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GMS Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS)

ISSN 1860-9171

Populationsbasierte Anteile geheilter Krebspatientinnen und -patienten in Deutschland

Population-based proportion of cancer cure in Germany

Originalarbeit

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  • corresponding author Jörg Haberland - Zentrum für Krebsregisterdaten, Robert Koch-Institut, Berlin, Deutschland
  • Nadia Baras - Zentrum für Krebsregisterdaten, Robert Koch-Institut, Berlin, Deutschland
  • Ute Wolf - Zentrum für Krebsregisterdaten, Robert Koch-Institut, Berlin, Deutschland

GMS Med Inform Biom Epidemiol 2019;15(1):Doc02

doi: 10.3205/mibe000196, urn:nbn:de:0183-mibe0001964

Veröffentlicht: 29. Januar 2019

© 2019 Haberland et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Bevölkerungsbezogene Erhebungen zu den Überlebensaussichten von Krebspatienten basierten in Deutschland bisher überwiegend auf relativen 5- oder auch 10-Jahresüberlebensraten. Alternativ ermöglicht die Nutzung sogenannter parametrischer Heilungsmodelle, den Anteil der Krebspatientinnen und -patienten zu bestimmen, die trotz ihrer Erkrankung keine höhere Sterblichkeit aufweisen als die Allgemeinbevölkerung, und in diesem Sinne als geheilt betrachtet werden können. International sind derartige Analysen im bevölkerungsbezogenen Monitoring des Langzeitüberlebens von Krebserkrankten bereits etabliert.

Methoden: Für die vorliegenden Analysen wurden Daten bundesdeutscher bevölkerungsbezogener Krebsregister von Patienten im Alter von 15–79 Jahren (N=453.666) herangezogen. Um aktuelle Schätzungen zu den Überlebensaussichten von erkrankten Personen vorzunehmen, wurden Periodenanalysen über das Periodenfenster 2013–2014 mit einer maximalen Follow-Up-Zeit von 10 Jahren durchgeführt. Auf Basis parametrischer Modellierungen der jeweiligen Überlebenszeiten wurde der Anteil von geheilten Patienten für die Gesamtheit aller Krebserkrankungen und die jeweils drei häufigsten Krebslokalisationen bei Frauen (Brust-, Darm- und Lungenkrebs) und bei Männern (Prostata-, Lungen- und Darmkrebs) vom Zentrum für Krebsregisterdaten geschätzt. In zusätzlichen Analysen wurde die mögliche Überschätzung des Anteils Geheilter durch Ausschluss von DCO-Fällen (Death Certificate Only) quantifiziert.

Ergebnisse: Der Anteil von Krebserkrankten, bei denen im Vergleich zur jeweiligen Allgemeinbevölkerung keine Übersterblichkeit mehr zu beobachten war und somit von einer Heilung im o.g. Sinne auszugehen ist, lag mit 64,0% (95%-Konfidenzintervall: 63,4–64,6) bei Frauen höher als mit 56,8% (56,3–57,4) bei Männern. Mit Ausnahme von Brustkrebs bei Frauen waren die parametrischen Heilungsmodelle mit dem zugrunde gelegten Follow-Up-Zeitraum von 10 Jahren auch für die lokalisationsspezifischen Analysen sinnvoll anwendbar. Frauen wiesen dabei für Darm- und Lungenkrebs höhere Anteile auf als Männer (62,3% vs. 56,2% bzw. 18,5% vs. 14,9%). Bei Männern wurde die Heilungsquote für Prostatakrebs auf 94,5% geschätzt. Die Berücksichtigung von korrigierten DCO-Fällen führte bei beiden Geschlechtern zu einer Reduktion der Schätzer um maximal 3%.

Schlussfolgerungen: Basierend auf bundesweiten Daten für das Periodenfenster 2013–2014 lassen sich deutliche geschlechterspezifische Unterschiede im Langzeitüberleben bei häufigen Krebserkrankungen in Deutschland beobachten. Ergebnisse parametrischer Heilungsmodelle können wichtige zusätzliche Erkenntnisse bezüglich verbleibender und zukünftiger Herausforderungen in der Versorgung von Krebspatientinnen und -patienten in Deutschland liefern.

Schlüsselwörter: Krebs, Anteil Geheilter, relatives Überleben, epidemiologische Krebsregister, Deutschland

Abstract

Background: Population-based assessment of long-term survival prospects of cancer patients in Germany have, so far, been mainly based on estimating relative 5- or 10- year survival rates. Alternatively, parametric cure models allow for determining the proportion of patients who although being affected by cancer do not exhibit higher mortality rates compared to the general population. These patients are thus considered as cured from cancer. Internationally, cure models are highly established in the monitoring of long term survival of cancer patients.

Methods: For the present analysis, population-based cancer registry data from patients aged 15 to 79 years (N=453,666) in Germany were used. In order to obtain up-to-date estimates on cure proportions of cancer patients, period analyses with a period window from 2013 to 2014 and a maximal follow-up time of 10 years were conducted. Based on parametric modelling of survival times, sex-specific estimates on cured proportions of cancer patients were calculated for all cancers as well as for the three most common cancer sites among women (breast, colon, lung) and among men (prostate, lung, colon) were calculated. In additional analyses, the extent to which the cured proportion of all cancer patients might have been overestimated due to the exclusion of DCO (Death Certificate Only) cases were quantified.

