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GMS Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS)

ISSN 1860-9171

Wissenschaft im neuen Curriculum Humanmedizin – Bericht zum neuen Nationalen kompetenzbasierten Lernzielkatalog Medizin (NKLM 2.0) aus Perspektive der in der GMDS vertretenen Kompetenzen

Science in the revised medical curriculum – implications of the National Competence-Based Learning Objectives Catalogue for Medicine (NKLM 2.0) for teaching data sciences as represented in the GMDS

Übersichtsarbeit

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  • corresponding author Antje Timmer - Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Abteilung Epidemiologie und Biometrie Oldenburg, Deutschland

GMS Med Inform Biom Epidemiol 2021;17(4):Doc16

doi: 10.3205/mibe000230, urn:nbn:de:0183-mibe0002302

Veröffentlicht: 20. September 2021

© 2021 Timmer.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Seit 2021 ist der überarbeitete Nationale kompetenzbasierte Lernzielkatalog Medizin (NKLM 2.0) zugänglich. Er wird Bestandteil der neuen Approbationsordnung für Ärzte (ApprOÄ) werden, die 2025 in Kraft treten soll. Auch Prüfungsthemen (Gegenstandskatalog, GK) sollen zukünftig auf der Basis des NKLM formuliert werden. Delegierte der Fachgesellschaften haben an der Überarbeitung des NKLM mitgewirkt.

Ziel des Berichtes: Informationen zu Stand, Struktur, fachrelevanten Lernzielen, ihrer Verortung im NKLM und damit verbundenen Herausforderungen sollen Lehrende der Epidemiologie, Biometrie und Medizininformatik („Q1-Fächer“) bei der Orientierung im NKLM und damit verbundener Lehrplanung unterstützen.

Methoden und Inhalte: Es handelt sich um einen narrativen Bericht, der auf dem publizierten NKLM sowie Erfahrungen aus der Arbeitsphase beruht. Nach Darstellung formaler Grundlagen (Struktur, Lernzielebenen, Kompetenztiefen) werden zunächst zugrundeliegende Konzepte wie das Z-Curriculum und die Absolventenprofilorientierung kurz erläutert. Anschließend wird beispielhaft das Kapitel zu medizinisch-wissenschaftlichen Fertigkeiten detailliert in seiner Relevanz für die Q1-Fächer dargestellt.

Fazit und Ausblick: Zusammenfassend zeigen die Entwicklungen an NKLM, GK und ApprOÄ die steigende Bedeutung und verbesserte Gestaltungsmöglichkeiten der Q1-Fächer in der Medizinlehre. Herausforderungen bestehen in der Komplexität des Katalogs, der veränderten Zuordnung zu Studienphasen und Prüfungen und möglichen Interferenzen bei der Abgrenzung fachlicher Zuständigkeiten.

Schlüsselwörter: medizinische Ausbildung, Epidemiologie, Biometrie, medizinische Information, wissenschaftliche Ausbildung

Abstract

Background: The revised National Competence-Based Learning Objectives Catalogue for Medicine (NKLM 2.0) is available since 2021. It will be part of the new licensing regulations for physicians (ApprOÄ), which are to come into force in 2025, and will also form the basis for the subject catalogue for state examinations (GK).

Aim of the report: Information on the status, structure, relevant learning objectives, their location in the NKLM and specific challenges are presented to support lecturers of epidemiology, biometrics and medical informatics ("Q1 subjects") when revising teaching concepts to comply with the new regulations.

Methods and content: This is a narrative report based on the published NKLM and experiences gathered during the revision phase. Following presentation of formal elements such as general structure and levels of competency, underlying concepts such as the Z-Curriculum and profile orientation are briefly explained. Subsequently, the chapter on science skills is presented in detail to show its relevance and challenges for epidemiology, medical biometry and medical informatics.

Conclusion and outlook: In summary, the developments as presented in the NKLM 2.0, GK and ApprOÄ show the increasing importance of the data sciences in medical education. All subjects are challenged by the complexity and interdisciplinary character of the catalogue.

