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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Johannes Bircher / Karl-H. Wehkamp: Das ungenutzte Potential der Medizin. Analyse von Gesundheit und Krankheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Buchbesprechung Humanmedizin

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GMS Z Med Ausbild 2007;24(3):Doc118

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/journals/zma/2007-24/zma000412.shtml

Eingereicht: 23. Mai 2007
Veröffentlicht: 15. August 2007

© 2007 Schnell.
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Bibliographische Angaben

Johannes Bircher / Karl-H. Wehkamp

Das ungenutzte Potential der Medizin. Analyse von Gesundheit und Krankheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Zürich: rüffer & rub

ISBN 13: 978-3-907625-31-6, 256 Seiten, € 29,80.

Erscheinungstermin: 2006


Rezension

Die Geschichte der Medizin ist die Geschichte eines gemischten Diskurses. Hippokrates, Paracelsus, Rudolf von Virchow, Victor von Weizsäcker, Christian Barnard und andere zeugen vom Ringen der Medizin um ihre Identität. Medizin ist mal Naturphilosophie, Soziologie der Krankheiten, Naturwissenschaft, Pathologie, sprechende Medizin, Anthropologie, Zweig der Biowissenschaft und anders mehr. Neben dem Kampf um die Identität, der zugleich ein Motor des Fortschritts in der Medizin ist, ging und geht es immer auch um eine zweite Frage von ebenso grosser Bedeutung: ist Medizin eher eine Spezial- oder Allgemeindisziplin? Für was ist sie zuständig? Für den Menschen in seiner Lebenswirklichkeit oder für defekte Organe und chemische Prozesse? Für das Ganze oder einzelne Teile?

Die vorliegende Programmschrift geht tendenziell von der ersten Möglichkeit aus. Johannes Bircher, Pharmakologe und Reformer der Medizinausbildung in der Schweiz und in den 90er Jahren auch in Deutschland, und Karl.-H. Wehkamp, Medizinsoziologe und Gesundheitswissenschaftler, versuchen, die Medizin neu zu denken. Da sie heute unter dem Druck der Technik, der Biologie, des Managements und der Finanzen stehe, könne ihr grundsätzliches Potential nicht realisiert werden. Den zu einer Reform notwendigen Ansatzpunkt bilde, so die Verf., „ein besseres Verständnis von Gesundheit und Krankheit“ (S. 9).

Gesundheit hat ihren Sitz im gelebten Leben und ist daher wesensmässig verborgen, wie Hans-Georg Gadamer sagt. Sie entzieht sich der exakten begrifflichen Fixierung. Im Sinne einer positiven Unbestimmtheit zeigt sich Gesundheit indirekt in einem Potentialis an Zukunftsfähigkeit, der gleichermassen natürlich gegeben und kulturell produziert ist. Die Potentialität hat ihren Sinn darin, den Ansprüchen des endlichen Lebens, das in Kultur und Gesellschaft stattfindet, zu begegnen und dadaurch das Leben zu gestalten.

„Gesundheit ist ein dynamischer Zustand von Wohlbefinden, bestehend aus einem biopsychosozialen Potential, das genügt, um die alters- und kulturspezifischen Ansprüche des Lebens in Eigenverantwortung zu befriedigen. Krankheit ist der Zustand, bei dem das Potential diesen Ansprüchen nicht genügt.“ (S. 53)

Diese Definition ist insofern kritisch, da sie die Eigenverantwortung des Menschen und Bürgers stärkt und zugleich die Verfügungsgewalt der Ärzte über das Leben begrenzt. Gleichwohl haben Ärzte die sozialethische Aufgabe zu prüfen, ob ihre Patienten die Fähigkeit zur Ausübung von Verantwortung besitzen (vgl. S. 68f). Andernfalls würde sich das Meikirch-Modell, wie die Verf. ihr Konzept nach dem Ort seiner Enstehung in der Schweiz benennen, in eine fatale Nähe zu neokonservativen Visionen des Patienten als eines blossen Kunden rücken.

Von Niklas Luhmann stammt die These, dass Ärzte nur mit Krankheit etwas anfangen können, Gesundheit sei gar kein medizinischer Begriff. Die Verf. machen sich diese Einsicht positiv zu nutze. Sie locken die Medizin auf das Terrain der Gesundheit, wo sie nicht heimisch ist und starten von dort aus ihr Umdenken der Medizin. Die Reform verläuft in einer Parallele von Individual- und Sozialmedizin.

Im Mittelpunkt der Individualmedizin stehen die Person des individuellen Patienten, der Arzt, die Pflege und das Behandlungsteam. Die Verf. entfalten das Universum einer Ethik der Arzt/Patient-Beziehung als einer Verantwortungspartnerschaft, die die Technologie und das Gesundheitssystem in ihren Dienst nimmt. Im Mittelpunkt der Sozialmedizin steht die Gesellschaft und eine Gesundheitspolitik auf der Grundlage von Epidemiologie und Evidence-based-medicine.

Der Zusammenhang beider Teile gerät etwas unvermittelt. Die Eigenverantwortung des Individuums wird durch eine gesundheitspolitisch entsprechend implementierte Versorgungsstruktur der Gesellschaft gestützt. Der Umkehrschluss, nach dem auch das Indivuduum in seine Verantwortlichkeit die Gesellschaft einbeziehe, ist weniger überzeugend. Die in der Gesundheitsökonomie diskutierte Rationalitätenfalle besagt ja, dass das, was für mich rational zu sein scheint, der Gesellschaft schadet. Appelle an den sog. Einzelnen helfen bei der Sanierung des Ganzen folglich eher wenig. Die Verf. schlagen vor, den Begriff der Solidarität im Rahmen der Gesundheitsversorgung neu zu diskutieren und die medizinische Forschung so auszurichten, dass individuelle und gesellschaftliche Perspektiven von Gesundheit und Krankheit stets zugleich berücksichtigt werden.

Das Potential der Medizin kann insgesamt nur genutzt werden, wenn ein Integration von Patientenversorgung, Forschung und Gesundheitspolitik geschieht. Bloße Verhinderung des Auseinanderfallens reicht nicht, obwohl sie schon eine Errungenschäft wäre, da in der privatisierten Gesundsheitsversorgung das Interresse an Forschung eher gering ist. Medizin ist als System der Gesellschaft zu begreifen: mit Identität und Differenz! In der medizinischen Ausbildung sollen, so die Verf., Persönlichkeitsentwicklung, Problemorientiertes Lernen, Kommunikationsfähigkeit, Wissenschaftstheorie und ethische Reflexion leitend sein. Der Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit Normalität und Macht innerhalb des Gesundheitsdiskurses wird indes zu wenig Gewicht verliehen. Es ist allerdings auch noch von niemandem wirklich geklärt worden, wie die dem Menschen geltende Behandlung und die Analyse von Macht der Medizin zusammen thematisiert und gelehrt werden könnten [1].

Das Meikirch-Modell von Bircher und Wehkamp konzentriert Reformbestrebungen der Medizin und treibt sie weiter voran. Reformbestrebungen, die aus der Medizin selbst erwachsen. Das zeugt davon, dass die Medizin immer noch ein gemischter Diskurs ist und keine reine Naturwissenschaft oder blosse Spezialdisziplin (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]).


Literatur

1.
Schnell MW. Die Unfasslichkeit der Gesundheit. Pflege & Gesundheit. 2006;4.