Results: Overall, 64.0% (95%-confidence interval; 63.4–64.6) of women and 56.8% (56.3–57.4) of men were considered as statistically cured of their cancer in the sense that their mortality did not differ significantly from that of the general population. Parametric cured models also converged in all site-specific analyses except breast cancer among women. The cure proportions for colon and lung cancer were higher in women than in men (62.3% vs. 56.2% and 18.5% vs. 14.9%). Moreover, the estimated cure proportion of prostate cancer among men was 94.5%. After correcting the cure fraction of all cancers for the proportion of DCO cases, a maximal drop of 3% was observed among both genders.

Conclusions: Based on nation-wide data for the period window 2013–2014, significant sex difference in long-term cancer survival for common cancers can be observed in Germany. Parametric cured models can provide additional insights on remaining or new challenges of cancer care in Germany.

Keywords: cancer, cure fraction, relative survival, epidemiological cancer registry, Germany


Hintergrund

Bösartige Neubildungen zählen zu den sozioökonomisch bedeutendsten Erkrankungsgruppen und stellen wichtige Ursachen von Krankheitslast dar [1], [2], [3]. Weltweit betrug 2016 der Anteil der Neubildungen an der Gesamtsterblichkeit rund 16%. In Deutschland gehen, trotz eines deutlichen Rückgangs der Krebssterblichkeit zwischen 1998 und 2010 um 20% bei Männern bzw. 15% bei Frauen [4], aktuell immer noch rund ein Viertel der gesamten Sterbefälle auf Krebserkrankungen zurück [5]. Bisher werden bevölkerungsbezogene Untersuchungen zur Entwicklung der Überlebensaussichten von Krebspatientinnen und -patienten in Deutschland vielfach mittels relativer 5- bzw. 10-Jahresüberlebensraten vorgenommen [3]. Diejenigen Patienten, die diesen Zeitraum überlebt haben, werden häufig vereinfacht als geheilt betrachtet [6], [7]. Der Beobachtungszeitraum von 5 oder 10 Jahren stellt dabei jedoch einen willkürlich gewählten Abschnitt im Überlebensverlauf von Krebspatienten dar. Parametrische Heilungsmodelle suchen hingegen nach einem Plateau, dem sich die relativen Überlebensraten mit wachsendem Abstand zum Diagnosezeitpunkt annähern und nach einem bestimmten Zeitpunkt keine wesentlichen Änderungen mehr zu beobachten sind [6], [7], [8]. Mittels dieser Modelle lässt sich somit ein endgültiger Wert schätzen, der den Anteil derjenigen Patienten beschreibt, die trotz ihrer Krebserkrankung keine höhere Sterblichkeit als die Allgemeinbevölkerung aufweisen und in diesem Sinne als geheilt betrachtet werden. International sind derartige Analysen bereits etabliert [7], [8], [9], [10], [11].

Für Deutschland steht bislang nur eine populationsbezogene Untersuchung auf der Datengrundlage epidemiologischer Krebsregister zur Verfügung, in der Patienten eingeschlossen wurden, bei denen vor dem Jahr 1990 eine Krebserkrankung diagnostiziert wurde [6]. Für Krebs insgesamt wurde dabei der Anteil geheilter Patientinnen auf 49% bzw. für Patienten auf 37% (Diagnosezeitraum 1985–1988) geschätzt. Diese und weitere Ergebnisse ausgewählter Krebsuntergruppen basierten allein auf Daten des saarländischen Krebsregisters. Dabei wurde zudem nicht überprüft, inwieweit der Ausschluss von Krebsfällen aufgrund fehlender Informationen zur Überlebenszeit zu Verzerrungen der Schätzungen geführt haben könnte. Dies betrifft Krebspatienten, die erst nach ihrem Tod durch die Sterbemeldung von der Registrierung erfasst werden, d.h. die DCO-Fälle (Death Certificate Only). Da es sich hier definitionsgemäß um verstorbene Fälle handelt, ist aufgrund des Ausschlusses solcher Fälle von einer Überschätzung des Anteils Geheilter auszugehen [11].

Vor diesem Hintergrund war das Ziel der vorliegenden Arbeit, die Anteile Geheilter geschlechterspezifisch für Krebs gesamt sowie für die jeweils drei häufigsten Krebslokalisationen bei Frauen (Brust-, Darm- und Lungenkrebs) und bei Männern (Prostata-, Lungen- und Darmkrebs) auf der Basis bundesdeutscher epidemiologischer Krebsregisterdaten zu schätzen. Hierbei wurden grundsätzlich alle Personen zwischen 15 und 79 Jahren betrachtet, da die Modelle im höheren Altersbereich teilweise nicht mehr flexibel genug sind und deshalb im höheren Alter häufiger von einer schlechteren Modellanpassung auszugehen ist [12]. Um die Überlebensaussichten von aktuell erkrankten Patienten zu untersuchen, erfolgte eine Periodenanalyse [13], der das Periodenfenster 2013–2014 mit einer Follow-Up-Zeit von 10 Jahren zugrunde gelegt wurde. In zusätzlichen Analysen wurde die mögliche Überschätzung des Anteils Geheilter durch den Einschluss von DCO-Fällen (n=3.938) überprüft.