Keywords: medical education, epidemiology, biometry, medical information, science education, NKLM


Hintergrund und Ziel

2021 wurde auf der Basis des Masterplans Medizinstudium 2020 die neue Version des Nationalen kompetenzbasierten Lernzielkatalogs Medizin (NKLM) unter Beteiligung von Delegierten der Fakultäten und Fachgesellschaften fertiggestellt [1], [2]. Er ist als Produkt des Medizinischen Fakultätentages (MFT) seit Ende April 2021 über https://www.nklm.de/ frei zugänglich. Der NKLM wird Bestandteil der neuen Approbationsordnung für Ärzte (ApprOÄ) werden [3]. Damit werden für die Fakultäten verpflichtend die Lehrgegenstände im Medizinstudium festgelegt. Gleichzeitig erfolgte während der Entwicklungsphase eine Festlegung von Kompetenztiefe und Prüfungsrelevanz. Dies soll als Grundlage für die Gegenstandskataloge (GK) des Instituts für Medizinische und Pharmazeutische Prüfungsfragen (IMPP) dienen und damit eine Zusammenführung von Lehr- und Prüfungsinhalten gewährleisten [4].

Nahezu alle in NKLM, GK und ApprÄO zu erwartenden Änderungen betreffen auch die Fächer, die bisher im Querschnittbereich 1 (Q1) vertreten waren, also Epidemiologie, medizinische Biometrie und Medizininformatik. Die Stärkung der wissenschaftlichen Ausbildung innerhalb des Medizinstudiums, die Anerkennung der Relevanz von Prävention und die Bedeutung von Digitalisierung für Lehre, Wissenschaft und Versorgung zeigen allesamt die zunehmende Bedeutung dieser Fächer in der Medizinerausbildung. Dazu wird allerdings die klassische Fächerzuordnung nun vollständig aufgegeben. Gleichzeitig wird die Zuordnung von Fächern zu bestimmten Studienabschnitten aufgelöst. Gerade für sehr interdisziplinär orientierte Fächer wie die des Q1 mit ihren vielerlei Bezügen zu Aspekten der Prävention, Diagnostik und Therapie, aber auch Kommunikation, Management und Wissenschaft ist es wichtig, fachrelevante Lernziele mit ihren Bezügen zu anderen Fächern zu identifizieren und innerhalb des Gesamtkonzeptes einzuordnen.

Beispielhaft dient daher im Folgenden das vollständig überarbeitete Kapitel VIII.1 „Medizinisch-Wissenschaftliche Fertigkeiten“ (MWF) für eine erste Einführung in den neuen NKLM. Dazu werden zunächst einige formale Grundlagen dargestellt, die für das Verständnis der Darstellung im NKLM notwendig sind, gefolgt von Hinweisen zur Besonderheit der wissenschaftlichen Lernziele innerhalb des NKLM. Abschließend werden besonders Q1-relevante Abschnitte des Kapitels im Einzelnen beschrieben. Ziel ist, Lehrenden dieser Fächer die Orientierung im NKLM zu erleichtern.


Formale Umsetzung

Neustrukturierung der Lernziele Wissenschaft

Wissenschaftsrelevante Ziele, wie sie sich im bisherigen NKLM sowohl in Kapitel 6 (Arzt als Gelehrter) [5] als auch Kapitel 14 (Medizinisch wissenschaftliche Fertigkeiten) finden, wurden für die Neubearbeitung in einem einzigen Kapitel zusammengefasst, auf Relevanz, Vollständigkeit und Redundanz überprüft und bezüglich der Formulierung und Präzisierungen angepasst. Das überarbeitete Kapitel findet sich in Abschnitt VIII des revidierten NKLM („NKLM 2.0“). Gleichzeitig wurde eine neue Untergliederung vorgenommen. In der folgenden Liste sind die Benennungen verkürzt. Die Hinweise in Klammern wurden von der Autorin erklärend ergänzt.

Dabei entsprechen die Kapitel Lernender, Kritischer Anwender, Lehrender und Innovator den Arztrollen, wie sie im NKLM von 2015 strukturierend waren. Neu hinzugekommen ist ein Kapitel für Wissenschaftstheorie, das eine bessere Abgrenzung fachlich übergreifender theoretischer Konzepte von den Methoden, wie wir sie in der Epidemiologie und Biometrie verwenden, ermöglicht. Die Unterkapitel 6 und 7 wurden eingefügt, um die Relevanz praktischer Anwendung im Rahmen eigener Forschung herauszuheben.

VIII Übergeordnete Kompetenzen

VIII.1 Medizinisch-wissenschaftliche Fertigkeiten

VIII.1.1 Zentrale Begriffe und Theorien der Wissenschaft (Wissenschaftstheorie)

VIII.1.2 Lernender (Grundkenntnisse Lernen)

VIII.1.3 Kritischer Anwender (Evidenzbasierte Medizin)

VIII.1.4 Innovator (Grundkenntnisse Forschung, „Toolbox“)

VIII.1.5 Lehrender (didaktische Grundkenntnisse)

VIII.1.6 Handlungskompetenz wissenschaftliche Methoden (Praktika)

VIII.1.7 Forschungsarbeit

Lernzielebenen und Kompetenztiefen

In Tabelle 1 [Tab. 1] sind beispielhaft Lernzielebenen für die beiden besonders Q1-relevanten Unterkapitel VIII.1.3 und VIII.1.4 gezeigt. Kompetenztiefe und Prüfungsrelevanz wurden auf Ebene 3 definiert. Zugehörige Lehrgegenstände sind auf Ebene 4 („Präzisierungen“) konkreter gelistet. Zusätzlich gibt es Querverweise in andere Kapitel oder auf Gesetzestexte.

