gms | German Medical Science

GMS Health Innovation and Technologies

EuroScan international network e. V. (EuroScan)

ISSN 2698-6388

Prävention des fetalen Alkoholsyndroms

Kurzbeitrag

Suche in Medline nach

GMS Health Technol Assess 2013;9:Doc10

doi: 10.3205/hta000116, urn:nbn:de:0183-hta0001168

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/hta/2013-9/hta000116.shtml

Veröffentlicht: 2. September 2013

© 2013 Fröschl et al.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.

Der vollständige HTA Bericht in deutscher Sprache ist verfügbar unter: http://portal.dimdi.de/de/hta/hta_berichte/hta330_bericht_de.pdf


Zusammenfassung

Das fetale Alkoholsyndrom (FAS) ist die am häufigsten vermeidbare Behinderungsursache bei Neugeborenen. Es beschreibt vorgeburtlich entstandene Schäden von Kindern durch Alkohol. Das können sein: Minderwuchs und Untergewicht, Kleinköpfigkeit und Entwicklungsstörungen wie Sprach-, Hör- und Koordinationsstörungen. Es gibt Präventionsmaßnahmen, deren Wirksamkeit untersucht wird. Bereits mehrmalige kurze Beratungsgespräche, sogenannte Kurzinterventionen, steigern die Abstinenz von Schwangeren.

Schlüsselwörter: alkoholinduzierte Störungen, FAS, FASD, fetales Alkohol-Syndrom, Fetuskrankheiten, Frauen, Intervention, Kind, neugeborenes, Prävention


Kurzfassung

Gesundheitspolitischer Hintergrund

Jährlich werden in Deutschland circa 678.000 Kinder geboren. Laut der Drogenbeauftragten der Bundesregierung sind circa 10.000 Kinder von gesundheitlichen Folgen von Alkoholkonsum ihrer Mütter während der Schwangerschaft betroffen und bei circa 4.000 Neugeborenen ist von einem voll entwickelten fetalen Alkoholsyndrom (FAS) pro Jahr auszugehen.

In Deutschland ist bei Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen eine routinemäßige Alkoholanamnese vorgesehen.

Wissenschaftlicher Hintergrund

Beim FAS handelt es sich um eine vorgeburtlich entstandene Schädigung des Kindes durch von dessen schwangerer Mutter aufgenommenen Alkohol. Es gibt verschiedene Schweregrade (FAS Grad I bis III). Besonders häufige Schädigungen sind z.B. Minderwuchs und Untergewicht (vor- und nachgeburtlich), Kleinköpfigkeit (Mikrozephalie), mentale Entwicklungsverzögerungen, Sprach- und Hörstörungen, Ess- und Schluckstörungen bei Säuglingen, Hyperaktivität/Verhaltensstörungen, verminderte Muskelkraft, eingeschränkte Geschicklichkeit, Beeinträchtigung der Gesichtsmimik und Koordinationsstörungen.

Für eine erfolgreiche FAS-Präventionsstrategie sind vor allem Risikogruppen zu beachten. Risikogruppen sind insbesondere Frauen, die vor Eintreten der Schwangerschaft einen schädlichen Alkoholkonsum bzw. eine Alkoholabhängigkeit aufwiesen, und Frauen, die in vorangegangenen Schwangerschaften ein schädliches Trinkverhalten zeigten. Maßnahmen der selektiven Prävention setzen direkt bei diesen Risikogruppen an. Solche Maßnahmen stehen im Fokus des vorliegenden Berichts. Wesentlich für die erfolgreiche Durchführung selektiver Präventionsmaßnahmen ist die Früherkennung von problematischem Trinkverhalten vor und während der Schwangerschaft (z.B. durch gezielte Screeningmaßnahmen). Eine vielfach als effektiv eingeschätzte Interventionsform bei diesen Risikogruppen ist die sogenannte Kurzintervention (z.B. kurze einmalige oder mehrmalige Beratung von Frauen mit riskantem Trinkverhalten).

Forschungsfragen

Die operationalisierte Fragestellung lautet:

  • Welche Präventions- bzw. Interventionsmaßnahmen bei Frauen im gebärfähigen Alter sind zur Vermeidung des FAS effektiv und effizient? Welche Maßnahmen zur Reduktion des Alkoholkonsums bzw. zur Abstinenz während der Schwangerschaft sind in dieser Zielgruppe (Frauen im gebärfähigen Alter) effektiv und effizient? Gibt es unbeabsichtigte Nebenwirkungen?
  • Wie verhält sich die Kosteneffektivität?
  • Welche ethischen, sozialen, juristischen und organisatorischen Aspekte müssen berücksichtigt werden?

