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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Einstellungen von Medizinstudentinnen und –studenten zu humangenetischer Forschung und genetischer Diagnostik

Attitudes of medical students towards human genome research and genetic counselling and testing

Projekt Humanmedizin

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GMS Z Med Ausbild 2005;22(2):Doc21

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/journals/zma/2005-22/zma000021.shtml

Eingereicht: 14. Mai 2004
Veröffentlicht: 20. April 2005

© 2005 Schäfer et al.
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Zusammenfassung

Zweck: Ziel der Untersuchung war die Erfassung der Einstellungen von fortgeschrittenen Medizinstudenten zur Humangenomforschung einerseits und zur Anwendung genetischer Diagnostik bei Tumorpatienten andererseits. Den Hintergrund des Forschungsinteresses bildet dabei die zunehmende Relevanz humangenetischer Forschung für die medizinische Praxis.

Methoden: Insgesamt 167 Medizinstudentinnen und -studenten (54% weiblich, Alter 24 +/- 2 Jahre) aus dem 2. Studienabschnitt wurden in Pflichtveranstaltungen der Universität Leipzig mit einem Fragebogen befragt. Erhoben wurden Bewertungen der Humangenomforschung und der genetischen Diagnostik bei Krebspatienten sowie generelle Werthaltungen und soziodemographische Angaben der Befragten.

Ergebnisse: Die Befragten halten die Humangenomforschung für relevant und beurteilen sie positiv, v.a. aufgrund medizinischer Nutzenerwartungen. Genetische Diagnostik von Tumorpatienten als humangenetisches Anwendungsgebiet wird ebenfalls als relevant eingeschätzt. Deutlich wird, dass die Befragten den ärztlichen Maßnahmen zur Identifikation des genetischen Hintergrunds von Tumorerkrankungen (Familienanamnese, Aufklärung über genetische Diagnostik) hohen Stellenwert einräumen. Es werden Defizite in der Medizinausbildung festgestellt und reflektiert: die verstärkte Integration humangenetischer Inhalte in die Ausbildung wird gefordert.

Diskussion: In Übereinstimmung mit der neuformulierten Approbationsordnung für Ärzte legen die Ergebnisse nahe, aktuelle Entwicklungen der Humangenetik in der medizinischen Ausbildung stärker zu betonen. Dies könnte über die Ausweitung des Stundenanteils für diese Inhalte und die Überführung entsprechender Veranstaltungen in obligatorische realisiert werden.

Schlüsselwörter: medizinische Ausbildung, Einstellungen, Humangenomforschung, genetische Diagnostik

Abstract

Purpose: The study aimed to describe students' attitudes towards human genome research and towards genetic counselling and testing at cancer patients. The background of this investigation provided the increasing relevance ob human genetics research for clinical practice.

Methods: A total of 167 medical students (54% female, aged 24 +/- 2 years) from the second phase of their studies were surveyed in obligatory courses at the University of Leipzig, using a standardized questionnaire. Topics of the survey were attitudes towards human genome research and genetic counselling and testing at cancer patients as well as general values and socio-demographic data of the students.

Results: The students consider human genome research as relevant and evaluate it positively, mainly based on expectations of medical uses. Genetic counselling and testing at cancer patients as an application of human genetics is also evaluated as important. The students attribute high relevance to clinical procedures for identification of genetic backgrounds for cancer (family history, information about genetic diagnostic). Nevertheless, deficits in their medical education are highlighted und reflected upon: the increased integration of human genetic content into medical curricula is demanded.

Discussion: In accordance with the newly formulated „Approbationsordnung für Ärzte", the results suggest that current human genetic development should be more emphasized in medical education. This could be realized by an enlarged ratio of human genetic courses within curricula and by the transformation of these courses from facultative into obligatory.

Keywords: medical education, attitudes, human genome research, genetic diagnostic


Fragestellung

Humangenetische und medizinische Forschung und Anwendung werden zunehmend verknüpft: Humangenetisches Wissen begründet immer häufiger medizinische Praxis, humangenetische Erkenntnisse werden zunehmend in diagnostische und therapeutische Anwendungen überführt [3]. Humangenetik wird verstärkt als medizinisches Fachgebiet innerhalb des klinischen Managements multifaktorieller Erkrankungen professionalisiert [6], der Verweis auf medizinische Anwendungen und speziell auf mögliche Krebsdiagnostik und -therapie dient als zentrales legitimatorisches Argument humangenetischer Forschung [7].