Den Lernzielen der Ebene 3 sind jeweils Kompetenztiefen nach modifizierter Bloom’scher Taxonomie zugeordnet [6]. Unterschieden werden im NKLM die Dimensionen Wissen (kognitiv), Fertigkeiten (manuell) und Haltung. Für die Dimension „Wissen“ kommen nur die Kompetenztiefen 1 und 2 zur Anwendung, verkürzt Faktenwissen (nennen, beschreiben) und Begründungswissen (erklären, bewerten). Lernziele zu Projekt und Praktika, aber auch Abschnitte zur Evidenzbasierten Medizin wurden über „Fertigkeiten“ klassifiziert. Hier kommen noch die Ebenen 3a (selbst durchführen unter Anleitung) und 3b (selbstständig ohne Anleitung durchführen) zur Anwendung.

Prüfungszuordnung und Prüfungsrelevanz

Neu im revidierten NKLM ist die Angabe, bis wann die jeweiligen Lernziele bzw. Kompetenztiefen erreicht werden sollen. In der Entwicklungsphase wurde außerdem in Kooperation mit dem IMPP festgelegt, ob und wann sie für die qua ApprOÄ vorgesehenen Prüfungen relevant sind. Diese Angaben zur Prüfungsrelevanz sind inzwischen vom NKLM getrennt und in der jetzt online zugänglichen Version des MFT daher nicht sichtbar. Sie dienen als Grundlage zukünftiger GK des IMPP [4].

Vorbehaltlich der Prüfungsregelungen durch die ApprOÄ werden im NKLM vier Meilensteine bzw. Studienphasen unterschieden: Grundlagen („GL“, schriftliche Prüfung nach 2 Jahren), ärztliche Basiskompetenzen („BK“, praktische Prüfung nach 3 Jahren), notwendige Kompetenzen zum Eintritt in das Praktische Jahr („PJ“, schriftliche Prüfung nach 5 Jahren) und Weiterbildungskompetenz („WK“, Studienabschluss, praktische Prüfung). Dabei sollten sich gerade die Vertreter der klinisch-theoretischen Fächer durch diese (möglicherweise vorläufigen) Benennungen nicht verwirren lassen. So ist ein wesentliches Prinzip der Überarbeitung, dass in der ersten Studienphase („GL“) zwar überwiegend, aber eben nicht nur Inhalte der bisherigen vorklinischen („Grundlagen“) Fächer gelehrt und abschließend geprüft werden, vgl. Z-Curriculum. Die Bezeichnung „PJ-Kompetenz“ ist dagegen zwar für die Kompetenzen zur evidenzbasierten Medizin schlüssig. Gleichzeitig ist in diesem Studienabschnitt die eigene Forschungsarbeit verortet. Somit sind in den Jahren 4 und 5 auch weitere Forschungskompetenzen zu lehren, die auf den in der Grundlagenphase vermittelten Kompetenzen aufbauen.

Die Prüfungsrelevanz sei hier vereinfachend unterschieden in „mittel“ (gelegentlich zu prüfen) und „hoch“ (üblicherweise zu prüfen). Nicht alle Lernziele sind prüfungsrelevant im Sinne des GK des IMPP. Vor allem bei den praktisch-wissenschaftlichen Lernzielen obliegt die Prüfung des Kompetenzerwerbs in Art und Zeitpunkt der jeweiligen Fakultät.

Für Lernziele, bzw. Kompetenztiefen, die nicht an eine zentrale Prüfung gebunden sind, sind jeweils möglichst späte Meilensteinzuordnungen gewählt, um den Fakultäten Flexibilität in der Ausgestaltung zu ermöglichen. Die zeitliche Zuordnung bedeutet also nicht, dass ein Lernziel im genannten Abschnitt gelehrt werden muss, sondern gibt vielmehr den Meilenstein an, bis zu dem es spätestens bearbeitet sein sollte.


Besondere Herausforderungen des Themas „Wissenschaft“ im neuen Medizincurriculum

Absolventenprofilorientierung – wozu überhaupt Wissenschaft?