Methodik

Datengrundlage

Die vorliegende Studie basiert auf Daten der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland, die auf der Grundlage des Bundeskrebsregisterdatengesetzes von 2009 jährlich an das Zentrum für Krebsregisterdaten im Robert Koch-Institut (RKI) übermittelt werden [14]. Es wurden Daten aus den sechs bundesdeutschen Krebsregisterregionen der Bundesländer Brandenburg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Saarland sowie des Regierungsbezirks Münster berücksichtigt, da diese im Beobachtungszeitraum einen jährlichen DCO-Anteil (Death Certificate Only) von unter 10% aufwiesen, flächendeckend ab 2003 erfassen, sowie den Mortalitätsabgleich bis 2014 durchgeführt hatten.

In die Periodenanalysen mit dem gewählten Periodenfenster 2013–2014 und der Follow-Up-Zeit von 10 Jahren wurden alle erwachsenen Personen im Alter von 15–79 Jahren berücksichtigt, bei denen zwischen 2003 und 2014 eine Krebserkrankung diagnostiziert wurde und die bis zum 31.12.2012 noch nicht verstorben waren (N=453.666). Im Gegensatz zu herkömmlichen Kohortenanalysen werden damit die Überlebenszeiten von primär aktuell erkrankten Personen untersucht, woraus aktuelle Überlebensraten resultieren [13]. Neuerkrankungsfälle wurden dabei auf Basis der 10. Version der Internationalen-statistischen-Klassifikation-der-Krankheiten-und-verwandter-Gesundheitsprobleme-Codes (ICD-10) für die Gesamtheit aller Krebserkrankungen (C00–C97) mit Ausnahme der nicht-melanotischen Hautkrebsformen (C44) und die jeweils drei häufigsten Krebslokalisationen bei Frauen und bei Männern klassifiziert. In die Analysen wurde nur der erste Primärtumor eines Patienten einbezogen, auch wenn dadurch jüngere Register anders berücksichtigt werden als ältere. Der Definition multipler Primärtumoren wurde dabei das Regelwerk der IARC (International Association of Cancer Registries) zugrunde gelegt [15]. Da die zur Verfügung stehenden Krebsregisterdaten nur monatsgenau sind, wurde allen Krebserkrankten, bei denen der Erstdiagnosezeitpunkt aber auch der Sterbezeitpunkt in ein und demselben Monat lagen, eine Überlebenszeit von 15 Tagen zugeordnet [16]. DCO-Fälle, die den Krebsregistern erst aufgrund einer Sterbemeldung bekannt wurden und zu denen keine weiteren Informationen eingeholt werden konnten und damit keine Informationen zu den Überlebenszeiten vorliegen, wurden aus den Haupt-Analysen ausgeschlossen.

Statistische Analysen

In dieser Arbeit wurden geschlechterspezifische Schätzungen zum Anteil Geheilter mittels parametrischer Heilungsmodelle (Mixture-cure-Modelle) durchgeführt, die die Patienten in eine Gruppe Geheilter (P) sowie in eine Restgruppe verstorbener Fälle (1–P) aufteilen, deren Überleben hier mittels einer Weibull-Verteilung modelliert wird [8], [11]:

Formel 1

Dabei bezeichnet Formel 2 die relative Überlebensrate zum Zeitpunkt t nach Diagnosestellung. Der unbekannte Anteil Geheilter P muss gemeinsam mit λ und β geschätzt werden. Aus den beiden letztgenannten Parametern kann zudem die mediane Überlebenszeit T der verstorbenen Fälle durch Formel 3 geschätzt werden [10].

Die hier durchgeführte Maximum-Likelihood-Schätzung erfolgte direkt über die Individualdaten unter Verwendung des strsmix-Befehls mit dem Statistik-Paket STATA [17], [18]. Zusätzlich wurden mit dem STATA-Befehl strs relative Überlebensraten mittels der aktuarischen bzw. Sterbetafelmethode nach Ederer II berechnet [19], [20]. Die dabei notwendige Intervallbildung erfolgte im ersten Jahr nach Diagnosestellung in Form von Quartalen, im 2. Jahr halbjährlich und ab dem 3. Jahr dann jährlich bis zum Ende der Follow-Up-Zeit. Diese nichtparametrischen Schätzungen dienten zum einen zu Vergleichszwecken mit den aus dem parametrischen Heilungsmodell resultierenden relativen Überlebensraten und zum anderen wurden die 10-Jahresraten als Startwerte für P im iterativen Maximum-Likelihood-Schätzprozess verwendet [21].

Zusätzliche Analysen umfassten die erneute Datenauswertung nach Berücksichtigung von zuvor ausgeschlossenen DCO-Fällen. Fehlende Informationen zum Erkrankungszeitpunkt wurden hierzu imputiert. Ausgehend vom Sterbedatum wurde dabei das Erkrankungsdatum um die geschätzte mediane Überlebenszeit der verstorbenen Fälle rückdatiert. Um das Ausmaß der Überschätzung des Anteils Geheilter durch Ausschluss von DCO-Fällen bewerten zu können, wurden die gesamten Analysen unter Einschluss der korrigierten DCO-Fälle für die hier betrachteten Krebserkrankungen erneut durchführt und die jeweiligen geschlechterspezifischen Ergebnisse miteinander verglichen [11]. In einer weiteren Analyse wurden die DCO-Fälle erneut korrigiert. Diesmal wurde den DCO-Fällen allerdings einheitlich für alle Krebserkrankungen und bei beiden Geschlechtern wegen der nur monatsgenauen Daten eine Überlebenszeit von 15 Tagen zugewiesen. Außerdem wurden alle geschlechts- und lokalisationsspezifischen Analysen weiterhin nach zwei Altersgruppen (15–64 Jahre und 65–79 Jahre) stratifiziert durchgeführt.


