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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Klaus Dörner: Leben und sterben, wo ich hingehöre. Dritter Sozialraum und neues Hilfesystem

Buchbesprechung Humanmedizin

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  • corresponding author Wilhelm Rimpau - Park-Klinik Weißensee, Abteilung Neurologie, Berlin, Deutschland

GMS Z Med Ausbild 2007;24(3):Doc120

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/journals/zma/2007-24/zma000414.shtml

Eingereicht: 11. April 2007
Veröffentlicht: 15. August 2007

© 2007 Rimpau.
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Bibliographische Angaben

Klaus Dörner

Leben und sterben, wo ich hingehöre. Dritter Sozialraum und neues Hilfesystem

Neumünster: Paranus Verlag der Brücke. Edition Jakob van Hoddis

ISBN 13: 978-3926200914, 240 Seiten, € 19,00

Erscheinungstermin: 2007


Rezension

„Wie wäre es, wenn man unter Ausnutzung aller bisher beschriebenen Wege allen Menschen, die leben, altern und sterben wollen, wo sie hingehören (und dies nicht nur mit Rücksicht auf andere ablehnen), diesen Wunsch erfüllen würde, notfalls mit Hilfe rund um die Uhr in der eigenen Wohnung, wie es ohnehin viele Körperbehinderte schon erstritten haben? Man könnte das ja zunächst nur in einer Modellregion erproben. Wenn nun für dieses scheinbar atemberaubend teure Verfahren sämtliche Kosten für die institutionelle Hilfe und – außer einer opulenten kommunalen Beratung – fast alle anderen Administrations- und Medikationskosten wegfallen würden, würde das nicht außer dem Menschenrechts-, Integrations- und damit Gesundheitsgewinn der Region hinsichtlich der Kosten ein Sparpaket sein?“

Dieser Satz - von Dörner Utopie genannt - findet sich mitten in einer Darstellung der aktuellsten Herausforderung, vor der unsere Gesellschaft in den nächsten wenigen Jahrzehnten steht. Wir kennen unseren Dörner mit provozierenden Büchern wie „Der gute Arzt. Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung“ (2001) und „Die Gesundheitsfall. Woran unsere Medizin krankt. Zwölf Thesen zu ihrer Heilung“ (2003). Wer allein die 285 Fußnoten in diesem neuen Buch verfolgt, merkt, dass es Dörner nicht um Utopie oder Provokation geht, sondern um den klaren Hinweis, wie wir mit der Alterspyramide, den Bedingungen altersgerechten Lebens und Sterbens umgehen können, ja müssen. So ist Dörner seit über ein Jahrzehnt der Wegbegleiter zahlreicher Initiativen quer durch das ganze Land, die es sich zu Aufgabe gemacht haben, neben den professionellen, oft hilflosen und unzureichenden Einrichtungen wie Krankenhäuser und Heimen, kommunalen und karitativen Angeboten aus bürgerschaftlichem Engagement heraus Lebensformen zu praktizieren, die der Würde des Menschen entsprechen, gleichzeitig Kosten sparen und Qualität garantieren. Dem „Top down“ ohnmächtiger Reformen und Verordnungen staatlicher Stellen sind beispielhafte Modelle entgegen zu setzen, die durch ein „Bottom up“ Betroffener und sich betroffen fühlender Menschen charakterisiert ist.

Nach langem Schweigen in „Menschen bei Maischberger“ am 6.3.07 zum Thema „Deutschland in der Pflegefalle“ antwortete Dörner schließlich auf die Frage, wer das alles leisten solle, knapp, kurz und präzise, wie keiner in der Runde: „wir“. Dem konnte auch der sympathische Norbert Blüm nicht kontern, der sich schon einmal vertan hatte, als er von sicheren Renten sprach und jetzt die von ihm 1995 verantwortete Pflegeversicherung für die Lösung des Problems hält. Im vorliegenden Buch präzisiert Dörner sein Credo, dass „die Lebensqualität in einer Pflegefamilie, so grob die auch sein mag, dreimal besser als jedes heutige Alten- und Pflegeheim ist“.

Dörner bekennt, zu seiner Berufzeit (als Psychiater in Gütersloh) „die Welt durch seine lupenreine Profibrille gesehen und Bürgerengagement geradezu unvermeidlich .... für ideologisch, sozialromantisch oder dogmatisch gehalten zu haben“. Seine „Gebrauchsanweisung“ für dieses Buch beginnt mit dem Song der Beatles 1966 „Will you still need me, will you still feed me, when I´m sixty-four ...“. Nur müssen wir jetzt, 40 Jahre später, statt von 64 von 84 oder gar 94 Lebensjahren ausgehen, in denen wir gebraucht werden wollen, gefüttert werden müssen und geborgen sterben können sollten. Sein ganzes Buch durchzieht die Leitidee, die Dörner von einer Initiative in Wallenhorst in Niedersachsen übernommen hat und die lautet: „ ... Ist das Leben von Menschen doch immer zwischenmenschliches Leben, für sich allein kann niemand wirklich menschlich existieren. Und so kann man mit der Kunst des Alterns die Kunst des Sterben-Könnens erlernen, erwerben. Es entwickelt sich die Bereitschaft, nicht nur ausschließlich etwas für sich selbst zu wollen, vielmehr aufzugehen in dem, was man für Andere ist und war – und darin sein Selbst zu finden.“

