. In der Überzeugung des Verfassers müssen diese Vorgänge eine nachhaltige Veränderung der Ausbildungsinhalte während des Studiums nach sich ziehen, um die Auszubildenden in die Lage zu versetzen, den Anforderungen ihres Berufes in einer in Zukunft sich weiter ändernden Medizin gewachsen zu sein. Das ist gegenwärtig nicht mehr durchgehend garantiert. Es scheint an der Zeit, sich erneut mit den Ausbildungszielen des Medizinstudiums zu beschäftigen, da nach Auffassung vieler Hochschullehrer die Fassung der ÄAppO 2002 zu einem kritischen Niveauverlust in der Ausbildung der Medizinstudenten geführt hat, mit erheblichen Konsequenzen für die Qualität des zukünftigen Gesundheitswesens.

In der ÄAppO 2002 wird formuliert: „Ziel der ärztlichen Ausbildung ist der wissenschaftlich und praktisch in der Medizin ausgebildete Arzt, der zur eigenverantwortlichen und selbstständigen ärztlichen Berufsausübung, zur Weiterbildung und zu ständiger Fortbildung befähigt ist.....“ Die Ausbildung zum Arzt wird auf wissenschaftlicher Grundlage und praxis- und patientenbezogen durchgeführt.

Mit dieser Zielvorgabe wird dem Medizinstudium zwar eine wissenschaftliche Grundlage unterstellt, aber besonders deutlich die praktische Seite der ärztlichen Arbeit hervorgehoben, wie sich auch aus den anschließend aufgeführten Detailzielen ergibt (ÄAppO 2002). Ein Grundlagenwissen reicht allerdings in einer modernen, naturwissenschaftlich geprägten Medizin nicht aus. Vorherige Bestallungs- bzw. Approbationsordnungen waren vorsichtiger. Die Bestallungsordnung vom 15.9.1953 sagt in § 3 einfach und klar: Das Ziel der ärztlichen Ausbildung ist die Heranbildung eines zur Erfüllung seiner Aufgaben befähigten Arztes. Die Approbationsordnung vom 28.10.1970 beschreibt keine Ziele, sondern sagt in §2 nur, dass die Hochschule dem Studierenden die Kenntnisse vermitteln muss, die er für die Prüfungen benötigt.

Ein Charakteristikum der Medizin als Fach ist die gegenseitige Abhängigkeit von wissenschaftlicher Systematik und praktischem Handeln, die sich bedingen und nicht voneinander getrennt werden können. Das haben Studienordnungen zu berücksichtigen. Ein Weglassen der systematischen Ausbildungsanteile führt in ein Fachschulniveau, ein Weglassen der praktischen Anteile und der Untersuchungstechniken in der Ausbildung führt im weitesten Sinn zur Unfähigkeit des Arztes, mit dem Patienten Kontakt aufzunehmen. Die Approbationsordnungen müssen dieser Doppelgleisigkeit gerecht werden. Bis etwa Mitte der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurde die Systematik der Medizin „konventionell“ in Vorlesungen vermittelt, wobei diese in erster Linie dazu dienten, die Prinzipien und die Krankheitslehren der einzelnen Fächer darzustellen, vor allem aber auch den Umgang mit den Patienten. Die klinische Praxis erhielten die Studierenden zusätzlich während ausgedehnter Famulaturen, die ihnen die Gelegenheit gaben, die theoretischen Kenntnisse in der Betreuung von Patienten anzuwenden, wobei das Entscheidende war, dass Famulaturen von 4-8 Wochen auch ermöglichten, Krankheitsverläufe zu beobachten. Durch gute theoretische Kenntnisse als Basis konnten die Studenten aus den Famulaturen erhebliche Erfahrungen ins Studium zurück mitnehmen. Diese Ausbildung war derart, dass nicht wenige Studenten der letzten Semester ohne weiteres einen praktischen Arzt vertreten konnten.