Ergebnisse

Schätzungen zum Anteil geheilter Krebspatienten

Abbildung 1 [Abb. 1] stellt dar, dass bei weitaus mehr als der Hälfte aller Frauen und Männer zwischen 15 und 79 Jahren, bei denen zwischen 2003 und 2014 eine Krebserkrankung diagnostiziert wurde, keine höhere Sterblichkeit mehr zu beobachten war als in der jeweiligen Allgemeinbevölkerung und in diesem Sinne als geheilt betrachtet werden. Mit 64,0% fiel der Anteil Geheilter bei Frauen dabei höher aus als mit 56,8% bei Männern und es bestand auch keine Überlappung der jeweiligen Konfidenzintervalle.
Auch bei der lokalisationsspezifischen Betrachtung für die jeweils drei häufigsten Krebserkrankungen bei Männern und bei Frauen konvergierten die Modelle unter Verwendung von Standard-Startwerten mit Ausnahme von Prostatakrebs bei Männern und Brustkrebs bei Frauen. Für letztere konnte jedoch auch eine Modellkonvergenz erreicht werden, indem die nach der Sterbetafelmethode berechneten relativen 10-Jahresüberlebensraten als Startwerte benutzt wurden. Eine analoge Änderung der Startwerte bei den übrigen Modellen ergab identische Schätzungen.

Die Verläufe der relativen Überlebensraten nach der Sterbetafelmethode sind in Abbildung 1 [Abb. 1], Abbildung 2 [Abb. 2], Abbildung 3 [Abb. 3] grafisch dargestellt. Wie die Abbildungen zeigen, nähern sich die modellierten Überlebensraten für Krebs gesamt (Abbildung 1 [Abb. 1]) sowie für die drei häufigsten Krebserkrankungen bei Frauen (Abbildung 2 [Abb. 2]) und bei Männern (Abbildung 3 [Abb. 3]) mit zunehmendem Abstand zum Diagnosezeitpunkt jeweils einer horizontal verlaufenden Geraden an, die dem Anteil Geheilter entspricht und somit als Schätzer für das Langzeitüberleben betrachtet werden kann. Allein die Überlebensraten beim Brustkrebs der Frauen in Abbildung 2 [Abb. 2] wiesen auch 10 Jahre nach Diagnosestellung noch keine derartige Plateauisierung auf. Trotz Konvergenz des Modells wurde deshalb für diese Lokalisation der geschätzte Anteil Geheilter nur grafisch dargestellt, aber nicht numerisch ausgewiesen. Bei Betrachtung der übrigen hier untersuchten Krebslokalisationen in Tabelle 1 [Tab. 1] zeigten sich große Unterschiede in den geschätzten Anteilen Geheilter. Die niedrigsten Anteile Geheilter ließen sich beim Lungenkrebs beobachten, der mit 18,5% bei Frauen jedoch höher lag als mit 14,9% bei Männern. Ein vergleichbarer Geschlechterunterschied in den Heilungsquoten war ebenso für Darmkrebs mit 62,3% bei Frauen im Vergleich zu 56,2% bei Männern zu beobachten. Bei Männern wurde der Anteil Geheilter für Prostatakrebs auf 94,5% geschätzt.

Zusätzliche Analysen

Für die Gesamtheit aller Krebserkrankungen fiel der DCO-Anteil im Zeitraum 2013–2014 mit 3,0% bei Frauen und 4,1% bei Männern gering aus (siehe Tabelle 2 [Tab. 2]). Die medianen Überlebenszeiten der verstorbenen Fälle (T) lagen bei den betrachteten Krebserkrankungen zwischen 0,8 Jahren (Interquartilsbereich 0,3–1,8) für Lungenkrebs und 1,8 Jahren (0,6–4,0) für Darmkrebs bei Frauen und zwischen 0,6 Jahren (0,2–1,4) für Lungenkrebs und 2,0 Jahren (0,6–4,9) für Darmkrebs bei Männern. Wie Abbildung 1 [Abb. 1] zusätzlich grafisch in Form des Schnittpunkts der relativen Überlebensraten der Gestorbenen (rote Linien) mit der 50%-Achse zeigt, lag auch für die Gesamtheit aller Krebserkrankungen die mediane Überlebenszeit der Gestorbenen in beiden Geschlechtern deutlich unter 2 Jahren (Frauen 1,4; 0,4–3,5 und Männer 1,0; 0,3–2,3). Nach Imputation der fehlenden Werte zum Erkrankungsdatum und Einschluss der DCO-Fälle (n=2.440 bei Männern und n=1.498 bei Frauen) sanken die Anteile Geheilter hinsichtlich Krebs gesamt bei Männern um 1,7% bzw. bei Frauen um 1,4%, wobei die Rückgänge bei den dargestellten Krebserkrankungsuntergruppen deutlich darunter lagen. Unter der pauschalen Annahme, dass die DCO-Fälle unabhängig von der jeweiligen Krebserkrankung nur jeweils 15 Tage überlebt haben, sinken die geschätzten Anteile Geheilter bei Männern um 2,6% bzw. bei Frauen um 2,5% gegenüber den Ausgangswerten.