Eine triviale aber entscheidende Leitschiene bei der Entwicklung des NKLM, wie auch insgesamt für Lehrende im Medizinstudium ist, dass wir nicht Fächer unterrichten, sondern Ärzte und Ärztinnen ausbilden, und zwar auf universitärer Ebene. Universitär bedeutet dabei, dass die ausgebildeten Ärztinnen wissenschaftlich fundiert arbeiten können und promotionsfähig sind. Gleichzeitig ist anzuerkennen, dass ein Medizinstudium hochverdichtet Wissen und Fertigkeiten vermitteln muss. Faktenwissen und manuelle Tätigkeiten können durch die zu Recht zunehmend geforderten übergeordneten Kompetenzen in Kommunikation, Organisationsvermögen und eben Wissenschaftlichkeit nicht komplett ersetzt werden. Jedes Lernziel musste und muss daher auf seine Relevanz für die ärztliche Tätigkeit überprüft werden, und zwar für die Anforderungen an Berufsanfänger und jenseits fachlicher Befindlichkeiten.

Der NKLM enthält „Absolventenprofile“, die als Bezugspunkt für die Relevanz aller Lehrziele im Curriculum dienen. Für die wissenschaftliche Ausbildung lassen sich daraus folgende übergeordnete Ziele ableiten: Universitäre Lehre muss Studierende (jeglicher Fächer) so ausbilden, dass sie nach ihrem Studium oder zum Ende ihres Studiums eine Promotion beginnen können. Darüber hinaus müssen Ärzte in der Lage sein, Ergebnisse klinischer Studien in ihre Behandlungsentscheidungen einzubeziehen, sich eigenständig fortzubilden und Studierende wissenschaftlich fundiert anzuleiten.

Multidisziplinäre Ausbildung, Unterscheidung in Wahl- und Kernangebote

Vermittlung von Wissenschaft findet oft innerhalb von „Blasen“ statt: Forschende leiten Lernende via „Learning by Doing“ zum Forschen an, mit einem „Doing“, wie es in der jeweiligen Forschungskultur üblich und bewährt ist [7]. Dabei kommen gerade Methoden der Q1-Fächer zumindest in allen quantitativ arbeitenden Fächern zur Anwendung, so dass sicherlich die meisten Q1-Vertreter auch in den zunehmenden Wissenschaftscurricula vertreten sind. Wenn wir verpflichtend wissenschaftliche Kenntnisse im Sinne einer wissenschaftlichen Grundausbildung vermitteln, muss dies daran orientiert sein, was voraussichtlich alle oder zumindest der größte Teil der Studierenden auch benötigen wird (kleinster gemeinsamer Nenner), und auch die Begrifflichkeiten müssen in einer Weise genutzt werden, dass man sich fachspezifischer Variationen zumindest bewusst ist.

Klinische Epidemiologie und Biometrie sind gegenüber anderen forschenden Disziplinen im medizinisch-wissenschaftlichen Kerncurriculum besonders lehrrelevant, da die für alle verpflichtenden Lernziele des „Kritischen Anwenders“ (Evidenzbasierte Medizin) auf klinische Studien fokussieren. Jedoch musste darüber hinaus bei jedem Lernziel und jeder Präzisierung im „Innovator“ überprüft werden, ob es sich nicht doch um eine fachspezifische Kompetenz handelt. Üblicherweise wurde dies so gelöst, dass nur sehr basale Kenntnisse zu Existenz und Anwendungsbereichen bestimmter Methoden (z.B. lineare Regression oder qualitative Forschung) gefordert werden. Ihre Anwendung im Rahmen von (eigener) Forschung wäre dagegen dem Wahlpflichtbereich zuzuordnen (vgl. VIII.1.6), die Interpretation von Ergebnissen auf Basis dieser Methoden dem Bereich „Kritischer Anwender“ (VIII.1.3).

Z-Curriculum

Bisher bestand eine klare Zuordnung zwischen Fächern und Studienphasen. So sind die klinisch-theoretischen Fächer des Q1 in der aktuellen ApprOÄ für die Zulassung zum 2. Staatsexamen scheinpflichtig. Sie werden also bisher üblicherweise irgendwann zwischen dem 5. und 10. Semester unterrichtet und im 2. Staatsexamen (GK2) geprüft. Andererseits finden sich viele Inhalte und Methoden des Q1 in den GK verschiedener Fächer der „Vorklinik“ (GK1). Überschaubar ist dies in der Medizinischen Physik (Mittelwert, Streuung), verblüffend umfassend dagegen in den Grundlagen der Medizinischen Psychologie und Soziologie [8]. Hier gab es also bisher möglicherweise erhebliche Redundanz.