Das Staatsexamen war in jedem einzelnen Fach abzulegen, auch in den sog. kleinen Fächern, in Innerer Medizin, Chirurgie und Frauenheilkunde zu separaten Terminen bei jeweils mindestens zwei unabhängigen Prüfern (s. Bestallungsordnung, 1953). Diese Form der Examina gab den Studenten Gelegenheit am Ende des Studiums die gesamte Medizin, auch die weniger im eigenen Fokus stehenden Fächer, noch einmal, sozusagen epikritisch, zu überarbeiten und so mit einer breit angelegten Kenntnis in den Beruf zu starten.

Von wenig sachkundiger Seite wurde seinerzeit bemängelt, dass das System zu wenig „praxisbezogen“ sei. Zunächst versuchten die Universitäten mehr Patientenkontakte im Rahmen sog. praktisch-klinischer Unterrichtseinheiten ins Studium zu integrieren. Mit der Fassung der Approbationsordnung von 1970, welche die jahrzehntelang geübte Staatsexamensprüfung abschaffte und durch eine Kollegialprüfung ersetzte, nahm der praktische Unterricht eine zunehmende Bedeutung ein, bis hin zur jetzigen Approbationsordnung, die den Schwerpunkt der Ausbildung ganz auf die praktischen Kurse am Krankenbett legt und auf eine systematische Wissensvermittlung durch Vorlesungen z. T. ganz verzichtet, diese jedenfalls aus den Pflichtveranstaltungen entfernt. Ein Blick in die Studienordnungen der Medizinischen Fakultäten in der Bundesrepublik zeigt, dass bei einem Viertel der Fakultäten keine systematischen Ausbildungsinhalte mehr angeboten werden, sondern der zeitliche und thematische Schwerpunkt im Kleingruppenunterricht am Krankenbett liegt, durchgeführt zumeist von Assistenten, und dass lediglich „begleitende“ oder „ symptombezogene“ Vorlesungen gehalten werden.

Die nur kurzen Patientenkontakte, die ein solches System während des praktischen Unterrichts nur erlaubt, machen es den Studenten mindestens sehr schwer wenn nicht unmöglich, den Patienten und dessen Probleme wirklich umfassend zu begreifen. Es ist didaktisch wertlos, wenn Studenten in der klinischen Ausbildung einmal pro Woche in der Inneren Medizin einen Patienten für 45 Minuten untersuchen können, noch dazu ohne die entsprechende Untersuchungs- und Anamnesetechnik zu beherrschen; es ist auch ein „Missbrauch“ der Patienten. Der Eindruck bleibt im besten Fall „kasuistisch“, zumeist aber ohne weitere Konsequenzen, weil die gedankliche Vorbereitung darauf nicht stattgefunden hat. Es ist ein grundlegender Irrtum, wenn man annimmt, dass man einem Medizinstudenten während der 5 Jahre des Studiums, auf dem jetzt gepflogenen Weg im klinischen Studium irgend etwas Grundsätzliches beibringen kann, was über sein ganzes Berufsleben hinweg praktisch anwendbar und verwertbar sein könnte. Das aber ist der Sinn eines akademischen Studiums, die Fähigkeit zur kritischen und selbstständigen Beurteilung des Fachs zu vermitteln und in der Lage zu sein, künftige Befunde kritisch in den eigenen Wissensbestand zu integrieren.

Selbstverständlich müssen die Studierenden praktische Kenntnisse, z.B. in Anamnese- und Untersuchungstechnik vermittelt bekommen, hiefür gibt es erprobte Ausbildungsverfahren, die allerdings derzeit nur selten eingesetzt werden. Viel wichtiger für die Entwicklung eines Verständnisses eines Fachs ist aber die Einweisung in die Systematik des Fachs, bzw. der einzelnen medizinischen Fächer. Anders kann auf Änderungen im wissenschaftlichen und praktischen Umfeld, die sich in der Zukunft mit Sicherheit ergeben werden, nicht kritisch reagiert werden. In einer Zeit rasanter Neuentwicklungen in der Medizin und der Erneuerung unseres Wissens in immer kürzeren Abständen kommt es in der Ausbildung vor allem darauf an, ein prinzipielles Verständnis der Fächer der Medizin und ihrer Basis zu vermitteln um gerade eine kritische Anpassungsfähigkeit, und nicht eine durch einfache Werbung getriebene Hinwendung an Neuentwicklungen zu ermöglichen. Viel weniger wichtig ist es, bestimmte praktische Techniken zu erlernen, die sowieso einem ständigen Wechsel ausgesetzt und zudem Gegenstand der Weiterbildungsordnung sind.

