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Kommunikation Hörgeschädigter in Vergangenheit und Gegenwart
Past and present communication in the education of the deaf and hard of hearing
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Veröffentlicht: | 9. Oktober 2024 |
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Gliederung
Zusammenfassung
Historisch gewachsen stand in Deutschland – basierend auf der Argumentation und dem Vorgehen von Samuel Heinicke in seiner 1778 gegründeten Taubstummenanstalt in Leipzig – die lautsprachliche Erziehung im Zentrum der schulischen Bildung und Erziehung. Die Dominanz der lautsprachlichen Förderung blieb bis in die 1960er Jahre erhalten. Zu diesem Zeitpunkt belegten erstmalig Forschungsergebnisse aus den USA, dass die Gebärden der Gehörlosen alle linguistischen Kriterien einer Sprache erfüllen.
In den 1980er Jahren kam es nahezu zeitgleich zur zunehmenden Akzeptanz und Anerkennung der Gebärdensprache auf der einen Seite und zur Einführung und Etablierung des Cochlea-Implantates, die eine lautsprachliche Förderung erleichterte, auf der anderen Seite. Während man beides anfänglich als Gegensatz/Widerspruch sah, werden zunehmend die Möglichkeiten der gebärdensprachlichen und lautsprachlichen Förderung in rehabilitativen und schulischen Kontexten miteinander verknüpft. Betroffene selbst positionieren sich zum Teil sehr unterschiedlich.
Abstract
The spoken language approach in the education of the deaf and hard of hearing in Germany can be traced back to the methods employed at the Institute for the Deaf and Dumb founded by Samuel Heinicke in Leipzig, 1778. It remained dominant right up until the sixties, by which time research conducted in the USA proved that sign language could fulfill all linguistic criteria governing a language.
The eighties witnessed an almost simultaneous acceptance and recognition of sign language on the one hand and – by means of the cochlear implant – oral communication training on the other. Whilst these two approaches seemed initially contradictory, they are now frequently combined as standard methods of teaching and learning in both schools and rehabilitative facilities. Those concerned, however, hold varying opinions on this practice.
Historischer Hintergrund – wie die (schulische) Hörgeschädigtenbildung (in Deutschland) begann
Allgemein gelten die Schulgründungen in Paris im Jahr 1770 und in Leipzig im Jahr 1778 als auslösend für das Entstehen einer institutionalisierten Bildung „Taubstummer“ weltweit. Der damals verwendete Begriff „Taubstumme“ umfasste zu dieser Zeit nicht nur Menschen mit Taubheit, sondern all jene, die auf auditivem Weg nicht zu erreichen waren, also auch einen Teil der Menschen, die wir heute im audiologischen Sinne als „schwerhörig“ bezeichnen1. Aber bereits vor den Schulen in Paris und Leipzig gab es erste Taubstummenanstalten. Von „Anstalt“ sprach man, weil die Schülerklientel der Einrichtung auch in dieser wohnte, da sie nur in den seltensten Fällen vor Ort beheimatet war. Alle Einrichtungen gingen auf private Einzelinitiativen zurück. So beispielsweise die 1760 von Thomas Braidwood gegründete Schule in Edinburgh, die allgemein als erste Schule für Hörgeschädigte in Großbritannien gilt, und die 1768 von Johann Arnoldi eröffnete Schule für Hörgeschädigte in Groß(en)linden2 bei Gießen. In beiden Fällen finanzierten sich die Einrichtungen über ein Schulgeld, das die Eltern der taubstummen Schülerinnen und Schüler entrichten mussten. Der Besuch der Schulen war entsprechend kostenintensiv. Nur wohlhabenden Eltern war es möglich, ihre Kinder auf diese Schulen zu schicken.