Das Hilfesystem der Moderne hatte sich 100 Jahre lang einigermaßen bewährt. Jetzt stehen wir vor „einer menschheitsgeschichtlich völlig neuartigen Aufgabe“. „Das Heim macht sich selbst zum Auslaufmodell“. Es gilt, nicht mehr den Menschen zur Hilfe, sondern wieder die Hilfe zum Menschen zu bringen. Was folgt dem Staatsversagen, schließlich dem Marktversagen? „Die Bürger beginnen mit dem Sprung in das neue Hilfesystem“....„die globale Bewegung der Deinstitutionalisierung“. Wie lange noch fließen 90% der Sozialhilfekosten in die Institutionen und nur 10% in die ambulante Hilfe? Uns allen steht ein kultureller Umbruch und Grundhaltungsänderung bevor. Helfen ist zu aller erst einmal die Gabe von Zeit. Bisher waren der familiäre Haushalt, die Nachbarschaft, die Kommune und die Kirchengemeinde die vier Sozialräume, die zu den Verlierern der Modernisierung der Gesellschaft gehören, indem man sie durch Institutionalisierung und Professionalisierung des Helfens zunehmend überflüssig machte. Der Entmündigung und Entsolidarisierung, die damit einhergeht, setzt Dörner die Sozialzeit des Bürger-Helfens entgegen, die Bedeutung für Andere weitergibt. Dörner ist der Begriff des „Helfens“ wichtig. Lange Zeit als Schimpfwort benutzt, weil alles vom Staat organisierte Helfen in Institutionen als „fürsorgliche Belagerung“ verstanden war, mutierte zu „Hilfe zur Selbsthilfe“ und dem abwertenden Begriff des „Helfer-Syndroms“. Jede Helfensbeziehung hat eine aktiv-asymmetrische Subjekt-Objekt-Dimension, wie auch eine passiv-asymmetrische Objekt-Subjekt-Dimension. Wird Pflege trialogisch, überwindet sie die dyadische Zweierbeziehung, die Situation wird weniger intim, dafür sozial verbindlicher. Der Wechsel vom profi- zum bürgerzentrierten Paradigma angesichts der drei großen menschheitsgeschichtlich neuen Bevölkerungsgruppen macht auch einen anderen Umgang der Ärzte („umprofessionalisierungsbedürftig“) mit den anstehenden Herausforderungen notwendig. Die sich im Kern der Akut-Medizin verpflichteten Zunft wird sich zu einer Chronisch-Kranken-Medizin umorientieren müssen. Der Umgang mit „Akutkrankheit, an der auch ein Mensch hängt“ wird sich wandeln, „weil die chronische Erkrankung weitgehend der Mensch selbst ist“. Neben den Alten und Dementen gehört die zunehmend größer werdende Gruppe der Neo-psychisch-Kranken. Noch vor vierzig Jahren galt in Europa für etwa 5% der Menschen, dass sie mit Psychopharmaka und Psychotherapie behandelt werden müssen, jetzt sind es knapp 30%. Der Markt, die (von ihm abhängige) Wissenschaft und schließlich das Selbstverständnis vieler Menschen, die jede Varianz ihres Lebens „psychisieren“, indem sie sich eine der vielen neuen Modediagnosen überstülpen (lassen) führt so zu diesem „Kunstprodukt“ chronifizierter „Kranker“. Der Arzt, der diesen Gegebenheiten gerecht werden soll, wird „trialogisch denken“, dem „Solidaritäts-Imperativ“ folgen, wird „erst platzieren, dann kurativ oder Chroniker begleiten oder palliativ tätig werde“ und schließlich die Verantwortung auch für den dritten Sozialraum einnehmen. Die Hausärzte haben seit 1980 wieder an Bedeutung gewonnen und scheinen am ehesten den Anforderungen gewachsen.

Dem Staat und der Politik fällt, wenn Dörners „Beschreibung des Sprungs in das neue Hilfesystem auch nur zur Hälfte stimmt, ungeahnte, auch gesetzgeberische Handlungserfordernisse zu ..... um die Kontrolle der Marktorientierung zu gewährleisten.“ Es bietet sich die „Chance endlich mit der bisher hartnäckig betriebenen (und kostentreibenden) Privilegierung der Institutionalisierung des Helfens aufzuhören ... und stattdessen den Sprung in das neue Hilfesystem zumindest zu bahnen“ und damit einen Prozess zu fördern, „der vor siebzig Jahren (in Dänemark) begonnen hat und inzwischen ein alter Hut ist ....“ Schade ist, dass der Bericht der Entquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ 1999-2002 „zu früh gekommen ist, denn trotz großer Verdienst dieses Berichts taucht der dritte Sozialraum als der spezifische Raum für überdurchschnittliches Helfen und für die Integration gar nicht erst auf“.

„Auch der letzte von uns Bürgern dürfte davon überzeugt sein, dass es sich lohnt, an der Verwirklichung der bürgergetragenen neuen Kultur des Helfens mitzuwirken“, wenn

  • der folgenschwere Irrglaube der Moderne an der Herstellbarkeit einer leidensfreien Gesellschaft sich verflüchtigt hat;
  • heute kein Mensch mehr glaubt, dass wir mit dem alten Hilfesystem der Profis auskommen,
  • es die Fortentwicklung der medizinischen Technik es uns noch mehr ermöglicht, Hilfe in die eigenen vier Wände zu bringen,
  • der Gesetzgeber sich endlich durchringt, die längst überfälligen Pflegezeiten anzuerkennen und für Nachbarschaftshilfe Retenvorteile einräumt.

Mit diesem Ausblick endet Dörners letztes Kapitel „Sterben, wo ich hingehöre“ und damit das Büchlein, welches mit dem Beatles-Zitat begann und mit Montesquieu endet: „Man muss die Hälfte seiner Zeit vertun, um mit der anderen etwas anfangen zu können.“ (siehe Abbildung 1 [Abb. 1])