Die konsequente Einführung eines Z-Curriculums stellt nun alle Beteiligten vor die Aufgabe, abzustimmen, was wann wie von wem unterrichtet wird, falls noch nicht geschehen. Z-Curriculum bedeutet eine Verschränkung von Grundlagen, klinisch-theoretischen und klinisch-praktischen Inhalten über die gesamte Studiendauer hinweg, wobei sich die jeweiligen Anteile von der Basis (Grundlagen) hin zur klinischen Tätigkeit verschieben.

Q1-Fächer könnten somit von Jahr 1 bis Jahr 6 durchgängig an Lehre beteiligt sein. Wissenschaftsbezogene Inhalte dieser Fächer sind in beiden schriftlichen Prüfungen und via „Kritischer Anwender“ auch in der praktischen Abschlussprüfung vertreten.


Beispielkapitel

VIII.1.1 Wissenschaftstheorie

Lernziele dieses Kapitels sind weitgehend geisteswissenschaftlich geprägt und somit vorwiegend den Kollegen aus Medizinsoziologie, -ethik und -geschichte zuzuordnen. Idealerweise können wir damit auf Kenntnisse wissenschaftstheoretischer Modelle, beispielsweise des kritischen Rationalismus (Popper), oder der Problematik hypothesenbasierter vs. datengetriebener Forschung zurückgreifen (vgl. VIII.1.1.2, Theorien und Wissenschaftsforschung). Auch der Bereich der Wissenschaftsethik und guten wissenschaftlichen Praxis (VIII.1.1.3) bietet wichtige Anknüpfungspunkte für die Q1-Ziele. Allerdings ist die Abgrenzung der zugrundeliegenden Theorien von der Anwendung bisher nicht immer ganz befriedigend gelöst. Dies gilt insbesondere für die Lernziele zu „zentralen Begriffen“ (VIII.1.1.1). Hier finden sich beispielsweise für das Lernziel zur Kausalität unter den Präzisierungen keine Kausalitätsmodelle und -theorien, stattdessen Schlagworte aus dem epidemiologischen Methodenarsenal wie „Confounding“ oder „Exposition“. Wichtig ist zudem, dass aufgrund der Regel einer möglichst späten Meilenstein-Zuordnung nicht zentral prüfbarer Inhalte gerade Haltungen und einige wissenschaftsphilosophische Aspekte auf der Basis des NKLM erst dem Ende des Studiums zugeordnet sind, obwohl sie als Grundlage für die bereits bis Jahr 2 zu lehrenden Kompetenzen hilfreich wären. In jedem Fall erscheint es sinnvoll, wenn wir als Dozenten der Q1-Fächer an unseren Fakultäten prüfen, ob, wie, von wem und wann die Lernziele dieses Unterkapitels gelehrt werden, da sich potentielle Synergien aber auch Redundanzen ergeben könnten.

VIII.1.3 Evidenzbasierte Medizin

In diesem Kapitel werden neben Unterkapiteln zur Evidenzrecherche, -kommunikation und -reflexion insbesondere die Rezeption von Diagnosestudien, Therapiestudien und Leitlinien abgehandelt, jeweils mit konkreten Lernzielen zur Fragestellung, Evidenzauswahl, Validitätsbeurteilung und Einschätzung der klinischen Relevanz. Somit finden sich hier die relevanten Lernziele der klinischen Epidemiologie, wie Effektmaße, diagnostische Kennzahlen, Studiendesigns, Bias, Confounding, Interpretation von Ergebnissen inkl. Konfidenzintervallen und statistischer Tests. Sie bauen auf den unter VIII.1.4. genannten Kompetenzen auf und sind mit diesen abgestimmt. Entscheidend ist jedoch der klinische Bezug. Dies ist auch widergespiegelt in zeitlicher Verortung, Kompetenztiefe und Prüfungsrelevanz: Alle hier aufgeführten Lernziele sind den Meilensteinen PJ und WK zugeordnet, mit vorwiegend hoher Prüfungsrelevanz und handlungsbezogener Kompetenztiefe. Prinzipiell wird es nun möglich sein, in der praktischen Prüfung eine Evidenzrecherche zu verlangen, sowie Fragen zu Methoden und Ergebnissen einer fallrelevanten klinischen Studie zu stellen. Somit wären prinzipiell methodisch begleitete Journal Clubs auch während des praktischen Jahres zu fordern. Es erscheint wichtig, dass wir, wenn uns diese Themen am Herzen liegen, frühzeitig Angebote auch für diesen Zeitraum machen, idealerweise in Kooperation mit Kolleginnen der klinischen Fächer.