In einer systematischen klinischen Ausbildung wird das Denkschema und das wissenschaftliche System, in welchem der betreffende Patient zu sehen ist vermittelt, und das klinische Fallproblem in einen größeren Zusammenhang eingeordnet, was beim Kleingruppenunterricht mit wechselndem Lehrpersonal unmöglich ist. Erschwerend kommt beim verordneten Kleingruppenunterricht hinzu, dass die Qualität der Lehrenden naturgemäß höchst unterschiedlich ist, weil viele junge, noch unerfahrene Kollegen die Lehre abhalten, sodass selbst an einer Fakultät das Ergebnis der Ausbildung sehr unterschiedlich ausfallen kann, in Abhängigkeit von der Zufälligkeit des Lehrpersonals. Eine Garantie für ein gutes Ausbildungsergebnis, früher gewährleistet durch die Berufungspolitik der Fakultät, kann diese heute nicht mehr geben. Schon gar nicht lässt sich eine nur annähernd gleichmäßige Ausbildung über die Bundesrepublik auf diesem Wege erreichen.

Am bedeutsamsten ist aber die Einschränkung bzw. der Verlust der Systematik in der Ausbildung. Wenn die wissenschaftlichen Grundlagen der Fächer nicht vermittelt werden, kann in den Studierenden auch kein Interesse für die medizinische Wissenschaft an sich wachsen, was an dem nachlassenden Interesse für eine spätere wissenschaftliche Beschäftigung abzulesen ist, und schon jetzt den medizinisch-theoretischen Fächern Nachwuchssorgen bereitet. Die nicht unwesentlichste Konsequenz daraus ist, dass den Studierenden auch die Bedeutung des wissenschaftlichen Denkansatzes für das Fach Medizin nicht mehr klar wird und sich das Bewusstsein nicht entwickeln kann, durch eigene wissenschaftliche Arbeit zur Vermehrung der allgemeinen Kenntnisse beizutragen. Die abnehmende Zahl an Doktoranden ist hierfür ein beunruhigendes Signal, wobei auch die erschwerten Zeithorizonte durch die ÄAppO zu berücksichtigen sind. Hier ergeben sich erhebliche Konsequenzen für die Zukunft der Medizin, aber auch für den Wissenschaftsstandort Deutschland insgesamt.

Interesse für Wissenschaft entsteht nur in einem wissenschaftsbezogenen Studium, dort wo auf die Bedeutung von Wissenschaft für die Realisierung täglicher Probleme hingewiesen wird und offene Fragen des Gebietes dargestellt werden können, sodass sich beim Lernenden eigene Fragen bilden können und das Interesse für deren Lösungen erwacht. Wenn ein Fach nur noch in fraktionierten Einzelerfahrungen erlebt werden kann, die sich dank ggf. vorhandener Leitlinien auch ohne eine Beachtung von fachspezifischen, wissenschaftlichen Prinzipien bearbeiten lassen, erlahmt die für die Wissenschaft notwendige Neugier, weil der Eindruck einer vollständig gelösten Problematik entsteht. Vor allem aber leidet die Sicherheit für die Patienten, weil diese nur noch als Schema-Fall begriffen werden können, und eine Abweichung vom Schema vom Studierenden, aber auch später vom Arzt, nicht erkannt werden kann, da die Grundlageprinzipien nicht gewusst werden. Da die Einsicht in die Grundsätze der Medizin fehlt, wird eine ggf. vorhandene Unsicherheit nicht erkannt, und differentialdiagnostische oder differentialtherapeutische Überlegungen unterbleiben, weil die Ausbildung sich nur auf einige Symptomenkomplexe bezog. Für die sog. Lotsenfunktion von Allgemeinärzten, bzw. für deren Patienten wäre diese Situation deletär.