Braidwoods Vorgehen bei der Unterrichtung war eine Kombination von Gebärdensprache, Artikulation (also Lautsprache) und Absehen. Während Braidwood seine Methode geheim hielt – was dazu führte, dass heute nur wenige und zum Teil widersprüchliche Aussagen zu seinem Vorgehen vorliegen (so lassen sich über den Umfang und das Verhältnis von Laut- und Gebärdensprache kaum sichere Aussagen treffen – verfasste Arnoldi mehrere Publikationen (beispielhaft genannt seien die von 1777 [1], [2] und 1781 [3]) und machte damit sein Vorgehen öffentlich. Er kombinierte bei seiner Methode Sprechen, Schreiben und Absehen. Arnoldi hatte bereits vor Gründung seiner Schule ab 1759 (als 22-Jähriger) auf dem Hofgut Appenborn bei Rabenau die Kinder (darunter ein gehörloser Sohn) des Generals Rabenau unterrichtet. Arnoldi verfügte daher über Wissen und Erfahrungen bei der Unterrichtung Hörgeschädigter. Die von ihm gegründete Schule wurde von Löwe ([4], S. 35) als erste deutsche Gehörlosenschule bezeichnet.
Die Taubstummenanstalten in Paris und Leipzig
Die Taubstummenanstalt in Paris (eröffnet 1770) wurde von Abbé de l’Epée (1712–1789) eröffnet. Als Geistlicher war es ihm ein zutiefst menschliches Anliegen, Menschen mit Taubheit zu helfen. Seine Methode basierte auf der Verwendung von Gebärdenzeichen (sogenannten Wurzel- und Handzeichen) und der Schrift, die als „Brücke“ zu den Hörenden genutzt werden sollte. Geprägt war sein Vorgehen durch die sprachphilosophischen Auffassungen jener Zeit. Der Ansatz und das Vorgehen sind in die Fachliteratur als „Französische Methode“ eingegangen.
1778 eröffnete Samuel Heinicke (1727–1790) das „Chursächsische Institut für Stumme und mit anderen Sprachgebrechen behaftete Personen“ in Leipzig, nachdem er bereits erste Erfahrungen mit der Unterrichtung eines Taubstummen (im Jahr 1754 oder 1755; vgl. [5], S. 10) während seiner Zeit in der Leibgarde in Dresden (1750–1754) gesammelt und später als Küster und Schulhalter in Eppendorf bei Hamburg nebenamtlich Taubstumme unterrichtet hatte. Im Zentrum seines Vorgehens stand die Vermittlung der Lautsprache. Er stellte „das Prinzip des in der Lautsprache sprechenden und in dieser Sprache denkenden Taubstummen auf“ ([6], S. 147). Heinicke war durch die Ideen der Aufklärung, insbesondere durch Kant und Herder, geprägt: Der Mensch wird als sprechendes und daher Verstand besitzendes Lebewesen gesehen. Ebenso ging man vom Gedanken aus, dass Lautsprache und Denken eine untrennbare Einheit bilden. Nach Heinicke sollte der Taubstumme zum nützlichen Mitglied der Gesellschaft werden, was für ihn nur über die Lautsprache möglich war. Der Ansatz und das Vorgehen Heinickes wird seit jeher als „Deutsche Methode“ bezeichnet.
Grundlage der Deutschen Methode war vor allem das Arcanum. Das Arcanum ist eine acht Seiten umfassende Schrift, in der Heinicke (als seine Erfindung) die Laute über den Geschmackssinn (z.B. mit Essig für i, Zuckerwasser für o, Wermutextrakt für e, reines Wasser für a und Baumöl für u) – ergänzt durch den Tastsinn – anbilden wollte. Die Schrift verfasste er bereits 1772, also noch während seiner Eppendorfer Zeit ([5], S. 53). Samuel Heinicke hielt die Schrift bzw. den Inhalt geheim, was zu zahlreichen Spekulationen führte. Erst durch Ernst Stötzner, der durch Schenkung in Besitz des Arcanums gekommen war, wurde der Inhalt bekannt, nachdem dieser das Siegel gebrochen hatte. Das Arcanum erwies sich als bedeutungslos. Als einer der möglichen Gründe, warum Heinicke die Schrift geheim hielt, wird angenommen, dass diese der finanziellen Absicherung bzw. Vorsorge seiner Familie galt. Seine Ehefrau Anna Catharina Heinicke war 30 Jahre jünger als er. Beide waren in zweiter Ehe verheiratet, nachdem der erste Partner jeweils verstorben war. Obwohl in der Fachliteratur ausschließlich Samuel Heinicke als Gründer der Taubstummenanstalt zu Leipzig gilt, erschließt sich aus heutiger Sicht, dass die Ehefrau von Samuel Heinicke wesentlichen Anteil daran hatte, dass die Einrichtung auch bestehen konnte. Die Taubstummenanstalt war (wie nahezu alle der später gegründeten Einrichtungen) ein „Familienunternehmen“, das (nur) durch die Mitwirkung der Ehefrau und weiterer Familienmitglieder, z.B. Heinickes Kinder aus erster Ehe, bestehen konnte. Anna Catharina Heinicke hatte zudem zwei gehörlose Brüder [7], wodurch sie Erfahrungen und Kompetenzen im Umgang mit Taubstummen bzw. Hörgeschädigten hatte und einbrachte. Nach dem Tod von Samuel Heinicke – die Taubstummenanstalt in Leipzig bestand zu diesem Zeitpunkt 12 Jahre – betrieb seine Frau Anna Catharina Heinicke die Schule weiter. Frau Heinicke übernahm die Schule in einem kritischen Zustand: Samuel Heinicke hatte sich in den letzten Jahren vor seinem Tod nach zahlreichen Fehlschlägen aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, die Schule befand sich in einer schlechten finanziellen Lage, es herrschte Lehrermangel und die Anstalt konnte nur geringe Ausbildungsergebnisse nachweisen. In Heinickes Todesjahr besuchten nur zwei Schüler das Institut.