Es stellt sich die Frage, ob die Vermittlung humangenetischer Kenntnisse in der Ausbildung von Medizinern diesen Fakten entsprechend repräsentiert ist. Durch die neuformulierte Approbationsordnung für Ärzte [1] sind die medizinischen Fakultäten Deutschlands aufgefordert, den sich rasch wandelnden Anforderungen an den Arztberuf und dem gewachsenen biomedizinischen Wissen durch die Intensivierung praxisnaher Ausbildung Rechnung zu tragen [5]. Da die Ausgestaltung dieser Richtlinien den einzelnen medizinischen Fakultäten selbst obliegt, können generalisierende Aussagen kaum getroffen werden. An der Universität Leipzig beispielsweise wurden humangenetische Inhalte zum Zeitpunkt der Befragung lediglich in fakultativen Veranstaltungen vorwiegend im zweiten Studienabschnitt vermittelt. Sie sind somit einerseits nicht für alle Studierenden verbindlich und machen andererseits nur einen Bruchteil der Medizinausbildung aus. Initiativen wie „Genetics in Primary Care" aus den USA, die die genetische Expertise von Medizinstudenten und Berufsanfängern verbessern sollen [2], fehlen hierzulande. Angesichts der zunehmenden Verzahnung von Ausbildungsinhalten mit medizinischen Anwendungen kann dies als Manko interpretiert und mit der Forderung verbunden werden, mehr (verpflichtende) Ausbildungsteile für die Vermittlung humangenetischer Kenntnisse abzustellen.

Neben der Betrachtung der Curricula medizinischer Ausbildung können auch die Einstellungen der betroffenen Studierenden Hinweise darauf geben, im welchem Umfang und wie verpflichtend humangenetische Inhalte in die medizinische Ausbildung integriert werden sollten. Es ist aus grundlagenorientierter soziologischer Perspektive und anwendungsbezogener klinischer Perspektive instruktiv zu wissen, wie zukünftige Ärzte (auch Primärversorger) diesen Themen gegenüber eingestellt sind [8]. Schließlich sind die Studierenden privilegiert in der Lage, die medizinische Ausbildung zu beurteilen. Ziel der hier vorgestellten Untersuchung ist daher, die Einstellungen von Medizinstudentinnen und -studenten der Universität Leipzig zu Humangenetik und genetischer Diagnostik zu erheben. Die systematische Erfassung dieser Einstellungen kann anschließend Ausgangspunkt für strukturelle Überlegungen hinsichtlich des Studiums sein.


Methoden

Im Juni und Juli 2003 wurden 167 Medizinstudentinnen und -studenten der Universität Leipzig befragt (54% weiblich, Alter: 24 +/- 2 Jahre). Bei der Stichprobenziehung wurde zum Einen darauf geachtet, fortgeschrittene Studierende zu befragen, die aufgrund ihrer mehrjährigen Studienerfahrungen zu einer kompetenten Einschätzung ihrer Ausbildungslage befähigt sind. Das Gros der Befragten (93%) befand sich dementsprechend im 8. medizinischen Fachsemester, alle anderen zwischen dem 6. und 9. Fachsemester. Zum anderen wurde die Befragung innerhalb von Lehrveranstaltungen durchgeführt, die für alle Studierenden obligatorisch zu besuchen sind. Auf diese Weise wurden Selektionseffekte in der Stichprobe weitgehend ausgeschlossen.

Das verwendete Instrument war ein standardisierter Fragebogen, gegliedert in inhaltliche Komplexe:

1) zur Bewertung der Humangenomforschung, also der Totalsequenzierung der menschlichen DNA als einem zentralen humangenetischen Grundlagenforschungsfeld (14 Items und eine Frage zur allgemeinen Einstellung zu Humangenomforschung);

2) zur Bedeutung genetischer Diagnostik bei Krebspatienten als einem Anwendungsfeld, in dem humangenetische Erkenntnisse Auswirkungen auf die klinische Versorgung haben (9 Items);

3) zu generellen Werthaltungen der Studierenden (11 Items zu Menschenbild, politischen Einstellungen und Religiosität) sowie

4) zu soziodemographischen Angaben über die Befragten (3 Items zu Alter, Geschlecht und Fachsemester).

Die statistische Auswertung wurde mit SPSS für Windows realisiert.


Ergebnisse

Der humangenetischen Grundlagenforschung stehen die Studierenden aufgeschlossen gegenüber. Sie halten die Humangenomforschung für einen bedeutsamen Forschungszweig. Drei Viertel der Befragten meinen, die Sequenzierung des menschlichen Erbgutes sei ein „Fortschritt für die Menschheit" - demgegenüber können nur wenige in ihr eine grundlegende Gefahr erkennen.

