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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Wahlfach "Migrantenmedizin" - Interdisziplinäre Aspekte der medizinischen Versorgung von Patienten mit Migrationshintergrund: Das erste reguläre Lehrangebot zum Thema "Medizin und ethnisch-kulturelle Vielfalt" in Deutschland

Teaching "Migrant’s health" – Interdisciplinary aspects of health care for patients with migration background : The first teaching program on “medicine and cultural diversity” in Germany

Projekt Humanmedizin

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  • corresponding author Michael Knipper - Institut für Geschichte der Medizin der Justus-Liebig-Universität Gießen, AK Transkulturelle Medizin, Migration und Gesundheit, Justus-Liebig-Universität Gießen, Gießen, Deutschland
  • author Ahmet Akinci - Medizinische Klinik und Poliklinik III, Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Standort Gießen, AK Transkulturelle Medizin, Migration und Gesundheit, Justus-Liebig-Universität Gießen, Türkisch-Deutsche Gesundheitsstiftung e. V. Gießen, Gießen, Deutschland

GMS Z Med Ausbild 2005;22(4):Doc215

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/journals/zma/2005-22/zma000215.shtml

Eingereicht: 15. Juli 2005
Veröffentlicht: 18. November 2005

© 2005 Knipper et al.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Zusammenfassung

Die medizinische Versorgung von Migranten gehört zum ärztlichen Alltag. Seit dem Sommersemester 2004 wird an der Universität Gießen mit dem klinischen Wahlfach "Migrantenmedizin" die bundesweit erste reguläre Lehrveranstaltung zum Thema "Medizin und ethnisch-kulturelle Vielfalt" angeboten. Medizinische Themen im engeren Sinne (z. B. Epidemiologie) werden dabei ebenso berücksichtigt wie Inhalte aus den Kultur- und Sozialwissenschaften. In diesem Beitrag werden die Lernziele und das Programm des interdisziplinär gestalteten Kurses vorgestellt, wobei der Schwerpunkt auf den Einheiten zu den kulturellen und sozialen Dimensionen des Themas liegt. Die aus drei Elementen bestehende Methodik zur Evaluation des Kurses und erste Ergebnisse werden erläutert, und zum Abschluss wird das Wahlfach in seiner Bedeutung für die medizinische Ausbildung im Allgemeinen diskutiert. Denn "interkulturelle Kompetenz" ist unabhängig vom Migrationsstatus eines Patienten eine Schlüsselqualifikation für eine humane, am Individuum orientierte Gesundheitsversorgung.

Schlüsselwörter: Migration, ethnisch-kulturelle Vielfalt, interkulturelle Kompetenz, Wahlfach

Abstract

Health care for migrants is part of every day medical practice in Germany. Since summer 2004, the Medical School at Gießen University offers the first teaching program on "medicine and cultural diversity" in Germany, which includes strictly medical topics (like epidemiology) as well as cultural and social issues. This article presents the teaching goals of this interdisciplinary course, with emphasis on the cultural and social elements of the curriculum. The methodology and first results of the evaluation of the course are presented, followed by a discussion of the importance of teaching "migrant health" for medical education in general. "Intercultural competence" is concluded to be a key qualification for human and individualized health care, independent of the migration background of a patient.

Keywords: migration, cultural diversity, teaching intercultural competence


Einleitung

Nach jüngsten Angaben der Bundesregierung repräsentieren Migranten etwa 20 % der in Deutschland lebenden Bevölkerung [1]. Bei insgesamt ca. 14,5 Mio. ausländischen Mitbürgern, Eingebürgerten, Aussiedlern oder Kindern aus binationalen Ehen gehört die medizinische Versorgung von Patienten mit Migrationshintergrund in Kliniken und Arztpraxen zum Alltag. Die damit assoziierten Probleme und Herausforderungen finden in den letzten Jahren ein zunehmendes Echo in der medizinischen Fachpresse. Als wichtigste Problemfelder werden unterschiedliche Gesundheitsrisiken von Migranten, Hindernisse beim Zugang zur Gesundheitsversorgung, Sprach- und Kommunikationsprobleme sowie "kulturelle Barrieren" zwischen medizinischem Personal und ausländischen Patienten identifiziert [2], [3], [4], [5], [6], [7], [8]. Ethische Probleme und juristische Unsicherheiten bei der medizinischen Versorgung von Asylbewerbern und Patienten mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus sind weitere oft angesprochene Aspekte [9], [10], [11], [12], [13].