Itterheim [8] betrachtet das Lebenswerk Samuel Heinickes und schätzt im Gesamtüberblick ein, dass er etwa 100 taube Schülerinnen und Schüler betreut hat.
Anna Catharina Heinicke änderte nach Übernahme der Taubstummenanstalt zwar das methodische Vorgehen nicht, aber unter ihrer Leitung kam es zu zahlreichen Weiterentwicklungen und Neuerungen: Ab 1810 konnte sie für die Absolventen der Taubstummenanstalt eine berufliche Qualifizierung sichern, indem dem Lehrmeister 50 Taler gezahlt wurden. Es gelang ihr, die Schule von der Vorstadt in die Leipziger Innenstadt zu verlegen. Ab 1814 organisierte sie für die Schülerinnen und Schüler Landaufenthalte, die der Erholung in der Sommerfrische dienten ([9], S. 46). 1818 kam es zur Einführung einer Sonntagsschule für erwachsene Gehörlose/Taube, die zur Weiterbildung, aber auch der Geselligkeit dienten. 1821 zog die Schule in ihr erstes eigenes Schulgebäude, was durch eine Stiftung von 40.000 Talern der Witwe Luise Carl möglich wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt musste sich die Schule durch Mietverhältnisse über Wasser halten. 1822 stellte sie erstmalig einen Absolventen der Schule (Carl Wilhelm Teuscher) als Lehrkraft ein, den sie zuvor qualifiziert hatte. Anna Catharina Heinicke behielt die Leitung der Anstalt bis 1828 inne, war also 38 Jahre für diese verantwortlich. Bei Übergabe der Schule besuchten 53 Schülerinnen und Schüler die Einrichtung.
Festzuhalten bleibt, dass sich die Bedeutung der Taubstummenanstalten in Paris und Leipzig aus den öffentlich ausgetragenen Streitigkeiten ihrer Gründer ergibt. Aus heutiger Sicht ist einzuschätzen, dass Abbé de l’Epée vermutlich sehr weltoffen war. Er gewährte zahlreichen Hospitanten Einblick in seine Arbeit und veranstaltete öffentliche „Vor- und Aufführungen bzw. Präsentationen“ durch seine Schülerinnen und Schüler. Zu seinen Förderern zählten beispielsweise Ludwig XVI., Joseph II. und Zarin Katharina II. Sein Nachfolger Abbé Sicard hat das Vorgehen von de l’Epée ausgestaltet. Das gilt sowohl für die praktisch-methodische Umsetzung als auch den Versuch einer wissenschaftlichen Begründung. Samuel Heinicke hinterlässt den Eindruck eines rechthaberischen und teilweise cholerisch auftretenden Zeitgenossen. Besonders seine letzten Lebensjahre waren von literarischen Fehden und philosophischen Studien geprägt. Die geführten Auseinandersetzungen hatten ihn zermürbt. Seine Nachfolgerin Anna Catharina Heinicke entwickelte zwar die Methode ihres Mannes nicht weiter, stabilisierte aber die Schule, brachte diese voran und verhalf ihr so zu einem dauerhaften Bestand.