Aus epidemiologischer Sicht bedauerlich ist die Restriktion auf Diagnostik und Therapie. Auch für Aspekte der Häufigkeit, Prognose/Prädiktion und Ätiologie sind vergleichbar detaillierte an Evidenz, d.h. validen Daten orientierte formulierte Lernziele wünschenswert. Diese Themen sind jedoch dem Kapitel VIII.4. Gesundheitsberatung, -förderung, Prävention und Rehabilitation zuzuordnen, das anders strukturiert und nicht Thema dieses Berichtes ist (separater Artikel in Vorbereitung).

Als ein übergreifendes Thema soll dagegen an dieser Stelle die im Kritischen Anwender besonders detaillierte Bearbeitung der „Literaturrecherche“ dargestellt werden (Tabelle 2 [Tab. 2]). Diese Kompetenz ist ein gutes Beispiel, wie Lernziele am Ausbildungsziel ausgerichtet formuliert wurden. So unterscheiden sich Informationsquellen und Suchstrategien für das Lernen auf Prüfungen, im Rahmen eigener Forschungsprojekte und zur Beschaffung von Evidenz zur ärztlichen Entscheidungsfindung. Entsprechend tauchen Lernziele zur Informationsbeschaffung in unterschiedlichen Sektionen und Studienphasen auf, ohne dass es sich um Duplikationen handelt.

VIII.1.4 Innovator

Für 16 der 17 Lehrziele im Unterkapitel VIII.1.4.1 liegt eine primäre Fachkompetenz bei Q1-Fächern. Alle drei Fächer (Epidemiologie, Biometrie und Medizininformatik) sind betroffen und können in diesem Bereich somit besonders gut gemeinsam Lehre gestalten. Dieses Unterkapitel ist daher hier einmal komplett aufgeführt, mit Hinweisen, wann und in welcher Kompetenztiefe geprüft werden soll (Tabelle 3 [Tab. 3], Lernziele nur stichwortartig genannt). Gleichzeitig lassen sich anhand dieser Beispiele verschiedene Charakteristika, Chancen und Herausforderungen des NKLM nachvollziehen.

So wird dem longitudinalen Charakter von Lernen („Lernspirale“) insofern Rechnung getragen, dass primär keine Aufteilung nach dem Zeitpunkt des Lernens erfolgt. Viele der genannten Lernziele werden zunächst grundlegend auf Kompetenztiefe 1 für das erste Staatsexamen empfohlen. Eine weitere Vertiefung der Kenntnis wird spätestens im Rahmen eigener Projekte erwartet. Wann und wie dies überprüft wird, obliegt den Fakultäten. Es gibt zudem Lernziele, die in keinem oder in beiden schriftlichen Staatsexamina Prüfungsstoff darstellen.

Die jeweils zugeordnete Prüfungsrelevanz entspricht nicht notwendigerweise der Bedeutung des Themas insgesamt. Beispielsweise werden zu „Bias“ im wissenschaftlichen Kontext („Innovator“) nur sehr basale Kenntnisse gefordert. Jedoch ist Bias im Rahmen der Studienvaliditätsbeurteilung ein wesentliches Thema im „Kritischen Anwender“. Das Konzept ist in diesem Kontext sowohl in der dem Praktischen Jahr vorausgehenden Prüfung als auch zum Studienabschluss bis hin zur Kompetenztiefe 3a lehr- und prüfungsrelevant.

Deutlich wird auch die Notwendigkeit interdisziplinärer Absprachen zur Vermittlung der wissenschaftsrelevanten Lernziele. Zwar gibt es verschiedene Ziele, die sehr klar primär einem Q1-Fach zuzuordnen sind, wie etwa „Daten erheben“ (Medizininformatik), „Hypothesentestung“ (Biometrie) oder eben „Bias“ (Epidemiologie). Lediglich ein Ziel hat gar keinen Bezug zu Q1-Fächern („qualitative Daten beschreiben“). Weitere zeigen durch einzelne ergänzte Präzisierungen wie „theoretische Rahmung“ (Studienfrage) oder „Theoretische Sättigung“ (Stichprobenziehung), dass medizinische Forschung über die patientenorientierte klinisch-epidemiologische Perspektive hinausgeht. Absprachen mit weiteren Fachvertretern (z.B. der Medizinsoziologie) können somit bereits innerhalb einzelner Lernziele sinnvoll oder notwendig sein.