Können Studierende während ihrer medizinischen Ausbildung auf diese Herausforderungen vorbereitet werden? An britischen und nordamerikanischen Universitäten sind Lehrangebote zum Themenbereich "Medizin und ethnisch-kulturelle Vielfalt" bereits etabliert [14], [15], [16], [17], [18], [19]. Der Schwerpunkt entsprechender Ausbildungsprogramme liegt jedoch nicht auf dem Thema "Migration", sondern in Großbritannien etwa gilt "interkulturelle Kompetenz" als Schlüsselqualifikation für die "Ärzte von Morgen" [20]. Mit dem Wahlpflichtfach "»Migrantenmedizin« - Interdisziplinäre Aspekte der medizinischen Versorgung von Patienten mit Migrationshintergrund", wird an der Universität Gießen seit dem Sommersemester 2004 auch in Deutschland eine erste reguläre Lehrveranstaltung zu diesem Thema angeboten. Der Fokus "Migration" wurde gewählt, da zum einen die ethnisch-kulturelle Vielfalt der in Deutschland lebenden Bevölkerung in der Regel als "Migration" wahrgenommen wird. Zum zweiten haben manche Migrantengruppen (Flüchtlinge, "Papierlose") besondere Schwierigkeiten beim Zugang zur Gesundheitsversorgung und stellen die behandelnden Ärzte teilweise vor erhebliche medizinische, rechtliche und nicht zuletzt ethische Probleme.

Der formale Rahmen des Kurses ist die mit der neuen AO geschaffene Kategorie der Wahlfächer im klinischen Studienabschnitt. Getragen wird er gemeinsam vom Institut für Geschichte der Medizin, der Medizinischen Klinik und Poliklinik III des Universitätsklinikums und der Türkisch-Deutschen Gesundheitsstiftung e.V. in Gießen. Diese Institutionen haben im Sommer 2005 den Arbeitskreis "Transkulturelle Medizin, Migration und Gesundheit" am Fachbereich Humanmedizin der Universität Gießen gegründet, in dessen Aktivitäten diese Lehrveranstaltung integriert wird [21].


Projektbeschreibung

Das wichtigste Ziel des Wahlfachs "Migrantenmedizin" besteht in der Vorbereitung der Studierenden auf die Zusammenarbeit mit Patienten unterschiedlicher nationaler und/oder ethnischer Herkunft, die sich darüber hinaus oft in besonders schwierigen Lebensumständen befinden. Notwenig ist dazu der Erwerb von Kompetenzen, die sowohl eine differenzierte Erfassung von "medizinischen" Aspekten im engeren Sinne erlauben (z. B herkunftsspezifische Erkrankungen, besondere Risikofaktoren, psychische Folgen von Traumatisierung und Flucht etc.), als auch von kulturellen, sozialen, ethischen und rechtlichen Sachverhalten. Während die Vermittlung epidemiologischer Zusammenhänge und des notwenigen Wissens um regionalspezifische Krankheitsbilder wie Thalassämien keine besondere Herausforderung darstellt, werden die Studierenden im Hinblick auf die "kulturellen" Aspekte mit Themen, Perspektiven und Fragestellungen konfrontiert, die im Medizinstudium sonst kaum berücksichtigt werden. Gerade hier sind innovative Lehrkonzepte vonnöten, bei denen nicht die Vermittlung von Fakten im Vordergrund steht, sondern die Anleitung zur kritisch-differenzierten Beurteilung komplexer Situationen im ärztlichen Alltag unter Einschluss kulturwissenschaftlicher Sichtweisen. Mangelhafte Kompetenz im Umgang mit der Kategorie "Kultur" führt ansonsten schnell zum Rekurs auf scheinbar eindeutige Erklärungsmuster etwa über das "mystische Medizinverständnis" türkisch-islamischen Patienten, welche implizit den vermeintlich rein rational denkenden einheimischen Patienten gegenübergestellt werden [3], [4]. Um Studierende anzuleiten, solch stereotype Denkmuster zu durchbrechen, muss jede entsprechende Lehrveranstaltung mehr beinhalten als die alleinige Vermittlung konkreter Informationen ("Fakten") über verschiedene "ethnisch-kulturellen Gruppen" [17]. Vor allem die folgenden Aspekte sind von Bedeutung [17], [20], [22], [23], [24]:

§ Die Kontextualisierung vermeintlich "kulturspezifischer" Denk- und Verhaltensweisen bei Patienten aus unterschiedlichen ethnischen Gruppen,

§ eine Anleitung zur kritischen Reflexion über die Rolle der eigenen "Kultur" auf Seiten des medizinischen Personals, sowie

§ die Vermittlung von Einblicken in die alltägliche Lebenswelt von (ethnisch-kulturellen) Minderheiten, im Sinne von "cultural immersion"-Ansätzen, die das "Eintauchen" der Studierenden in die Lebenswirklichkeit kulturell oder sozial marginalisierter Gruppen beinhalten [23], [24].

Neben theoretischen Einsichten zielt der in Gießen angebotene Kurs auch auf die Vermittlung praktischer Fähigkeiten ab. Die Studierenden sollen etwa in die Lage versetzt werden, gezielt weiterführende Informationen und im Bedarfsfall Hilfe bei rechtlichen Fragen oder ethischen Problemen einzuholen. Durch Einblicke in die Struktur und Funktionsweise von Sozialdiensten innerhalb und außerhalb des Gesundheitsbereichs sollen sie in die Lage versetzt werden, in jedem Einzelfall - zum Beispiel bei der Betreuung von Patienten ohne gesicherten Aufenthaltstatus - nach sinnvollen und praktikablen Handlungsmöglichkeiten zu suchen. Die Kenntnis der in manchen Städten bestehenden Netzwerke niedergelassener Ärzte zur Versorgung von "Papierlosen" zeigt den Studierenden, was von ärztlicher Seite aus möglich ist, um eine als problematisch erkannte Situation zu ändern, und führt ihnen außerdem die Konflikte zwischen ärztlicher Fürsorgepflicht auf der einen Seite, und manchen rechtlichen Regelungen etwa des Ausländergesetzes auf der anderen, vor Augen [11], [12], [13].

Viele der im Hinblick auf die medizinische Versorgung von Patienten mit Migrationshintergrund oft diskutierten Fragen sind jedoch keineswegs spezifisch für diese in sich sehr heterogene Bevölkerungsgruppe. Sprach- und Kommunikationsprobleme etwa, sowie divergierende Vorstellungen von und Kenntnisse über Krankheit und den menschlichen Körper sind auch zwischen einheimischem medizinischem Personal und Patienten relevant [25]. Daher werden die Studierenden in diesem Kurs angeleitet, migrationsspezifische Probleme (z. B. als Folge von Flucht oder unsicherem Aufenthaltsstatus) von solchen zu unterscheiden, die eher allgemeiner Natur und nicht allein bei kulturell "fremd" erscheinenden Patienten von Bedeutung sind. Darüber hinaus stellt die Betreuung von Patienten mit Migrationshintergrund nicht selten besondere Anforderungen an die interprofessionelle Zusammenarbeit. Die explizite Einbeziehung der Perspektiven der Pflege und anderer Berufsgruppen (Sozialdienste), wie sie im Bereich der Ethikausbildung bereits praktiziert wird, ist daher ein weiteres Element des Kurses [26]. Die Studierenden lernen bzw. vertiefen also Fähigkeiten, die auch ihrer Zusammenarbeit mit Patienten ohne Migrationshintergrund zugute kommen. "Migrantenmedizin" ist daher auch keineswegs als medizinische Spezialdisziplin für Patienten mit Migrationshintergrund zu verstehen (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]).


Kursprogramm

Dem Thema entsprechend ist das Wahlfach interdisziplinär angelegt. Es wird gemeinsam von wissenschaftlich tätigen Ärzten aus dem Bereich der klinischen Medizin und der Medizingeschichte bzw. -ethnologie organisiert und gestaltet. Durch diese Zusammenarbeit kann die Lehrveranstaltung ein gleichermaßen hohes wissenschaftliches Niveau sowohl im klinisch-medizinischen als auch im kulturwissenschaftlich-theoretischen Bereich anbieten. Gleichzeitig ist so die für die Ausbildung von Medizinstudierenden wichtige Verbindung zwischen Praxis und Theorie gegeben. Gastdozenten vertreten die Themen Psychosomatik, Islam und Medizin, Transkulturelle Pflege, und für einen Einblick in den Lebensalltag von Migranten verlassen die Studierenden die Klinik zu einem Gespräch mit Mitarbeiterinnen des Migrationsdienstes eines Wohlfahrtsverbandes (Caritasverband Gießen e.V.).