Aus den öffentlich ausgetragenen Streitigkeiten von Abbé de l’Epée und Samuel Heinicke erwuchs ein nicht geringer Bekanntheitsgrad der beiden Taubstummenanstalten, der zugleich auf die Lage der bis zu diesem Zeitpunkt unbeschulten Tauben aufmerksam machte. Das führte zu einem Problembewusstsein in der Gesellschaft, was zu weiteren Schulgründungen für Taubstumme führte. Die nachfolgend gegründeten Schulen orientierten sich in ihrem methodischen Vorgehen entweder an der Französischen oder der Deutschen Methode, deren territoriale Verbreitung (vor allem in Europa) der Abbildung 1 [Abb. 1] zu entnehmen ist.
Bis 1800 entstanden in Europa 12 Taubstummenschulen, bis 1900 war die Anzahl auf 397 angewachsen, in denen 23.772 taubstumme Schülerinnen und Schüler beschult wurden ([10], S. 421), ([6], S. 468).
Zwischenfazit
Die Hörgeschädigtenpädagogik ist historisch geprägt von den Auseinandersetzungen um Lautsprache und Gebärden(sprache). In Deutschland stand stets die lautsprachliche Förderung im Zentrum. Bestärkt wurde das Vorgehen durch eine Resolution auf dem zweiten internationalen Taubstummen-Lehrer-Kongress von 1880, der als „Mailänder Kongress“ in die Fachgeschichte einging. Von den dort verabschiedeten Resolutionen beinhaltete eine, dass die Anwendung der Lautsprache bei der Unterrichtung und Erziehung Taubstummer der Gebärdensprache vorzuziehen ist ([11], S. 12). Am Kongress nahmen 165 Lehrkräfte aus sieben Ländern teil, davon kamen drei Teilnehmer aus Deutschland ([11], S. 3). Betroffene selber waren in die Abstimmung nicht einbezogen.
Worauf basierte das Vorgehen zu dieser Zeit?
Im 18. und 19. Jahrhundert gab es noch keine Früherkennung, keine Frühförderung und keine technischen Hörhilfen. Nachweislich kamen die Schülerinnen und Schüler zur damaligen Zeit erst spät in die Einrichtungen, sie waren oft bereits 14-, 15- oder 17-jährig und besuchten die Schule nur für kurze Zeit (z.T. nur zwei Jahre). Zudem war noch keine audiologische Diagnostik möglich. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie auf dieser Basis ein lautsprachliches Vorgehen möglich war, wenn die Sprech- bzw. Artikulationsorgane bis zum Eintritt in die Taubstummenanstalt „ungenutzt“ waren und die Feinmotorik der Sprechorgane (Zunge, Wangen usw.) ungeübt war.
Allgemein bekannt ist, dass etwa bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts ein Großteil der Schülerschaft der Taubstummenschulen Ertaubte waren. Sie verfügten damit zum Zeitpunkt der Ertaubung bereits über ein Grundinventar an Lautsprache und ihre Sprech- und Artikulationsorgane waren trainiert bzw. geübt. Bis zur Gründung eigenständiger Schwerhörigenschulen (um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert) wurden in Taubstummenanstalten grundsätzlich Schülerinnen und Schüler mit Hörschädigung beschult. Demzufolge verfügte ein Teil von ihnen über mehr oder weniger gut verwertbare Hörreste. Sie waren nach heute gängiger audiologischer Definition schwerhörig. Beispiele bzw. Belege dafür lassen sich in der Fachliteratur finden; verwiesen sei auf Eugen Sutermeister, der im seinem „Quellenbuch zur Geschichte des Schweizerischen Taubstummenwesens“ von 1929 [12] entsprechende Fallbeispiele (s. S. 47 und 55, beide vermutlich schwerhörig) beschreibt. Treibel ([11], S. 12) verweist in seiner Abhandlung, auf einen „im 7. Lebensjahre vollständig ertaubten Sohn des Dr. Köchlin in Mühlhausen [der] nach der deutschen Methode“ unterrichtet wurde.
Des Weiteren waren die Taubstummenschulen zur damaligen Zeit zugleich für Sprachauffällige zuständig, wie es auch schon die Bezeichnung von Heinicke für die von ihm gegründete Schule deutlich macht („Chursächsisches Institut für Stumme und mit anderen Sprachgebrechen behaftete Personen“).