Ein prägnantes Beispiel für die Verschränkung nicht nur verschiedener wissenschaftlicher Fächer sondern auch von Wissenschaft und Klinik ist das Lernziel zum „Messen“, das gleich übergreifend formuliert wurde („in Forschung und Praxis“). Es findet sich identisch (gespiegelt, „Hologramm“) auch im Kapitel VII.2.1 (Grundlagen diagnostischer Verfahren). Unter den physikalischen Grundlagen normaler Körperfunktion (VII.1a) findet Messen dagegen keine Erwähnung mehr. Neben klinischer Diagnostik, Medizinphysik, Biometrie und Epidemiologie dürfte dieses Lernziel auch Lehrende der empirischen Sozialwissenschaften besonders ansprechen.

Alle Lernziele dieser Teilkompetenz sind kognitiv formuliert und gehen damit nicht über die Kompetenztiefe 2 hinaus. Jedoch folgen in VIII.1.4.2 auf VIII.1.4.1 abgestimmte Lernziele, die Bezug auf die Anwendung in einem eigenen Projekt nehmen und durchweg als Kompetenztiefe 3a formuliert sind (angeleitet durchführen).

VIII.1.6 Fachspezifische Praktika

Der NKLM sieht vor, dass in den Fakultäten vor Beginn des eigenen Projektes zwei Wissenschaftspraktika abzuleisten sind. Diese sollen ausgesuchte fachspezifische Methoden vermitteln, ohne dass jeweils ein ganzes Projekt erarbeitet wird. Über die Vorgabe, dass die beiden Praktika in zwei verschiedenen Forschungsbereichen abzuleisten sind, soll gewährleistet werden, dass eine ausreichend ausgewogene Ausbildung stattfindet. Die Forschungsbereiche sind angelehnt an die Typologie der DFG (Grundlagenforschung, krankheitsorientierte Forschung, patientenorientierte Forschung, textbasierte und übergreifende Forschung) [9]. Es können hier alle Themen untergebracht werden, deren Bearbeitung nicht von allen Studierenden erwartet werden kann, die aber doch für einige Studierende und uns Lehrende von Interesse sind. Bis auf die krankheitsorientierte Forschung sind grundsätzlich in allen Forschungsbereichen auch Q1-Themen denkbar.

VIII.1.7 Eigenes Forschungsprojekt

Die Durchführung eines eigenen Projektes ist ein besonderes Kernanliegen des MFT und wird obligater Bestandteil der neue ApprOÄ sein. Vorgesehen sind dafür derzeit 12 Wochen im Zeitraum vor dem praktischen Jahr. Als Produkt dieser Forschungszeit „erlaubt“ der NKLM ein Publikationsmanuskript von Originalforschung (wozu explizit auch eine systematische Übersichtsarbeit gehört), aber auch beispielsweise ein Studienprotokoll, einen Ethikantrag, einen Tierversuchsantrag oder eine Literaturarbeit. Dies ist zum einen im Sinne der Studierenden, die beispielsweise auf Basis des als Studienarbeit erstellten Ethikantrags eine Promotion beginnen können. Darüber hinaus stärkt diese Möglichkeit die Qualität der Ausbildung in klinischer und auch epidemiologischer Feldforschung, wo die Anfertigung eines Studienprotokolls und weiterer für die Ethikkommission notwendiger Unterlagen wie Einwilligung, Probandeninformation und Datenschutzkonzept durchaus substantiellen Zeit- und Anleitungsbedarf haben können.

Ob praktische Lernziele, wie sie unter VIII.1.4.2 verpflichtend formuliert sind, erstmals im Rahmen dieser Projektarbeit bearbeitet werden oder ob diese Ausbildung vorher sichergestellt wird, obliegt den Fakultäten. Aus Sicht der Q1-Fächer sollte daher geklärt werden, inwieweit deren Fachvertreter zusätzlich zu eigenen angebotenen Projekten auch in die Projekte anderer Fächer einbezogen sind, z.B. beratend. Aufgrund zu erwartender Mehrbelastung dürfte eine Klärung relevant werden, ob eine solche Mitbetreuung dann als Dienstleistung oder als originäre Lehraufgabe einzustufen wäre.


Ausblick: Umsetzung des NKLM

Im Sommer 2021 nehmen zunächst Delegierte der Fachgesellschaften eine Zuordnung von Lernzielen zu Fächern vor. Diese Zuordnung hat unverbindlich empfehlend-informativen Charakter und ist nicht exklusiv: Zurzeit ist seitens der Arbeitsgemeinschaft der Medizinisch-Wissenschaftlichen Fachgesellschaften (AWMF) vorgesehen, dass je Lernziel mehrere Fächer ihre Kompetenz und Zuständigkeit anmelden können. Dies wird Fachvertretern und Fakultäten ermöglichen, Lehrziele nach Fachrelevanz zu filtern, stellt aber weder Verpflichtung noch Recht auf bestimmte Lehrziele dar.