Die medizinische Ausbildung ist an vielen Stellen in der Bundesrepublik Deutschland in diese „ Praxisfalle“ geraten. Keinem würde einfallen einem Physiker nur beizubringen, Werte von einem Voltmeter abzulesen ohne zu wissen oder zu begreifen, welche physikalischen Prozesse sich hinter diesem Vorgang verbergen. Das ist aber das Ergebnis der an sog. „praktischen“ Gesichtspunkten ausgerichteten Ausbildungsordnung. Es ist eine „kasuistische“, keine wissenschaftsbezogene, mithin eine Fachschul- Ausbildung. Dass ein derartiges System nur wenig Positives zu leisten imstande ist, ist aus dem Ausbildungssystem der ehemaligen Sowjetunion zur Genüge bekannt. Die ehemalige DDR hat ein solches System nie akzeptiert. Diese „Entakademisierung“ der Ausbildung zum Arzt ist deswegen ein sehr problematischer Weg, weil die Schulung zur Kritikfähigkeit unterbunden wird, die eines der wichtigsten Merkmale eines verantwortungsvollen Umganges mit den Patienten und der medizinischen Wissenschaft ganz allgemein ist.

Auf dem Hintergrund der nicht zuletzt durch den Sachverständigenrat geförderten Diskussion um eine Neuverteilung der Aufgaben im Gesundheitswesen ist ein Verlust der Wissenschaftlichkeit des Medizinstudium und seiner Hinwendung zu mehr „Praxisnähe“ aus weiteren Gründen nachhaltig zu hinterfragen [1]. Wenn sich die „Akademisierung“ der Ausbildung der ärztlichen Hilfsberufe weiter fortsetzt, wird eine mögliche Angleichung der Ausbildungsgänge die Situation schaffen, dass durch die „Entakademisierung“ der Ausbildung zum Arzt, Medizin als Wissenschaft in der regulären Ausbildung der Studierenden nicht mehr vorkommt. Dann werden ggf. nur noch Naturwissenschaftler den wissenschaftlichen Part in der Medizin übernehmen können, die Ärzte aber nur einen Part im allgemeinen Pflegespektrum. Ein Fachschulniveau kann im Interesse der Patienten aber nicht gewünscht sein, weil die Kritikfähigkeit des Arztes eines der wichtigsten Merkmale eines verantwortungsvollen Umgangs mit den Patienten und die Hauptgarantie für deren Sicherheit ist, und diese wird nur in einem wissenschaftsorientierten Studium vermittelt. Ebenso wie die Rechtspflege nicht in die Hand von Rechtsberatern, sondern in die von Juristen gehört, gehört die Betreuung und Behandlung von Patienten in die Hand eines wissenschaftlich ausgebildeten Arztes. Die Universitäten bzw. Fakultäten sollten sich im eigenen Interesse intensiv mit diesen Problemen beschäftigen, um das Abgleiten der Ausbildung zum Arzt in ein zweitrangiges Niveau zu vermeiden.

Ein erhebliches Problem der gegenwärtigen Approbationsordnung ist, ebenso wie bei der vorherigen, die Art der Staatsexamenprüfungen. Durch die Organisation der Kollegialprüfung wissen die Kandidaten bereits vor der Prüfung, in welchen Fächern sie geprüft werden. Alles andere wird dann ausgeklammert, was bewirkt, dass Medizin nur noch segmental beherrscht wird. Daran kann auch der schriftliche Teil der Prüfung, ggf. mit Fallbeispielen nichts ändern, die notgedrungen statischen Charakter haben und dem dynamischen Anspruch der medizinischen Wissenschaft nicht gerecht werden können. In der DDR ist bis zur Wende das Examen in Einzelprüfungen in den Fächern der Medizin durchgeführt worden, in der wohlüberlegten Auffassung, damit eine bessere Wissenskontrolle zu ermöglichen.