Obwohl der Lautspracherwerb („Deutsche Methode“) in Deutschland zentral war, bleibt anzunehmen, dass Gebärden immer auch in den Taubstummenanstalten (nachweislich auch bei Samuel Heinicke) präsent waren, wenn auch in den einzelnen Einrichtungen in sehr unterschiedlichem Umfang. Gebärden fand man insbesondere in Taubstummenanstalten mit großen Schülerzahlen. Pädagogisch eingefordert haben es vor allem Johann Heidsiek (1855–1942) (Breslau, heute Wroclaw), Joseph Heinrichs (1845–1919) (Brühl), Emil Reuchert (1861–1918) (Wriezen und Berlin) sowie Matthias Schneider (1869–1950) (Frankfurt und Braunschweig).
Ein verstärktes Nachdenken über den Einbezug der Gebärdensprache in den Unterricht erfolgte in Deutschland mit Bekanntwerden der Forschungsergebnisse von William Stokoe (1919–2000), einem Linguisten, der in Zusammenarbeit mit Dorothy Sueoka Casterline und Carl G. Croneberg (beide gehörlos) in den 1960er Jahren aufzeigen konnte, dass die American Sign Language (ASL) eine vollwertige Sprache ist und diese alle linguistischen Kriterien einer Sprache erfüllt. Für den deutschsprachigen Raum sind die ersten Forschungen zur Gebärdensprache vor allem mit Siegmund Prillwitz und Ulrich Hase verbunden. 2002 wurde die Gebärdensprache in Deutschland offiziell anerkannt, nachdem bereits mit dem SGB IX vom 19.06.2001 die Verwendung der Gebärdensprache im Sozialleistungsbereich als eigenständige Verständigungsform anerkannt worden war. Seither haben Gehörlose das Recht, Gebärdensprache zu verwenden und damit das Recht auf Dolmetscher für offizielle Zwecke. Entsprechende Regelungen zu Aufwendungen für Kommunikationshilfen gibt es für Menschen mit Schwerhörigkeit, hier insbesondere für das Schriftdolmetschen. Das setzt voraus, dass qualifizierte Gebärdensprach- und Schriftdolmetscher vorhanden sind und für diese entsprechende Ausbildungs- und Qualifikationsmöglichkeiten bestehen. In den letzten Jahren wurden technikbasierte Dienste und Applikationen (z.B. VerbaVoice, TeSS, Telesign) geschaffen, die ebenfalls der Kommunikationssicherung dienen [13].
Situation heute
Die aktuelle Situation ist mit der aus den Anfängen der Hörgeschädigtenbildung nicht vergleichbar. Beispielhaft verwiesen sei auf die Frühförderung von Kindern mit Hörschädigung (sie erfuhr seit den 1950er Jahren einen systematischen Ausbau), die als Angebot allen Eltern mit betroffenen Kindern zur Verfügung steht. Über Hochleistungshörgeräte und Cochlea-Implantate sind einem umfassenden Schülerkreis Höreindrücke möglich, die den Lautspracherwerb erleichtern bzw. ermöglichen. Seit 2009 gibt es für alle in Deutschland geborenen Kinder das Neugeborenenhörscreening.
In der laut- und/oder gebärdensprachlichen Förderung der Kinder und Jugendlichen mit Hörschädigung geht man heute von deren Bedarfen und den Wünschen der Eltern aus. Entsprechend finden in der schulischen Förderung Lautsprache UND Gebärdensprache Berücksichtigung.
Nach zögerlichem (Wieder-)Beginn der schulischen Integration in den 1980er Jahren werden inzwischen über die Hälfte der Kinder und Jugendlichen mit Hörschädigung inklusiv beschult. Im Schuljahr 2021/22 lernten 54,3% von ihnen in der allgemeinen Schule [14]. Damit findet die hörgeschädigtenspezifische Förderung zunehmend nicht mehr in Sondereinrichtungen statt, sondern wird in inklusiven Settings vollzogen. Gebärdensprachlich kommunizierende Schülerinnen und Schüler werden dabei von Gebärdensprachdolmetschern begleitet. Lautsprachlich kommunizierende Schülerinnen und Schüler nutzen ihre individuellen Hörhilfen und Übertragungsanlagen. Im Einzelfall werden Schriftdolmetscher (z.B. über VerbaVoice) hinzugezogen. Sowohl die gebärdensprachlich als auch die lautsprachlich kommunizierenden inkludiert beschulten Kinder und Jugendlichen werden im Regelfall durch eine oder einen vom Förderzentrum Hören entsandte Hörgeschädigtenpädagogin oder Hörgeschädigtenpädagogen unterstützt. Die Bezeichnung für diese Unterstützung, Begleitung und Beratung ist in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich (z.B. Mobiler Dienst, Ambulante Förderung, gemeinsames Lernen, ...).