Bei der altersspezifischen Betrachtung der 15- bis 64-Jährigen und der 65- bis 79-Jährigen zeigen sich in der jüngeren Altersgruppe tendenziell höhere Anteile Geheilter und höhere mediane Überlebenszeiten der Gestorbenen als in der älteren Altersgruppe (Tabelle 3 [Tab. 3]). Nur beim Prostatakrebs steigt der Anteil Geheilter mit dem Alter. Da Prostatakrebs die häufigste Krebserkrankung bei Männern ist und damit den stärksten Einfluss auf Krebs gesamt hat, steigt auch in der Gesamtgruppe der Anteil Geheilter mit dem Alter an. Zur besseren Bewertung der altersspezifischen Ergebnisse sind die alters-, geschlechts- und lokalisationsspezifischen Schätzungen der Anteile Geheilter sowie die medianen Überlebenszeiten der Gestorbenen als Grafiken in Anhang 1 [Anh. 1] dieser Studie beigefügt. Jede dieser Grafiken zeigt in Form blauer Kreuze die (kumulierten) relativen Überlebensraten nach der Sterbetafelmethode (Ederer II) einschließlich der entsprechenden 95%-Konfidenzintervalle. Die grünen Linien repräsentieren die modellierten relativen Überlebensraten der Gesamtgruppe (gestrichelt) und als horizontale durchgehende Linien die geschätzten Anteile Geheilter inkl. approximativer 95%-Konfidenzintervalle (gepunktet). Die roten gestrichelten Kurven zeigen die Überlebensraten der Gestorbenen, einschließlich des zugehörigen Medians der Gestorbenen (vertikale rote Linie) am Schnittpunkt mit der 50%-Linie.


Diskussion

Zusammenfassung

Insgesamt ergab die vorliegende Untersuchung, dass bei weitaus mehr als der Hälfte aller Personen im Alter zwischen 15 und 79 Jahren, bei denen zwischen 2003 und 2014 eine Krebserkrankung diagnostiziert wurde, keine höhere Sterblichkeit als in der jeweiligen Allgemeinbevölkerung bestand. Bei der separaten Betrachtung der jeweils drei häufigsten Krebserkrankungen beider Geschlechter (Brust-, Prostata-, Darm- und Lungenkrebs) erwiesen sich die parametrischen Heilungsmodelle mit dem zugrunde gelegten Follow-Up-Zeitraum von 10 Jahren, mit Ausnahme von Brustkrebs bei Frauen, zur Schätzung des Anteils Geheilter als sinnvoll anwendbar. Die Untersuchung ergab zudem Hinweise auf deutliche geschlechterspezifische Unterschiede. Dabei ließen sich bei Männern sowohl für die Gesamtheit aller Krebserkrankungen als auch für Darm- und Lungenkrebs schlechtere Heilungschancen beobachten als bei Frauen. Beim geschlechterspezifischen Vergleich hinsichtlich Krebs gesamt muss allerdings berücksichtigt werden, dass bei Männern Prostatakrebs und bei Frauen Brustkrebs jeweils die Gesamtgruppe maßgeblich beinflusst und sich beide Gruppen auch in der Verteilung aller anderen Krebslokalisationen unterscheiden. Schließlich liefert die aktuelle Untersuchung weitere methodische Erkenntnisse, die von grundsätzlicher Bedeutung für Untersuchungen von Langzeitüberlebensaussichten mittels parametrischer Heilungsmodelle sind.

Einordnung der Ergebnisse im Kontext der Studienlage

Beim Vergleich der jetzt vorliegenden bundesdeutschen Ergebnisse mit den Schätzungen der bisher auch einzig in Deutschland verfügbaren Untersuchung ergibt sich für Krebs gesamt für das aktuell betrachtete Periodenfenster 2013–2014 ein weitaus höherer Anteil Geheilter als noch zuvor für die Jahre 1985–1988 (64,0% vs. 49% für Frauen und 56,8% vs. 37% bei Männern) [6]. Deutlich höhere Heilungsquoten in der aktuellen im Vergleich zur vorherigen Untersuchung wurden auch für die hier untersuchten Krebslokalisationen beobachtet: 18,5% vs. 16% bei Frauen und 14,9% vs. 9% bei Männern für Lungenkrebs; 62,3% vs. 49% bei Frauen und 56,2% vs. 45% bei Männern für Darmkrebs; 94,5% vs. 63% (Zeitraum 1980–1988) bei Männern für Prostatakrebs [6]. Nur beim Lungenkrebs der Frauen lag der Unterschied unter 4%. Einschränkend muss jedoch berücksichtigt werden, dass die früheren Schätzungen allein auf den damals verfügbaren saarländischen Krebsregisterdaten beruhten und auch der Altersbereich mit 0 bis 89 Jahren größer war als mit 15 bis 79 Jahren in der vorliegenden Untersuchung. Das Saarland weist zwar eine im Vergleich zu den anderen Bundesländern unterdurchschnittliche Lebenserwartung auf, allerdings ist auch in den hier ausgewählten sechs Krebsregisterregionen nur Sachsen als eines der Bundesländer mit den höchsten Lebenserwartungen Deutschlands vertreten [22]. In einem Vergleich verschiedener europäischer Länder mit Patientendaten aus den 1990er Jahren resultierten bei Krebs insgesamt ebenfalls noch geringere Anteile Geheilter, die maximal bei Frauen 58,6% (Frankreich) und bei Männern 46,6% (Island) betrugen [23]. Daten aus Deutschland flossen zwar in die europaweiten, altersspezifischen Schätzungen mit ein, basierten jedoch ebenfalls ausschließlich auf den saarländischen Krebsregisterdaten und wurden nicht regional ausgewertet.