Folgerichtig beurteilen zwei Drittel der Befragten Humangenomforschung positiv. Dies fusst v.a. auf der weitverbreiteten Überzeugung, dass Humangenomforschung in der Lage ist, medizinischen Fortschritt zu generieren. Die Mehrheit der Befragten glaubt, dass Humangenomforschung Therapien verbessern und „die Lebenserwartung des Menschen verlängern" helfen wird. Die meisten Befragten sind zudem der Meinung, Humangenomforschung sei generell „gut für die Wissenschaftsentwicklung in Deutschland".

Diese positiven Einschätzungen finden sich gleichermaßen in allen Altersgruppen, unter politisch eher rechts und links verorteten und unter religiösen und nicht-religiösen Befragten. Sie sind aber unter Befürwortern der Humangenomforschung stärker ausgeprägt als unter ihren Kritikern. Zudem stimmen ihnen mehr Männer als Frauen zu, während Frauen eher als Männer bereit sind, die Forschungsfreiheit bzgl. Humangenomforschung einzuschränken.

Allerdings zeigt sich über alle Befragten hinweg eine Sensibilität für vermeintlich kritische Aspekte. So wird auf die Möglichkeit genetisch basierter Diskriminierung verwiesen und die Mehrbeachtung ethischer Fragen gewünscht. Dies wird jedoch nicht mit der Forderung politischer oder juristischer Regulierung verbunden - stärkere Einschränkungen der Forschungsfreiheit werden für die Humangenomforschung mehrheitlich abgelehnt. Tendenziell wird statt dessen die Eigenverantwortung der Wissenschaft betont, die dafür zuständig sei, für von ihr bereitgestelltes Wissen auch die Verwendungsverantwortung zu übernehmen (Tabelle 1 [Tab. 1]).

Befragt man die Studierenden weiterhin nach Ihrer Einstellung zur genetischen Diagnostik bei Tumorpatienten, so kann festgestellt werden, dass diese Anwendung humangenetischer Erkenntnisse als relevant eingeschätzt wird. Die Befragten betonen, dass es auch in der Primärversorgung wichtig ist, eine Familienanamnese per Stammbaum zu erheben. Zudem wird die Mutationssuche in Krebsdispositionsgenen als notwendig erachtet - auch wenn offen bleibt, ob dies bereits Aufgabe der primärversorgenden Ärzte sein müsse. Die stärkste Zustimmung erhält die Aussage, dass Tumorpatienten mit bekannt gewordener Familiarität der Tumorerkrankung (Indikatoren im Stammbaum: gehäuftes Auftreten und junges Erkrankungsalter) über die prinzipielle Möglichkeit zur Validierung der Stammbauminformation per genetischer Beratung und Testung aufgeklärt werden müssen. Eher unentschieden stehen die Befragten jedoch generellen genetischen Risikogruppen-Screenings für neuerkrankte Tumorpatienten gegenüber.

Aus studentischer Perspektive werden dabei sowohl die Zusammenarbeit zwischen primärversorgenden Ärzten und genetischen Experten als auch das Ausmaß der Erhebung krebsspezifischer Familienanamnesen in der Primärversorgung als eher ungenügend eingeschätzt. Allerdings wird hier deutlich, dass auch die befragten fortgeschrittenen Studierenden mit diesen, aktuellen Aspekten der Versorgung im Bereich genetischer Diagnostik bei Tumorpatienten zuwenig vertraut sind - je ein Drittel der Befragungsteilnehmer antwortete mit „weiß nicht". Auch der Einbeziehung der Familie in die Abklärung eines genetischen Befunds gegenüber zeigten sich die Studierenden insgesamt eher unentschlossen (Tabelle 2 [Tab. 2]).

Über die Beantwortung der standardisierten Fragen hinaus hatten die Studierenden die Möglichkeit, eigene Anmerkungen zu ergänzen. Dabei zeigte sich eine differenzierte Beurteilung des Themengebiets. Explizit einbezogen wurden medizinische Sachverhalte wie die Abhängigkeit der Aussagen vom Erbgang. Von einigen Befragten wurde darauf verwiesen, dass Diagnostik nur bei komplementären Therapiemöglichkeiten sinnvoll ist und der Nutzen für den Patienten im Einzelfall abgewogen werden müsse, zumal die Kosten genetischer Diagnostik beträchtlich seien. Zudem dürfe die Untersuchung nur auf Wunsch des Indexpatienten durchgeführt werden.