Anmerkungen
1 Das betraf bereits mittelgradig schwerhörige Personen. Zu dieser Zeit gab es keine Hörhilfen und keine Frühförderung. Wenn keine Hörhilfen und keine frühe Förderung zur Verfügung standen, konnte das Kind auditiv nicht erreicht werden und keine Spontansprache entwickeln.
2 Es wird sowohl die Schreibweise Großlinden als auch Großenlinden verwendet.
Konferenzpräsentation
Dieser Kurzbeitrag wurde bei der 26. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Audiologie präsentiert und als Abstract veröffentlicht [15].
Interessenkonflikte
Die Autorin erklärt, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel hat.
Literatur
- 1.
- Arnoldi JLF. Praktische Unterweisung, Taub-Stumme Personen reden und sprechen zu lehren. Gießen: Krieger; 1777.
- 2.
- Arnoldi JLF. Denkwürdige Confirmations-Handlung der taubstummen Fräulein von T** mit einer Bitte an Menschenfreunde. Gießen: Krieger; 1777.
- 3.
- Arnoldi JLF. Praktische Unterweisung, Taub-Stumme Personen reden und schreiben zu lehren: fortgesetzte Unterweisung für Taube und Stumme: mit hinzugefügten Anmerkungen. Bd. 2. Gießen: Krieger; 1781.
- 4.
- Löwe A. Hörgeschädigtenpädagogik international. Heidelberg: HVA/Ed. Schindele; 1992.
- 5.
- Stötzner HE. Samuel Heinicke. Sein Leben und Wirken. Leipzig: Klinkhardt; 1870.
- 6.
- Schumann P. Geschichte des Taubstummenwesens vom deutschen Standpunkt aus dargestellt. Frankfurt a. M: Diesterweg; 1940.
- 7.
- Winkler J. Anna Catharina Elisabeth Heinicke (1757-1840). Erste Direktorin einer deutschen Gehörlosenschule. In: Fischer R, Lane H, editors. Ein Reader zur Geschichte von Gehörlosengemeinschaften und ihren Gebärdensprachen. Hamburg: Signum; 1993. p. 323-42.
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- Itterheim R. Brücken über die Stille. Samuel Heinicke – Anwalt der Gehörlosen. Ärzteblatt Thüringen. 2009;3:204-06.
- 9.
- Reich CG. Blicke auf die Taubstummenbildung und Nachricht über die Taubstummenanstalt zu Leipzig, seit ihrem 50jährigen Bestehen, nebst einem Anhange über die Articulation. 2. Auflage. Leipzig: Leopold Voß; 1828.
- 10.
- Karth J. Das Taubstummenbildungswesen im XIX. Jahrhundert. Breslau: Korn; 1902.
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- Treibel E. Der zweite internationale Taubstummenlehrer-Kongress in Mailand. Berlin: Issleib; 1881.
- 12.
- Sutermeister E. Quellenbuch zur Geschichte des Schweizerischen Taubstummenwesens. Bern: Selbstverlag; 1929.
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- Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland IVC/Statistik. Sonderpädagogische Förderung in allgemeinen Schulen (ohne Förderschulen) 2021/2022. Berlin: 2022 [accessed 2024 Apr 28]. Available from: https://www.kmk.org/dokumentation-statistik/statistik/schulstatistik/sonderpaedagogische-foerderung-an-schulen.html
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- Leonhardt A. Kommunikation Hörgeschädigter in Vergangenheit und Gegenwart. In: Deutsche Gesellschaft für Audiologie e.V., editor. 26. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Audiologie. Aalen, 06.-08.03.2024. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2024. Doc001. DOI: 10.3205/24dga001
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