Die Einführung von neuen Studiengängen oder Modellstudiengängen an einzelnen Universitäten ist zudem problematisch, da über ihren „Wert“ keine Aussage gemacht werden kann, jedenfalls nicht in absehbarer Zeit. Berechnungen, wie sie zur leistungsorientierten Mittelvergabe in der Lehre angegeben werden [2], sind dafür ebenso ungeeignet wie eventuell dafür heranzuziehende Staatsexamensergebnisse. Sie eignen sich deswegen nicht für eine Beurteilung der Qualität der Ausbildung, weil das Studium eines wissenschaftlichen Faches sein Ziel nicht im Examen hat, sondern in der Fähigkeit im Fach später entsprechende Leistungen zu erbringen. Das bedeutet, dass nur das Resultat der Berufstätigkeit derjenigen, die in einem „Reformstudiengang“ oder in jedem anderen Studiengang ausgebildet worden sind, geeignet sein könnte, den Wert dieses Ausbildungssystems zu erkennen. Da es Jahrzehnte für diese Erkenntnisse bräuchte und diese wahrscheinlich nie gehoben werden dürften, ergibt sich die Situation, dass diejenigen, die in neue Studiengänge eingeschlossen werden, sozusagen ohne Netz unter dem Seil ihr Studium absolvieren. Das ist eine im Grunde unverantwortliche Situation, auch den zukünftigen Patienten gegenüber, insbesondere deswegen, weil es sich beim Studium der Medizin nicht um ein neues Fach handelt. Im Gegenteil, Medizin ist an den europäischen Universitäten seit Jahrhunderten gelehrt worden. Es zeugt von einer gewissen administrativen Arroganz, diese Erfahrungen komplett zu ignorieren und Ausbildungsordnungen zu verordnen, deren „Wert“ nicht beurteilt werden kann und deren Resultate erst nach Jahrzehnten offen liegen werden.

Während mindestens bis Mitte der 70er Jahre die Ausbildungsgänge in Deutschland ( übrigens einschließlich der Situation in der damaligen DDR ) und natürlich ebenfalls einschließlich Österreichs und der Schweiz weitgehend einheitlich waren, hat heute jede Medizinische Fakultät eigene Ordnungen, die eine generelle Vergleichbarkeit der Ausbildung nicht mehr zulassen. Durch diese Uneinheitlichkeit der Studienordnungen wird einem Studienplatzwechsel ein fast vollständiger Riegel vorgeschoben. Ein Studienplatzwechsel war in die Struktur der Bestallungsordnung von 1953 noch ausdrücklich als wichtig eingearbeitet worden. Bedeutsamer ist aber, dass bei der Uneinheitlichkeit der Studienordnungen zu fordern wäre, dass im Titel des Arztes erkennbar sein sollte, wo das Studium absolviert wurde, wie es z.T. auch im Ausland üblich ist, da auch die Examensleistung jetzt nicht mehr ohne weiteres als überall gleichwertig angesehen werden kann.

Es wird nicht möglich sein, die ÄAppO 2002, die noch keinesfalls überall vollständig umgesetzt ist. sofort und radikal zu ändern. Die Fakultäten müssen sich aber der Probleme bewusst sein, die sich aus dem Curriculum ergeben. Sie müssen versuchen, möglichst viel wissenschaftlichen und akademischen Ansatz in ihren Studienordnungen zu retten, um das Abrutschen in ein Fachschulniveau zu vermeiden. Das wird an einigen Fakultäten auch, ausweislich ihrer Studienordnungen, sehr engagiert gemacht, während andere mit sog. Reformstudiengängen nach Meinung des Autors dieser Zeilen das gewünschte Ziel weiträumig verfehlen. Wie sich zeigt, ist es auch in Rahmen des jetzigen Curriculums durchaus möglich, einen anspruchsvollen Unterricht anzubieten. Einige Fakultäten, zumal aus den neuen Bundesländern, können als Beispiel dienen, wie auch unter den Bedingungen einer eigentlich verfehlten Approbationsordnung ein wissenschaftlich ausgerichtetes Studium angelegt werden kann und soll.

Von gleicher Bedeutung für die Fortentwicklung des Studiums wäre eine Aufwertung des Staatsexamens. Die jetzige Struktur erlaubt nicht, den Kenntnisstand der Kandidaten einigermaßen objektiv festzustellen, wenn z.B. im Rahmen der Kollegialprüfung für das Fach Innere Medizin nur 15 min pro Kandidat zur Verfügung stehen. Von den in § 28 der ÄAppO genannten Kriterien und Forderungen für die Prüfung sind die meisten in dieser Form vom Examenskandidaten nicht zu leisten, da sie ärztliche Erfahrung voraussetzen, die der Student trotz der sog. praktischen Ausbildung während des Studiums nicht erworben haben kann. Die in §28 niedergelegten Prüfungsinhalte entsprechen zudem nicht einer akademischen Qualifikationsprüfung, sondern sind eher an einem Fachschulniveau orientiert. Wissenschaftlich-akademische Kenntnisse, die den angehenden Arzt befähigen könnten, in einer sich rasant wandelnden Medizinlandschaft kritisch zu überleben, werden nicht abverlangt.