Im Vergleich zu den vor mehr als zwei Jahrzehnten für das Saarland ermittelten Schätzungen [6] waren die geschlechterspezifischen Unterschiede im Anteil Geheilter in der vorliegenden überregionalen Untersuchung geringer ausgeprägt (von 1,3:1,0 in der Kohorte 1985–88 auf 1,1:1,0 im Periodenfenster 2013–2014). Dabei gelten jedoch die oben angegebenen Einschränkungen in der Vergleichbarkeit beider Untersuchungen. Der ermittelte Geschlechtergradient in den Heilungsquoten bei Krebserkrankten steht auch international im Einklang mit Ergebnissen aktueller Untersuchungen [9], [23], [24]. Die beobachteten Unterschiede werden dabei auf allgemein höhere Überlebensraten bei Frauen zurückgeführt, die möglicherweise aus einer geringeren Komorbiditätslast sowie tendenziell früheren Stadien zum Zeitpunkt der Diagnosestellung resultieren [25]. Die zukünftige Untersuchung der Anteile geheilter Krebspatientinnen und -patienten im zeitlichen Verlauf ist daher sehr wichtig, um verbleibende gesundheitliche Ungleichheiten zu eruieren. Zudem müssen möglichen Ursachen für verbleibende Unterschiede beispielsweise bezüglich Inanspruchnahme, Versorgung und Selbstmanagement von Krebserkrankungen weitergehend beleuchtet werden.

Stärken und Limitationen

Die vorliegende Periodenanalyse liefert eine bevölkerungsbezogene Einschätzung zu aktuellen Langzeitüberlebensaussichten von Krebspatienten in Deutschland. Sie ist zudem die hierzulande bisher einzige populationsbasierte Untersuchung, in der Heilungschancen für häufige Krebslokalisationen sowie für Krebs gesamt mit aktuellen Daten aus sechs bundesdeutschen Krebsregistern geschätzt wurden. Durch Imputation fehlender Werte zur Überlebenszeit ließ sich weiterhin der Einfluss des Umfangs ausgeschlossener DCO-Fälle in den Analysen quantifizieren. Da sich jedoch nur geringe Abweichungen in den Ergebnissen beobachten ließen, ist von keiner relevanten Überschätzung des Anteils Geheilter auszugehen.

Im Vergleich zur Betrachtung relativer Überlebensraten von Krebserkrankten insgesamt, basiert der hier eingesetzte Mixture-Cure-Modellansatz auf der Unterscheidung zweier Krebspatientengruppen (Geheilte, Gestorbene), die vergleichend betrachtet werden und so einen differenzierteren Einblick in Veränderungen im Langzeitüberleben ermöglicht. Die Gruppe der Geheilten wird durch den Parameter P beschrieben, der den Anteil der Personen repräsentiert, die trotz ihrer Krebserkrankung eine zur Allgemeinbevölkerung vergleichbare Lebenserwartung haben. Die Gruppe der Verstorbenen ist dagegen durch ihr Absterbeverhalten charakterisiert. Die entsprechende Überlebensfunktion wird meist vereinfacht durch den Mittelwert repräsentiert bzw. aufgrund der schiefen Verteilung durch den Median T. Somit liefern Mixture-Cure-Modelle Hinweise auf mögliche zugrunde liegende Ursachen von Veränderungen im Langzeitüberleben von Krebspatientinnen und -patienten. Bei der Interpretation der vorliegenden Ergebnisse sind jedoch einige Einschränkungen zu berücksichtigen:

Erstens wurden aufgrund der limitierten Datenverfügbarkeit nur sechs bundesdeutsche Krebsregisterregionen berücksichtigt und der Follow-Up-Zeitraum auf 10 Jahre beschränkt. Dies ist zum einen dadurch bedingt, dass einige bundesdeutsche Krebsregister im betrachteten Zeitraum noch keine flächendeckende Registrierung hatten und somit von der Analyse ausgeschlossen werden mussten, um einen einheitlichen Gebietsstand über den gesamten Auswertungszeitraum zu gewährleisten. Zum anderen wiesen einige Register in früheren Jahren noch höhere DCO-Anteile auf, sodass eine Verlängerung der Follow-Up-Zeit über 10 Jahre hinaus zu weiteren Ausschlüssen geführt hätte. Der Einfluss der ausgeschlossenen DCO-Fälle ist stark abhängig von der Wahl der einbezogenen Krebsregister. Durch den Einschluss weiterer Krebsregisterdaten mit einem jährlichen DCO-Anteil von mehr als 10% seit 2003 wäre auch der Rückgang des geschätzten Anteils Geheilter stärker ausgefallen, da in diesem Fall prozentual mehr Fälle von den Korrekturen betroffen gewesen wären.