Im Einzelnen ist der Kurs folgendermaßen aufgebaut: Nach der Studienordnung des Fachbereichs Humanmedizin an der Universität Gießen steht ein Zeitbudget von einer Semesterwochenstunde zur Verfügung, welches in sieben Doppelstunden eingeteilt wird. Nach einer Einführung mit Beispielen aus der medizinischen Praxis und einem Überblick über epidemiologische Zusammenhänge folgt eine Einheit zu den historischen, sozialen, kulturellen und juristischen Aspekten von "Migration". Dabei wird unter anderem gezeigt, dass "Migration" kein "neues" Phänomen darstellt, und es werden die verschiedenen, in der Bundesrepublik derzeit gültigen Kategorien zur Definition des Migrationsstatus eines Menschen vorgestellt [27], [28], [29], [30]. Bereits hier werden die Studierenden auf die aus rechtlichen Vorgaben resultierenden Konsequenzen für die Gesundheitsversorgung aufmerksam gemacht. Schlüsselbegriffe wie "Kultur", "Ethnizität" und "Rasse" werden an Hand historischer Beispiele analysiert und auf ihre expliziten und impliziten Bedeutungsinhalte hin überprüft [31]. Weitere thematische Einheiten sind den unterschiedlichen wissenschaftlichen Zugängen zum Thema "ethnisch-kulturelle Vielfalt und Medizin" von Epidemiologie und klinischer Forschung einerseits [2], [8], [29], und Medizinethnologie/Medical Anthropology andererseits gewidmet [25], [32]. Hier werden am Beispiel konkrete Studien auch Ziele und Methoden qualitativer Untersuchungsansätze vorgestellt [33], [34]. Psychosomatische Aspekte werden in Kooperation mit der Psychosomatischen Klinik des Universitätsklinikums Gießen behandelt, und das Thema "Religion und Medizin" wird am Beispiel des Islam betrachtet: Ein türkisch-muslimischer Internist vermittelt den Studierenden zunächst grundlegende Kenntnisse über den Islam, und zeigt anschließend mit Beispielen aus der klinischen Praxis, wie mögliche Konfliktfelder aussehen und gelöst werden können (Beispiel: ein Patient mit Typ-I-Diabetes will im Monat Ramadan dem Fastengebot folgen). Die Suche nach Handlungsmöglichkeiten schließt dabei auch auf den ersten Blick unkonventionelle Optionen mit ein, wie etwa die Möglichkeit, einen Patienten durch eine Fatwa, also das Gutachten eines islamischen Rechtsgelehrten, beraten zu lassen, oder die Einbeziehung "traditioneller Heiler" in die Behandlung [35], [36]. Der bisher relativ hohe Anteil von Studierenden mit eigenem Migrationshintergrund (50-70%) führt vor allem bei diesem Thema zu anregenden Diskussionen und einer Bereicherung des Kurses durch individuelle Beiträge der Teilnehmer. Erfahrungen aus dem Bereich der Krankenpflege und Konzepte aus den Pflegewissenschaften ("Transkulturelle Pflege") werden von einer Mitarbeiterin der Pflegedirektion des Universitätsklinikums eingebracht. Der Besuch beim Migrationsdienst der Caritas führt die Studierenden schließlich an die konkrete Lebenswirklichkeit von Migranten heran. Durch ihre Erfahrung in der Begleitung ausländischer Patienten in sehr unterschiedlichen Lebenssituationen vermitteln die Sozialarbeiterinnen ein lebensnahes Bild davon, wie Menschen, die aus welchen Gründen auch immer der deutschen Sprache nicht mächtig oder plötzlich in diesem für sie fremden Land auf sich gestellt sind, die hiesige Gesundheitsversorgung erleben. Der Besuch bei der Caritas gibt den Studierenden gänzlich neue Einsichten in die soziale Realität ihres Landes und ihrer potentiellen Patienten. Darüber hinaus lernen sie auch hier Handlungsoptionen kennen, so zum Beispiel für den Fall, dass sie als Stationsärzte Patienten entlassen müssen, die durch Krankheit ihre Wohnung, ihr Auskommen und ihre Aufenthaltsgenehmigung verloren haben.