Die nachfolgenden Vorschläge sollen den Blick auf Notwendigkeiten lenken, die sich aus der kritischen Betrachtung bzw. der Durchführung der gegenwärtigen Approbationsordnung ergeben.

1.
Es ist unbedingt notwendig, die Relation zwischen sog. praktischem und theoretischem Unterricht dergestalt zu verändern, dass eine Unterweisung der Studenten in der Systematik der Fächer der Medizin möglich wird. Der praktische Unterricht sollte ausschließlich in längeren Zeiteinheiten angeboten werden, wie z.B. in Famulaturen, oder ggf. auch während des Semesters in entsprechenden Ausbildungsphasen.
2.
Die Staatsexamensprüfung muss geändert werden. Es müssen alle, bzw. die wichtigsten Fächer der Medizin, im Examen jedes für sich abgeprüft werden, um ein ausreichend breites Wissen am Übergang in den Beruf zu garantieren, wobei Kollegialprüfungen überflüssig sind. Das Argument mancher Hochschullehrer, dass sie dann zuviel prüfen müssten, ist irrelevant, denn, a. hätten sie dann keine Kollegialprüfungen mehr, die ebenfalls viel Zeit kosten, und b. ist es ihre Dienstaufgabe als Hochschullehrer die Studenten, die sie ausgebildet haben, auch zu prüfen, wobei
3.
durch die Einbeziehung der habilitierten Hochschullehrer und Oberärzte in die Prüfungslast, diese durchaus überschaubar bleiben dürfte.

Von einem Medizinstudenten im Staatsexamen darf ein Facharztwissen nicht verlangt werden, aber die Denkweisen des Faches Medizin, bzw. seiner Spezialitäten, muss ein Examenskandidat verstanden haben. Wegen der völlig unzureichenden Prüfungsqualität im Staatsexamen wird das heute nicht mehr durchgehend erreicht.

Diese Vorschläge enthalten keine grundsätzlich neuen Vorgehensweisen, sondern orientieren sich an den gegenwärtigen Verhältnissen, die von niemandem als erfreulich angesehen werden können. Sie versuchen, durch geringe Änderungen, die im bestehenden System realisiert werden könnten, zu erreichen, dass die Ausbildung der Medizinstudenten wieder in einen Zustand versetzt wird, in der sie die Studierenden instand setzt, zukünftige Herausforderungen der Medizin mit wissenschaftlichem Hintergrund zu bewältigen.

Die derzeitige Ausbildungs- und Prüfungssituation ist für ein akademisches Studium nicht mehr adäquat. Sie wäre auch, und das sei abschließend noch angefügt, nicht geeignet, in ein wie immer zu ordnendes Bachelor- und Mastersystem zu passen, wenn das Ziel eine wissenschaftliche Ausbildung in Medizin sein soll. Eine Ausbildung zum Arzt, die den wissenschaftlichen Ansprüchen der Medizin nicht genügt ist, das sei nochmals gesagt, für die Patienten ein nicht zu unterschätzendes Sicherheitsrisiko. Es ist dringend geboten, dass sich die entsprechend Verantwortlichen mit der Ausbildungsordnung für Medizin unter Zukunftsaspekten beschäftigen.


Literatur

1.
Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Gutachten 2007: Kooperation und Verantwortung. Voraussetzung einer zielorientierten Gesundheitsvorsorgung. Bonn: Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen; 2007. Zugänglich unter: http://www.svr-gesundheit.de. Externer Link
2.
Herzig S, Marschall B, Nast-Kolb D, Soboll S, Hilgers RD. Positionspapier der NRW-Studiendekane zur hochschulvergleichenden leistungsorientierten Mittelvergabe für die Lehre. GMS Z Med Ausbild. 2007;24(2):Doc109.