Zweitens wurde den vorliegenden Mixture-Cure-Modellierungen die Weibull-Verteilung zugrunde gelegt, für die sich jedoch Hinweise auf eine eingeschränkte Flexibilität in der Kurvenanpassung für die Anteile Geheilter ergaben. So zeigte sich für Krebs gesamt bei Männern in Abbildung 1 [Abb. 1], dass in den ersten Monaten nach Diagnosestellung einer Krebserkrankung der Kurvenverlauf der modellierten im Vergleich zum Kurvenverlauf der relativen Überlebensraten zunächst langsamer abfällt; zum Ende des Follow-Ups wird dagegen das Plateau schneller erreicht. Lambert hat für diese Fälle einer systematischen Abweichung der Weibull-Kurve vom Verlauf der 10-Jahres-Überlebensraten seinen Mixture-Cure-Modellansatz um ein sogenanntes Split-Time-Modell und eine Modell-Mischung aus zwei Weibull-Verteilungen erweitert [17]. Zwar wird durch die Anwendung dieser erweiterten Heilungsmodelle eine höhere Flexibilität der Kurvenanpassung erreicht. Im Vergleich zur einfachen Weibull-Modellierung ergeben sich jedoch deutlich niedrigere Konvergenzraten der Modelle, da zusätzliche Annahmen benötigt werden bzw. die Wahl geeigneter Startwerte nicht immer möglich ist. Dennoch zeigt sich auch in der vorliegenden Abbildung 1 [Abb. 1], dass die Weibullkurve nicht immer eine ausreichende Flexibilität aufweist, um den Verlauf der relativen Überlebensraten optimal abzubilden. Im Vergleich zur alternativ einsetzbaren Exponentialverteilung ergeben sich jedoch deutlich bessere Anpassungen der modellierten Überlebensraten an die nichtparametrischen relativen Überlebensraten.

Drittens wurde die Untersuchung auf die Population 15 bis 79 Jahre beschränkt, da basierend auf den Erkenntnissen anderer Studien von einer Überschätzung des Anteils Geheilter durch Berücksichtigung Hochaltriger auszugehen ist. Wie von Lambert in seiner Arbeit aus dem Jahr 2007 an einem Beispiel mit über 79-jährigen Patientinnen und Patienten grafisch veranschaulicht, kommt es unter Verwendung der Weibull-Modellierung mit steigendem Abstand zum Diagnosezeitpunkt vor allem in der obersten Altersklasse zu einer zunehmenden Überschätzung der relativen Überlebensraten und damit sicherlich auch des jeweiligen Anteils Geheilter [17]. Dabei wird angenommen, dass die Weibull-Verteilung in den höchsten Altersgruppen nicht mehr flexibel genug ist, um den Verlauf der Überlebensraten adäquat abzubilden [12], [17]. Auch in der vorliegenden Arbeit ergaben ergänzende Analysen Hinweise auf eine Überschätzung des Anteils Geheilter durch Einschluss Hochaltriger (Daten nicht gezeigt). So zeigte sich für die Population 15–99 Jahre, dass die geschätzten Heilungsraten zum Ende des Follow-Ups überwiegend über den relativen Überlebensraten lagen, wobei sich die Konfidenzintervalle der Schätzer nicht überlappten. Vor diesem Hintergrund wurden in der hier vorgestellten Untersuchung analog zu den von Lambert et al. durchgeführten Mixture-Cure-Modellierungen auf Basis finnischer Krebsregisterdaten ebenfalls nur Personen zwischen 15 und 79 Jahre berücksichtigt [12].

Schließlich musste aufgrund zeitlicher Einschränkungen in der Verfügbarkeit bundesweiter Daten der Beobachtungzeitraum auf 10 Jahre begrenzt werden. Für alle untersuchten Lokalisationen wurde die Konvergenz der Heilungsmodelle erreicht. Wie oben dargestellt ergaben sich jedoch Hinweise darauf, dass für Frauen, bei denen zwischen 2003 und 2014 eine Brustkrebserkrankung diagnostiziert wurde, ein Follow-Up-Zeitraum von 10 Jahren nicht ausreichend ist, um verlässliche Schätzungen zu populationsbasierten Heilungsquoten vorzunehmen. So zeigte sich, dass die über die Zeit nach Diagnose dargestellten kumulativen relativen Jahresüberlebensraten selbst nach 10 Jahren noch deutlich über dem geschätzten Anteil Geheilter lagen und keine Plateauisierung weder in den modellierten noch nach Sterbetafel berechneten relativen Überlebensraten erkennen ließen. Dadurch stellt die Schätzung des Anteils Geheilter eine Extrapolation dar, für die eine längere Follow-Up-Zeit als 10 Jahre angemessen wäre und deshalb diese Schätzergebnisse hier nur grafisch präsentiert werden. Diese Beobachtungen sind außerordentlich konsistent mit den Ergebnissen anderer Studien, in denen sogar nach mehr als 20 Jahren Beobachtungszeit keine Annäherung der Überlebensraten von Brustkrebspatientinnen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung erreicht wurde [26], [27]. In einer US-amerikanischen Studie mit Daten des SEER-Programms (Surveillance, Epidemiology, and End Results) konnte nur auf Basis einer Follow-Up-Zeit von mehr als 30 Jahren eine verlässliche Schätzung des Anteils Geheilter erzielt werden [7]. Weitergehende Analysen zu Langzeitüberlebensaussichten von Brustkrebspatientinnen in Deutschland sollten somit auf Basis regionaler Krebsregisterdaten mit ausreichendem Beobachtungszeitraum vorgenommen werden, wobei das hohe Anforderungen an die Datenqualität hinsichtlich des Mortalitätsabgleichs stellen würde.

