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ISSN 1865-066X

Rezension: Science Translational Medicine – Zellbasierte Therapeutika: Die nächste Säule der Medizin

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GMS Med Bibl Inf 2013;13(1-2):Doc16

doi: 10.3205/mbi000280, urn:nbn:de:0183-mbi0002806

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/mbi/2013-13/mbi000280.shtml

Veröffentlicht: 13. September 2013

© 2013 Forsythe.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Zusammenfassung

Science Translational Medicine [1] – Wissenschaftler haben nun Zugriff auf bemerkenswerte Tools, die die Durchführung strenger Untersuchungen zur Translation ermöglichen. Eine der Herausforderungen ist die Erstellung einer neu definierten Disziplin der translationalen Medizin. Dies erfordert das Aufkommen einer neuen und dynamischen Gemeinschaft engagierter Wissenschaftler, die zusammenarbeiten, um Wissenslücken zu füllen und Hürden zu überwinden oder zu umgehen, mit dem Ziel, die klinische Medizin zu verbessern. Auch die Pharmaindustrie sieht sich der Herausforderung des Wandels gegenüber. Noch vor zwei Jahrzehnten dominierten niedermolekulare Medikamente die Branche und haben sich seither zur wichtigsten Säule der modernen Medizin entwickelt. Mit der Entdeckung der Biologika, die einen Großteil der kürzlich entwickelten Medikamente ausmachen, wurde eine zweite Säule geschaffen. Heute steht die Biomedizin an der Schwelle einer dritten Revolution: der Verwendung mikrobieller und menschlicher Zellen als vielseitige therapeutische Antriebskräfte. Eine Perspektive „Zellbasierte Therapeutika: Die nächste Säule der Medizin“ [2], verfasst von den Autoren Fischbach et al. und veröffentlicht in Science Translational Medicine, erörtert das vielversprechende Potenzial dieser möglichen „dritten Säule“ der Therapeutika vor dem Hintergrund der aktuellen wissenschaftlichen, behördlichen, wirtschaftlichen und wahrnehmungsbezogenen Herausforderungen. Das Aufkommen der Zellmedizin erfordert die Entwicklung einer grundlegenden zelltechnischen Wissenschaft.

Schlüsselwörter: Biologika, zellbasierte Therapien, Zellverhalten, Zelltechnik, Zellrezeptoren, Morbus Crohn, arzneimittelresistent, Arzneimitteltransporter, menschliche genetische Variation, Pharmakodynamik, Pharmakokinetik, Proteintechnik, niedermolekulare Medikamente, Stammzellen, Target-bindende Eigenschaften, therapeutische Entwicklungspipeline, Geweberegeneration, Gewebereparatur


Science Translational Medicine – Zellbasierte Therapeutika: Die nächste Säule der Medizin

Die Autoren Fischbach et al. beginnen Ihren Forschungsbeitrag mit einer kurzen Stellungnahme zur Entdeckung von Biologika und niedermolekularen Medikamenten, welche die Pharmaindustrie verändert hat. Die Entdeckung von Biologika und niedermolekularen Medikamenten hat die Pharmaindustrie verändert. Sie haben den Weg für neue Anwendungen im Kampf gegen Erkrankungen bereitet und machen nun einen Großteil der aktuell auf den Markt gebrachten Medikamente aus. Die einzigartige Innovation der Big-Pharma-Konzerne war ihre Definition und Beherrschung der Wissenschaft zur Umwandlung kleiner Moleküle in Arzneimittel.

Biologika als Industrie haben ihre Anfänge in den 1980ern und bauten auf der Revolution der Molekularbiologie auf. Startup-Unternehmen wie Genentech und Genzyme entwickelten eine Expertise, die sich von der der Big-Pharma-Konzerne unterschied, indem sie hochfunktionale optimierte rekombinante Proteine entwickelten.

Die Autoren hypothesieren, dass die biomedizinische Wissenschaft heute an der Schwelle zu einer neuen pharmazeutischen Grenze steht: zellbasierte Therapien, die Verwendung menschlicher und mikrobieller Zellen als Therapiekonzepte. Zellen besitzen therapeutische Fähigkeiten, die sich von denjenigen kleiner Moleküle oder der Biologika unterscheiden und über das Gebiet der regenerativen Medizin hinausreichen. Zellen sind sowohl Arzneimittel als auch Gerät, da sie zu bestimmten Körperbereichen vordringen und Input integrieren können, um im Rahmen einer spezifischen Gewebeumgebung komplexe Reaktionen hervorzurufen. Diese Zellfähigkeiten könnten für die Behandlung von Infektionen und Krebs sowie zur Gewebereparatur genutzt werden. Die Herausforderungen im Zusammenhang mit der Kontrolle der Zellaktivitäten sind jedoch gewaltig. Die Autoren sind der Meinung, dass die Entwicklung der Zelltechnik als grundlegende Wissenschaft der nächste kritische Schritt ist.