Für eine weitere Vertiefung des Praxisbezuges der Lehrveranstaltung wird auch der von der AO vorgeschriebene Leistungsnachweis genutzt: Grundlage der Benotung ist eine Hausarbeit, die während der vorlesungsfreien Zeit anzufertigen ist. Nach einer methodischen Anleitung werden die Studierenden aufgefordert, in ihrer eigenen Lebens- und Arbeitswelt innerhalb des Gesundheitswesens gezielte Beobachtungen zu den im Kurs angesprochenen Themen anzustellen, diese niederzuschreiben und zu kommentieren. Das Ergebnis sind Arbeiten, die sich dem Thema "Medizin und Migration" auf eine zum Teil sehr kreative Art und Weise annähern (systematische Beobachtungen im Krankenhaus, Kasuistiken aus dem eigenen Umfeld, oder die Dokumentation gezielt angeregter Diskussionen in Internet-Chatforen), und die gleichzeitig den Erwerb der im Kurs vermittelten Kompetenzen klar dokumentieren. Trotz des geringen Zeitbudgets kann durch diese Art der Leistungskontrolle und den Besuch bei der Caritas zumindest ansatzweise das didaktisch wichtige Element der "community immersion" in den Kurs einbezogen werden.


Evaluation

Als neu entwickeltes Lehrangebot wird dass Wahlfach "Migrantenmedizin" stetig evaluiert und weiterentwickelt. Die Methodik der Evaluation muss dabei dem Gegenstand angepasst werden, was insbesondere im Hinblick auf die nicht im Sinne von "Faktenwissen" definierten Lernziele von Bedeutung ist. Die Überprüfung der Qualität des Lehrangebots erfolgt daher auf drei verschiedenen Wegen, von denen jeder für sich genommen unvollständig bleiben würde: Zum einen wird die Veranstaltung mit anonymen Fragebögen evaluiert, die vorformulierte Fragen beinhalten und Raum für freie Kommentare und Verbesserungsvorschläge. Ein Problem für die quantifizierende Evaluation ist die geringe Teilnehmerzahl von 10-12 Teilnehmern pro Semester, was jedoch durch die Chance zu persönlichen Gesprächen mit den Studierenden mehr als ausgeglichen wird. Das zweite Evaluationsinstrument sind dementsprechend Gespräche im Anschluss an den Kurs, mit denen sich der Lernerfolg und die Relevanz der verschiedenen Lehrinhalte gut beurteilen lassen. Das dritte Medium zur Evaluation sind die Hausarbeiten, in denen sich zeigt, ob die Lernziele vor allem aus der Gruppe der "theoretischen Fähigkeiten" erreicht werden konnten.

Nach drei Semestern gibt die Evaluation das folgende Bild: Bei der allgemeinen Beurteilung über Fragebögen (Sommersemester 2005 liegt noch nicht vor) zeigt sich, dass der Kurs durchgehend als "interessant" ("stimme voll zu" 10 / "stimme eher zu" 1 / "unentschieden" 1 / "stimme eher nicht zu" 0 / "stimme nicht zu" 0 / n = 12) und "relevant" (8/4/-/-/-/12) angesehen wird. Ein hier nicht weiter bestimmter "Lerneffekt" (6/6/-/-/-/12) wird ebenso bestätigt wie die "Anregung zum Nachdenken" (6/4/2/-/-/12) und das "Kennenlernen neuer Aspekte der Migrantenmedizin" (9/2/-/1/-/12). Bei den freien Fragen werden als positiv das Thema "Religion und Medizin am Beispiel des Islam" genannt, sowie der Besuch bei der Caritas und das Problem der "Papierlosen". Gewünscht wird "mehr Praxis", "mehr Kontakt zu Patienten", und vor allem im ersten Kurs fehlten offenbar noch Hinweise auf Handlungsmöglichkeiten. Manche Studierende wünschen sich "mehr Zeit" und "mehr Detailinformationen". In den Gesprächen weisen die Studierenden vor allem darauf hin, wie wichtig es sei, dass diese Themen "angesprochen" würden und sie in diesem Kurs auch die Gelegenheit gegeben würde, offen über Themen zu diskutieren und eigene Gedanken zu äußern. Sie hätten "neue Einblicke" in die Medizin erhalten, und ihre "Sensibilität" sei größer geworden. Die Hausarbeiten korrigieren diese sehr positive Sicht allerdings zumindest teilweise. Während manche Studierende sehr differenzierte Erörterungen vorlegen, bleiben andere bei ihrer Analyse eher einseitig. Kategorien wie "Kultur" und "Ethnie" werden nicht oder nur unvollständig kontextualisiert, oder es unterbleibt eine zusammenfassende Beurteilung der Beobachtungen. Vor allem hier besteht Handlungsbedarf für die weitere Verbesserung der Lehre.