Deutlich zeigt sich die kritische Beurteilung der aktuellen Ausbildungssituation durch die Befragten: Es sei im humangenetischen Bereich „zu wenig praktische Erfahrung vorhanden", man wünscht sich „Treffen" im Sinne interaktiver Fallarbeit mit Tumorpatienten in kleinen Gruppen und intensivere Übungen von Patientengesprächen. Humangenetische Inhalte sollten verstärkt, „am besten als Pflichtkurs" in die medizinische Ausbildung integriert werden.


Diskussion

Die Humangenetik stellt die medizinische Hochschulausbildung vor eine Herausforderung: Eine Fülle von Informationen wird innerhalb kurzer Zeit medizinisch relevant und somit zum potentiellen Lehrinhalt. "Well it´s going to be analogous to dumping the Encyclopedia Britannica on a ten-year-old. We´re going to be able to read it, we´re going to have a lot of information there... The largest part of the challenge is going to be making sense out of it and deciding how we use it - making sense of its utility if you will." [4].

Dass die medizinische Ausbildung dem nicht adäquat nachkommt, kann anhand der universitären Curricula festgestellt werden. Die hier erhobenen Einstellungen fortgeschrittener Studierender zu ihrer Ausbildung unterstreichen dieses Fazit. Die Befragten halten humangenetische Forschung für wichtig und beurteilen sie positiv. Diese Einstellung gehen mit medizinischen Nutzenerwartungen einher. Ebenso wird der genetischen Diagnostik bei Tumorpatienten hohe Relevanz eingeräumt, zugleich aber auf die unzureichende Praxis in diesem Bereich verwiesen. Dabei deutet sich an, dass sich die Studierenden durchaus eines Mangels an humangenetischen Inhalten in der medizinischen Ausbildung bewusst sind und diesen differenziert reflektieren.

Diese Ergebnisse lassen sich als Plädoyer für die intensivierte Eingliederung humangenetischer Inhalte in die medizinische Ausbildung lesen. Dass diese Inhalte in der überarbeiteten Approbationsordnung [1] stärker und explizit akzentuiert wurden, ist daher ein richtiger Schritt. Es bleibt darüber hinaus bedenkenswert, ob die Veranstaltungen zu Humangenetik an den einzelnen Universitäten nicht von einem dominant fakultativen in einen obligatorischen Status überführt werden und zudem zeitlich ausgeweitet werden sollten. Andernfalls könnte hier die Chance vertan werden, neue Erkenntnisse einer relevanten Disziplin adäquat in die medizinische Ausbildung zu integrieren.

An der medizinischen Fakultät der Universität Leipzig hat man in der Zwischenzeit mit dieser Umorientierung begonnen: Gegenwärtig wird eine neue Studienordnung implementiert, bei der einzelne humangenetische Veranstaltungen obligatorischen Charakter haben und insgesamt mehr Gewicht bekommen.


Danksagung

Die Autoren danken Susanne Ender, Anja Frank und Stine Rüger, die Teile der Datenerhebung realisierten, sowie Anja Mersiowski, die den Datensatz zur Analyse aufbereitet hat.


Literatur

1.
Approbationsordnung für Ärzte. Bundesgesetzblatt 03.07.2002. 2002; I(44):2405-2435.
2.
Burke W, Acheson l, Botkin J, Bridges K, Davis A, Evans J. Genetics in Primary Care: A USA Faculty Development Initiative. Community Genet. 2002;2002(5):138-146.
3.
Gerling IC, Solomon SS, Bryer-Ash M. Genomes, Transcriptomes, and Proteomes. Molecular Medicine and Its Impact on Medical Practice. Arch Intern Med. 2003;163(2):190-198.
4.
Mountcastle-Shah E, Holtzmann N. Primary care physicians´ perceptions of barriers to genetic testing and their willingness to participate in research. Am J Med Genet. 2000;94(5):409-416.
5.
Nippert RP. Curriculare Konsequenzen und Möglichkeiten durch die neue Approbationsordnung für Ärzte. medizin - bibliothek - information. 2004;4(1):22-24.
6.
Pfadenhauer M. Das Professionalisierungsprojekt der Humangenetik. In: Allmendiger J, editor. Entstaatlichung und soziale Sicherheit. Verhandlungen des 31. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Leipzig [CD-ROM]. Opladen: Leske+Budrich; 2003.
7.
Smart A. Reporting the dawn of the post-genomic era: who wants to live forever?. Sociol Health Illn. 2003;25(1):24-49.
8.
Strebel B, Obladen M, Lehmann E, Gaebel W. Einstellungen von Studierenden der Medizin zur Psychiatrie. Eine Untersuchung mit einer in das Deutsche übersetzten, erweiterten Version des ATP-30. Nervenarzt. 2000;71(3):205-212.