Von all den aktuell erhältlichen Therapeutika sind allein Zellen dazu in der Lage, ihre Umgebung wahrzunehmen, Entscheidungen zu treffen und unterschiedliche und kontrollierbare Verhaltensweisen zu zeigen (Tabelle 1 [Tab. 1]). Fischbach et al. liefern eine ausführlichere Beschreibung der Zelleigenschaften, die im Folgenden dargestellt wird.

(a) Zellen führen therapeutische Aufgaben auf natürliche Weise durch. Zellen sind die einzigen von drei natürlichen Wirkstoffen, einschließlich kleiner Moleküle und Biologika, die therapeutische Aufgaben durchführen können. (b) Zellverhalten ist höchst selektiv. Zellen nehmen ihre Umgebung wahr und reagieren nur dann aktiv darauf, wenn eine Reihe molekularer Inputs vorliegt. Die Entwicklung und Kontrolle wichtiger Zellrezeptoren und wie ihre Signale verarbeitet werden, könnte die Anpassung von Reaktionen ermöglichen, sodass nur therapeutisch relevante Signale die Aktivierung eines spezifischen Zellverhaltens auslösen. (c) Zellen sind spezielle Transportstoffe. Die pharmakokinetischen und pharmakodynamischen Eigenschaften sowie der Metabolismus entscheiden darüber, wo sich im Körper kleine Moleküle und Biologika verteilen. Die Unfähigkeit, die Verteilung auf einen einzigen Zelltyp zu beschränken, führt jedoch oft zu Wirkungen an Stellen jenseits der Targets. Dies kann zu Risiken führen, die schwerwiegend genug sind, um ein Arzneimittelentwicklungsprogramm zu beenden, selbst im kostenintensiven Endstadium. Bei Zellen ist die Wahrscheinlichkeit für Wirkungen jenseits der Targets jedoch geringer, weil sie Gefahrensignale selektiv erkennen und zu ihnen wandern können, um dort ihre Wirkungen auf eine sehr zielgerichtete Weise auszuüben. (d) Zellen können mit den menschlichen genetischen Variationen umgehen. Die Bestimmung der richtigen Arzneimitteldosis für eine genetisch vielfältige Patientenpopulation stellt immer eine Herausforderung dar. Die gleiche Dosis eines niedermolekularen Medikaments bei unterschiedlichen Personen kann dazu führen, dass äußerst verschiedene Mengen des aktiven Metabolits das Target erreichen. Bei Zellen besteht das Potenzial, diese so zu entwickeln, dass sie sich automatisch an Unterschiede im Stoffwechsel des Wirts anpassen, indem ein rheostatartiger Schaltkreis eingebaut wird, der bei Bedarf eine größere Menge eines Moleküls produziert bzw. weniger, wenn ein Schwellenwert überschritten wird. Auf diese Weise könnten Zellen therapeutische Reaktionen hervorrufen, die bei unterschiedlichen Personen weniger individuell ausfallen. (e) Das Zellverhalten kann entwickelt werden. Patienten mit autoimmunem Typ-1-Diabetes müssen zum Beispiel ihren Blutzucker überwachen und Insulin injizieren. Den Diabetes nicht zu kontrollieren kann gefährlich sein und zu Blindheit, Amputation von Gliedmaßen und Tod führen. Wenn jedoch die Pankreaszellen durch eine Zelle ersetzt werden könnten, die Glucose wahrnimmt und Insulin produziert, wäre dies ein therapeutischer Durchbruch.