Diskussion

Die ersten Erfahrungen mit dem Wahlfach "Migrantenmedizin" an der Universität Gießen zeigen, dass es möglich und aus einer Reihe von Gründen sinnvoll ist, zukünftige Ärztinnen und Ärzte auf die mit der medizinischen Versorgung von Patienten mit Migrationshintergrund verbundenen Herausforderungen vorzubereiten. Das wichtigste Argument liegt dabei in der hohen Relevanz des Themas in einem Land, in dem - wie einleitend geschildert - etwa ein Fünftel der Bevölkerung einen Migrationshintergrund besitzt.

Über das Thema "Migration" im engeren Sinne hinaus ist der explizite Blick auf Medizin im Kontext von kultureller und sozialer Vielfalt geeignet, den Studierenden die verschiedenen Dimensionen einer am individuellen Patienten orientierten Gesundheitsversorgung zu vermitteln. Denn unterschiedliche Vorstellungen und Wissensbestände zu Krankheit, Unterschiede in der Wahrnehmung von Symptomen, diagnostischen Maßnahmen und therapeutischen Interventionen sowie in der Erwartungshaltung gegenüber ärztlichem Personal oder der "Schulmedizin" ganz allgemein gehören auch bei "ethnisch unauffälligen" Patienten zum Alltag. Dasselbe gilt für die Abhängigkeit krankheitsrelevanter Denk- und Handlungsweisen vom sozialen, ökonomischen und sogar rechtlichen Kontext, wobei sich letzterer bei den geschätzt etwa 500.000 bis 1,5 Mio. in Deutschland lebenden Menschen "ohne Papiere" selbstverständlich besonders deutlich und dramatisch äußert [11].

Die Beschäftigung mit Medizin im Kontext von Migration und ethnisch-kultureller Vielfalt schärft den Blick für allgemeine Fragen und Probleme der Medizin. Denn der "Migrationshintergrund" ist stets nur ein Aspekt der individuellen Persönlichkeit eines Patienten und nur ein Aspekt unter vielen, die für die medizinische Behandlung von Bedeutung sind. Die "Migrantenmedizin" kann daher im Rahmen der medizinischen Ausbildung einen wichtigen Beitrag gerade zur Verwirklichung all jener in der neuen AO genannten Ziele leisten, die sich auf die "fächerübergreifende Betrachtung von Krankheiten" beziehen, auf die Einflüsse von "Familie, Gesellschaft und Umwelt die Gesundheit, die Organisation des Gesundheitswesens und die Bewältigung von und Krankheitsfolgen", sowie die "geistigen, historischen und ethischen Grundlagen ärztlichen Handelns" [37]. Gerade am Umgang mit Migranten als "Nicht-Standard-Patienten", wie sich ein Student ausdrückte, lassen sich all diese Themen besonders deutlich erörtern.


Danksagung

Das "Wahlfach Migrantenmedizin" könnte ohne die große Unterstützung aus dem Fachbereich Humanmedizin der Justus-Liebig-Universität Gießen und dem Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Standort Gießen, nicht realisiert werden. Wir danken insbesondere Prof. V. Roelcke (Institut für Geschichte der Medizin), Prof. R. Bretzel (Medizinische Klinik und Poliklinik III) und Dr. Y. Bilgin (Türkisch-Deutsche Gesundheitsstiftung e.V.), sowie den Referentinnen und Referenten Prof. W. Milch und Dr. S. Akinci (Psychosomatische Klinik), Dr. N. Soydan (Medizinische Klinik und Poliklinik III), Fr. Dipl. Pflegewirtin C. Hofmann-Bremer (Pflegedirektion des Universitätsklinikums) und Fr. C. Tigges und Fr. A. Kamara vom Migrationsdienst des Caritasverbandes Gießen e.V.


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