Implikationen für Untersuchungen zu Langzeitüberlebensaussichten mittels parametrischer Heilungsmodelle

Die aktuelle Untersuchung liefert weitere methodische Erkenntnisse, die von grundsätzlicher Bedeutung für Untersuchungen von Langzeitüberlebensaussichten sind:

Erstens wurden die vorliegenden Schätzungen zum Anteil Geheilter analog zu Lambert et al. mittels parametrischer Heilungsmodelle unter Verwendung der Maximum-Likelihood-Schätzmethode direkt auf Basis von Individualdaten vorgenommen [8]. Früher wurde hingegen, wie beispielsweise in der älteren Studie in Deutschland, das parametrische Heilungsmodell zweistufig geschätzt [6]: In einem ersten Schritt wurden relative Überlebensraten für eine möglichst lange Follow-Up-Zeit mittels der aktuarischen bzw. Sterbetafelmethode bestimmt, zumeist auf der Basis von Jahresintervallen. Im zweiten Schritt wurden die Parameter des Heilungsmodells auf der Basis der ermittelten relativen Überlebensraten mit Hilfe einer gewichteten nichtlinearen Kleinste-Quadrate-Methode geschätzt. Da bei der aktuellen Vorgehensweise keine Intervallbildungen wie im ersten Schritt der früheren Methode notwendig waren, ist dadurch keine Verzerrung der Schätzergebnisse möglich [28].

Zweitens wurde der in der vorliegenden Untersuchung vorgenommene iterative Maximum-Likelihood-Schätzprozess nicht wie in einer norwegischen Studie mit den vom Statistik-Paket standardmäßig vorgegebenen Startwerten durchgeführt [9]. Stattdessen erfolgte die zusätzliche Bestimmung eines lokalisationsspezifischen Startwertes von P, so wie es früher in der zweistufigen Schätzung verbreitet war [21]. Dazu wurden die relativen Überlebensraten des letzten Follow-Up-Jahres (bzw. die kleinsten ermittelten Raten) als Startwerte herangezogen, die nach dem Sterbetafel-Ansatz berechnet wurden. Diese Vorgehensweise war für Prostatakrebs bei Männern und für Brustkrebs bei Frauen von besonderer Bedeutung, da die diesbezüglichen Heilungsmodelle unter Verwendung der Standard-Startwerte nicht konvergierten. Erst durch die Wahl individueller Startwerte ließ sich eine Modell-Konvergenz erreichen. Für die übrigen hier untersuchten Krebserkrankungen war dagegen sowohl unter Verwendung der Standard- als auch der individuellen Startwerte eine Konvergenz der Modelle zu verzeichnen, wobei sich die Ergebnisse nicht unterschieden. In einer norwegischen Studie, in der ausschließlich die vom eingesetzten Statistikprogramm STATA vorgegebenen Standard-Startwerte zu Grunde gelegt wurden, konnte für Prostatakrebs bei Männern und Brustkrebs bei Frauen im Vergleich zu den anderen betrachteten Krebserkrankungen ebenfalls keine Modellkonvergenz erreicht werden. Der Einsatz von Vorwissen durch die Verwendung lokalisationsspezifischer Startwerte auf Basis der zum Ende des Follow-Ups beobachteten relativen Überlebensraten hätte hierbei möglicherweise analog zur vorliegenden Untersuchung ein deutlich verbessertes Konvergenzverhalten bei der Maximum-Likelihood-Schätzung erbracht.

Drittens ließ sich für alle hier untersuchten Krebslokalisationen, außer Brustkrebs, anhand des grafischen Vergleichs der modellierten Überlebensraten der Heilungsmodelle mit den nichtparametrischen Sterbetafel-Überlebensraten die sinnvolle Anwendbarkeit des 10-Jahres Follow-Up-Zeitraums aufzeigen. Da der Anteil Geheilter ein Maß für das Langzeitüberleben darstellt, sind insbesondere die Abweichungen zum Follow-Up-Ende von besonderem Interesse. Somit wurden nicht nur die geschätzten relativen Überlebensraten des Heilungsmodells, sondern auch der geschätzte Anteil Geheilter mit den nichtparametrischen relativen Raten nach der Ederer-II-Sterbetafelmethode gegenübergestellt und das Überlappen der Konfidenzintervalle am Ende des Beobachtungszeitraums geprüft bzw. grafisch dargestellt [26]. Mit Ausnahme von Brustkrebs ließ sich bei allen hier untersuchten Krebslokalisationen sowie Krebs gesamt im 10-Jahres-Follow-Up eine Annäherung der modellierten relativen 10-Jahresüberlebensraten an den geschätzten Anteil Geheilter beobachten.


Schlussfolgerungen

Im Vergleich zu früheren Untersuchungen im Saarland sowie innerhalb Europas ergeben sich aus den hier im aktuell betrachteten Periodenfenster 2013–2014 dargestellten Ergebnissen für Krebspatientinnen und -patienten in Deutschland Hinweise auf deutlich bessere Heilungschancen. Dabei sind bei Männern jedoch weiterhin schlechtere Überlebensaussichten zu beobachten als bei Frauen. Parametrische Heilungsmodelle können wichtige Erkenntnisse zur zeitlichen Entwicklung des Langzeitüberlebens von an Krebs Erkrankten liefern und dazu beitragen, Verbesserungen, aber auch noch bestehende Diskrepanzen in der Versorgung von Krebspatientinnen und -patienten in Deutschland aufzuzeigen.


Anmerkungen

Autorenbeitrag

JH, NB entwickelten Konzept und Design der Untersuchung, JH führte die statistischen Analysen durch; JH, NB, UW interpretierten die Ergebnisse. JH setzte den Manuskripttext auf. NB, UW revidierten den Text des Manuskripts.

Danksagung

Die Autoren danken den epidemiologischen Krebsregistern Deutschlands für die Bereitstellung ihrer Daten.

Interessenkonflikte

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


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