Fischbach et al. vermuten, dass zellbasierte Therapeutika auf einzigartige Weise dafür geeignet sind, den kritischen ungedeckten Bedarf bei menschlichen Krankheiten zu decken. Hier sind einige Beispiele, welche sie verschiedenen Forschungsberichten entnehmen: (a) Immunzellen, die Krebszellen suchen und zerstören. Eine der größten Herausforderungen in der Krebstherapie besteht darin, das Wachstum arzneimittelverträglicher oder -resistenter Krebszellen zu hemmen und Metastasenzellen, die sich von der Tumormasse gelöst haben und in den Blutstrom gelangt sind, auszubremsen und zu töten. Die Herausforderung des Aufspürens und Zerstörens formverändernder Zell-Targets ist eventuell für ein zellbasiertes Therapeutikum besser geeignet. Vor Kurzem durchgeführte Studien belegen die Wirksamkeit der Anwendung technisch entwickelter T-Lymphozyten bei der Behandlung von chronischer lymphoider Leukämie. (b) Bakterielle Behandlung bei Morbus Crohn. Vor Kurzem durchgeführte klinische Studien haben gezeigt, dass Verfahren, bei denen eine intakte Bakteriengemeinschaft in den Gastrointestinaltrakt eines Patienten transplantiert wird und die mikrobielle Gemeinschaft des Patienten ersetzt, eine effektive Behandlung für rezidivierende Infektionen darstellen. Eine einzige Behandlung könnte lange Zeit anhalten und wäre weniger invasiv als eine Operation. (c) Kombination bakterieller und Säugetierzellen-Therapeutika. Bei einigen Erkrankungen kann dieser duale Therapieansatz von Vorteil sein. Ein Beispiel ist das metabolische Syndrom, bei dem eine kombinierte Zelltherapie, die gleichzeitig die Kalorienaufnahme aus der Nahrung und den Appetit reduziert, eine wirksame Lösung wäre (Abbildung 1 [Abb. 1]).

Fischbach et al. zeigen zwei große Herausforderungen in der Entwicklung neuer Therapien auf: Sicherheit und Wirksamkeit. Bedenken hinsichtlich Sicherheit und Kosten sind der Kern aller Skepsis bezüglich zellbasierter Therapeutika. Die Entwicklung zellbasierter Therapeutika wird sich von derjenigen niedermolekularer Medikamente unterscheiden. Die technische Entwicklung dieser Wirkstoffe wird unter Umständen mehr Aufwand erfordern. Jedoch ist bei den Zelltherapeutika wahrscheinlich das Risiko für unerwartete Probleme im Endstadium, die oftmals die Entwicklung vielversprechender, neuer niedermolekularer Medikamente beenden, geringer. Die Autoren sind der Auffassung, dass:

1.
Die Lebenszeit einer Zelle sorgfältig kontrolliert werden kann. Sowohl Zelltherapeutika als auch Biologika können mit Nachteilen und auch Möglichkeiten verbunden sein. Jedoch können zellbasierte Therapeutika durch natürliche und künstliche (technisch entwickelte) Schaltkreise kontrolliert werden. Zwei Arten der synthetischen Lebenszeitkontrolle sind sehr vielversprechend. Es könnte ein Signalweg eingebaut werden, der die Selbstzerstörung der Zelle auslöst, sobald eine vorher definierte Anzahl an Zellteilungen erfolgt ist oder als Reaktion auf ein diffusibles Signal. Wenn zuverlässige Mechanismen zur Kontrolle der Zellteilung eingebaut werden können, könnte eine Behandlung prinzipiell unendlich anhalten. Die US-Arzneimittelzulassungsbehörde [3] hat für niedermolekulare Medikamente streng definierte Sicherheitskriterien erstellt, die auch für Zelltherapeutika entwickelt werden könnten, damit mögliche Hersteller über die einzuhaltenden Standards informiert sind. Das Vorhandensein von Standards würde Vorreiter dazu ermutigen, in neue Unternehmen zu investieren, deren Schwerpunkt auf der Entwicklung kreativer zellbasierter Therapeutika liegt.
2.
Bessere Quoten der therapeutischen Entwicklungspipeline vorliegen. Die Komplexität der Zelltherapien macht Forscher, Investoren und Zulassungsbehörden misstrauisch. Aber genau diese Eigenschaft könnte diese Wirkstoffe in der klinischen Praxis vorhersagbarer machen als niedermolekulare Medikamente oder Biologika. In einer Zelle existieren komplizierte Schaltkreise, um ihre räumliche und zeitliche Aktivität einzuschränken. Eine anomale Toxizität, die auf die Wirkmechanismen eines Arzneimittels auf das Target-Gewebe zurückzuführen ist, könnte durch eine zellbasierte Therapie aufgehoben werden, die speziell für den Angriff auf einen bestimmten Zelltyp entwickelt wurde. Die Verwendung einer Zelle, die ihre Aktivität automatisch auf der Basis einer gemessenen Reaktion anpasst, könnte die Toxizität überwinden, und zwar zum Beispiel aufgrund eines seltenen Polymorphismus, der die Konzentration des im Kreislauf vorliegenden Wirkstoffs verändert. Zellbasierte Therapeutika könnten ungewollte Nebenwirkungen mit sich bringen. Allerdings könnte sich herausstellen, dass diese Probleme mit technisch entwickelten Zelltherapeutika einfacher zu lösen sind, da der Hersteller bei Zellen die Möglichkeit hat, einen Kontrollschaltkreis einzubauen oder zu modifizieren.