Die Umsetzung des NKLM im Rahmen des für 2025 vorgesehenen Inkrafttretens der neuen ApprOÄ obliegt dann vielmehr den individuellen Fakultäten. Der Prozess wird vom MFT ab dem Herbst 2021 begleitet und wird voraussichtlich in mehreren Stufen ablaufen. Es ist anzunehmen, dass es im Laufe dieses Prozesses zu Änderungen des NKLM kommt, sollten sich einzelne Lernziele als nicht praktikabel erweisen. Als problematisch wird zurzeit unter anderem der weiterhin erhebliche Umfang des Kerncurriculums angesehen, welches die Gestaltungsmöglichkeiten der Fakultäten einschränkt. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die ApprOÄ bisher nicht verabschiedet wurde, so dass der rechtliche Rahmen noch nicht verbindlich vorliegt. Die Informationen in diesem Bericht sind in dieser Hinsicht vorläufig.

Empfehlungen der Fachvertreter zur Umsetzung der Lehre auf der Basis des NKLM in den Fächern Epidemiologie, medizinische Biometrie und Medizininformatik sind in Vorbereitung.


Fazit

Zusammenfassend zeigen die Entwicklungen an NKLM, GK und ApprOÄ die steigende Bedeutung und verbesserte Gestaltungsmöglichkeiten der Q1-Fächer in der Medizinerlehre. Herausforderungen bestehen in der Komplexität des Katalogs, der veränderten Zuordnung zu Studienphasen und Prüfungen und möglichen Interferenzen bei der Abgrenzung fachlicher Zuständigkeiten. Diskussion und Absprachen innerhalb der Fachgesellschaften können helfen, die gebotenen Chancen konstruktiv und zukunftswirksam zu nutzen. Konkrete Empfehlungen der Fachvertreter zur Umsetzung an den Fakultäten sind in Vorbereitung.


Anmerkung

Interessenkonflikte

Antje Timmer war als Delegierte der GMDS in der AG Medizinisch-Wissenschaftliche Fertigkeiten an der Überarbeitung des NKLM beteiligt und dabei insbesondere für die Koordination der Kapitel VIII.1.4 und VIII.1.6 zuständig.


Literatur

1.
Masterplan Medizinstudium 2020. Beschlusstext. 2017 [Accessed 2021 Apr 5]. Available from: https://www.impp.de/files/Bilder/170331_Masterplan_Beschlusstext.pdf Externer Link
2.
Fischer MR, Bauer D, Mohn K. Finally finished! National Competence Based Catalogues of Learning Objectives for Undergraduate Medical Education (NKLM) and Dental Education (NKLZ) ready for trial. GMS Z Med Ausbild. 2015;32(3):Doc35. DOI: 10.3205/zma000977 Externer Link
3.
Richter-Kuhlmann E. Medizinstudium: Neue Approbationsordnung 2025. Deutsches Ärzteblatt. 2020;117(48):2335.
4.
Jünger J. Kompetenzorientiert prüfen im Staatsexamen Medizin [Competence-based assessment in the national licensing examination in Germany]. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz. 2018 Feb;61(2):171-7. DOI: 10.1007/s00103-017-2668-9 Externer Link
5.
Hautz SC, Hautz WE, Keller N, Feufel MA, Spies C. The scholar role in the National Competence Based Catalogues of Learning Objectives for Undergraduate Medical Education (NKLM) compared to other international frameworks. Ger Med Sci. 2015;13:Doc20. DOI: 10.3205/000224 Externer Link
6.
Adams NE. Bloom’s taxonomy of cognitive learning objectives. J Med Libr Assoc. 2015 Jul;103(3):152-3. DOI: 10.3163/1536-5050.103.3.010 Externer Link
7.
Kind PER, Osborne J. Styles of scientific reasoning: a cultural rationale for science education? Science Education. 2017;101(1):8-31. DOI: 10.1002/sce.21251 Externer Link
8.
Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen (IMPP). Gegenstandskataloge. [Accessed 2021 Apr 5]. Available from: https://www.impp.de/pruefungen/allgemein/gegenstandskataloge.html Externer Link
9.
Deutsche Forschungsgemeinschaft. Klinische Forschung: Denkschrift. 1999. [Accessed 2021 Aug 2]. Available from: https://www.dfg.de/dfg_profil/gesamtliste_publikationen/denkschriften/index.html Externer Link