In den letzten Jahrzehnten haben qualifizierte Wirkstoffchemiker niedermolekulare Medikamente entwickelt, und Proteintechniker wurden zum Aushängeschild der Biologika. Die Autoren stellen sich die Frage, wie zellbasierte Therapeutika in der Zukunft die „dritte Säule“ der Medizin und ein umsetzbares Fundament der Biotechnologie- und Pharmaindustrie werden können. Sie legen folgende Hypothesen dar:

Branche für zellbasierte Therapeutika blickt einer Zukunft mit nachhaltigem Wachstum entgegen. Zunächst sollte die Branche die Zelltechnik als eine grundlegende Wissenschaft angehen. Ohne eine entsprechende Wissenschaft der Zelltechnik werden zellbasierte Therapeutika aller Wahrscheinlichkeit nach auf zufällige Ad-hoc-Lösungen angewiesen sein, ohne eine systematische Vorgehensweise zur Entwicklung oder Optimierung der Zellen auf eine strategische, reproduzierbare Weise.

Wichtige, essentielle Kontrollmodule im Werkzeugkasten des Zelltechnikers. Die folgenden Techniken wären für den Erfolg der zellbasierten Therapeutika entscheidend. (a) Kontrolle über den Zelltod mit selbstregulierenden Mechanismen sowie externen wiederverwendbaren „Sicherheitsschaltern“. (b) Fähigkeit zur Umlenkung der Zellmigration und -bewegung auf spezielle Signale hin, wo Zellen aktiv werden sollen. (c) Quantitative Kontrolle der therapeutischen Zellreaktionen, einschließlich der Fähigkeit, Aktivierungsschwellen anzupassen und die von der Zelle hervorgerufene Reaktionsart zu kontrollieren. (d) Fähigkeit, die Zellkommunikation, einschließlich die Kommunikation Zelle-zu-Zelle, kleines Molekül-zu-Zelle und Biologika-Zelle, umzuprogrammieren. (e) Fähigkeit, die von der Zelle hervorgerufene Reaktionsart, wie zum Beispiel Aktivierung oder Gedächtniszellen-Bildung, zu kontrollieren. (f) Bedarfsgerechte Herstellung und Absonderung von kleinen Molekülen und Biologika durch die technisch hergestellten Zellen, die über das natürliche Molekül-Output hinausgeht. (g) Entwicklung systematischer Strategien und Intuition für die Anpassung und Modifikation des Zellverhaltens. Ein vergleichbarer Vorgänger ist die Regelungstechnik im Ingenieurswesen, die für selbstregulierende Geräte wie Thermostate, Tempomate und Autopilotsysteme eingesetzt wird (Abbildung 2 [Abb. 2]).



Die Autoren Fischbach et al. schließen ihren Beitrag mit einem positiven und interessanten Ausblick. Unsere Fähigkeiten bezüglich der genomischen Manipulation menschlicher Zellen nehmen rasant zu. Wir müssen mit Ideen zu den Arten der gewünschten genetischen Veränderungen vorbereitet sein, indem wir uns die fortgeschrittenen gentechnischen Verfahren vergegenwärtigen, die uns in den nächsten fünf bis zehn Jahren zur Verfügung stehen werden. Die Zeit für die Entwicklung von Zelltherapeutika ist jetzt gekommen – wie zuvor für die ersten Wirkstoffchemiker und Proteintechniker –, um die ersten systematischen Schritte zur Grundsteinlegung für die dritte Säule der Medizin zu unternehmen.


Anmerkung

Interessenkonflikte

Katherine H. Forsythe ist Senior Publisher Relations Specialist bei der American Association for the Advancement of Science, Washington, D.C., USA.


Literatur

1.
Science Translational Medicine [Journal]. Washington, DC: American Association for the Advancement of Science. Available from: http://stm.sciencemag.org Externer Link
2.
Fischbach M, Bluestone J, Lim W. Cell-Based Therapeutics: The Next Pillar of Medicine. Sci Transl Med. 2013 Apr 03;5(179):ps7. DOI: 10.1126/scitranslmed.3005568  Externer Link
3.
U.S. Food and Drug Administration. How Drugs are Developed and Approved. Silver Spring, MD: FDA; [updated: 01/03/2013]. Available from: http://www.fda.gov/Drugs/DevelopmentApprovalProcess/HowDrugsareDevelopedandApproved/default.htm Externer Link
4.
Weissman I. Stem cell therapies could change medicine... if they get the chance. Cell Stem Cell. 2012 Jun;10(6):663-5. DOI: 10.1016/j.stem.2012.05.014 Externer Link