Methodik

Folgende Endpunkte werden zur Beantwortung der Fragestellung herangezogen:

  • Primäre Endpunkte: Anzahl von eindeutig diagnostiziertem FAS, Alkoholreduktion bzw. Abstinenz während der Schwangerschaft anhand eindeutiger Screeninginstrumente, wie der AUDIT-Fragebogen (Alcohol Use Disorders Identification Test)
  • Sekundäre Endpunkte: fetale Mortalität, Geburtsgewicht, Gestationsalter bzw. Frühgeburt, neonatale Intensivpflichtigkeit

Es wird eine systematische Literatursuche in 30 internationalen Datenbanken (z.B. MEDLINE, EMBASE, …) durchgeführt. Für die Suche in der Superbase werden sieben Schlagwortgruppen gebildet. Für die Suche nach für den Bericht relevanten Texten wurde eine Gruppe mit Begriffen zum FAS, eine Gruppe mit Begriffen zur Prävention von Alkoholkonsum (bei Frauen im gebärfähigen Alter) gebildet; die zwei Blöcke werden mit UND verknüpft. Für den Teil zur Effektivität von Präventionsmaßnahmen werden diese zwei Blöcke mit Begriffen zur Studienqualität verbunden.

Sowohl die Selektion der Zusammenfassungen als auch die der Volltexte erfolgen anhand vorab definierter Kriterien.

Da genauere und vertiefende Informationen zu Präventionsmaßnahmen für Suchtmittel konsumierende Schwangere und Frauen in der Stillzeit in Deutschland nicht öffentlich (bzw. online) verfügbar waren, wurde die zuständige Stelle im Bundesministerium für Gesundheit kontaktiert, und eine Liste aller geförderten Projekte mit Kurzbeschreibung wurde zurück gesendet.

Für die Beurteilung der Studienqualität werden einerseits die interne (das Biasrisiko) und andererseits die externe Validität (die Anwendbarkeit von Studienergebnissen auf Patientinnen/Patienten außerhalb der Studienpopulation) bewertet. Dafür werden vorab definierte Kriterien herangezogen.

Die zur Bewertung verwendeten Primär- und Sekundärstudien werden tabellarisch dargestellt.

Ergebnisse

Anhand der systematischen Literatursuche werden 1.217 Zusammenfassungen bestellt bzw. geliefert. Nach einer Selektion der Zusammenfassung anhand vorab definierter Selektionskriterien werden 188 Zusammenfassungen als Volltext bestellt. Von den 188 bestellten Volltexten werden 175 geliefert. Durch die ergänzende Suche werden 22 Publikationen ergänzt. Nach der Selektion der Volltexte werden acht Primär- und zwei Sekundärstudien für die medizinische Bewertung herangezogen, sieben Artikel werden der Bearbeitung sozialer, ethischer, organisatorischer und juristischer Aspekte zugeordnet sowie 38 Texte für die Hintergrunddarstellung herangezogen. Es konnte kein Volltext für die ökonomische Bewertung gefunden werden, ökonomische Aspekte werden in fünf Publikationen behandelt.

Zur Verbesserung von Präventionsangeboten für Suchtmittel konsumierende Schwangere und Frauen in der Stillzeit wurden bzw. werden vom Bundesministerium für Gesundheit 2011 und 2012 sieben zielgruppenspezifische Modellprojekte gefördert.

Zur medizinischen Fragestellung des Berichts gibt es nur acht relevante Primärstudien, die alle aus den USA stammen und qualitative Einschränkungen aufweisen. Qualitativ mangelhaft ist vor allem, dass die Erhebung der Endpunkte nicht verblindet und teilweise sogar von denselben Personen wie die Kurzintervention durchgeführt wurde. Aufgrund der eingeschränkten Stärke der Evidenz ist nicht auszuschließen, dass weiterführende, methodisch hochwertige Studien zu anderen Ergebnissen kommen.

Alle Primärstudien untersuchen Kurzinterventionen. Hinsichtlich der gesamten Studienpopulation zeigt nur eine Studie bei fast allen Endpunkten signifikant positive Unterschiede zwischen Interventions- und Kontrollgruppe. Bei zwei Studien zeigen sich positive Effekte der Intervention bei einem der untersuchten Endpunkte. Bei einer genaueren Analyse von Subgruppen in den Interventionsstudien finden sich bei vier weiteren Primärstudien signifikante positive Effekte der Intervention.

Bei allen Primärstudien weisen sowohl in der Interventions- als auch in der Kontrollgruppe positive Effekte auf. Dies ist ein Hinweis dafür, dass bereits die Anwendung eines Screening-Instruments oder die Thematisierung des Alkoholkonsums zu einer Reduktion des Alkoholkonsums während der Schwangerschaft führen.

Eine Studie aus den USA die, die Kosten des FAS abschätzt, kommt auf umgerechnet 2.070,90 Euro Mehrkosten pro Jahr für ein Kind mit FAS im Vergleich zu einem Kind ohne die Erkrankung. Diese Kostenschätzung umfasst Kosten für medizinische Leistungen und den Produktivitätsverlust.

Zur Prävention von FAS konnten Studien zu ethischen, sozialen und juristischen Aspekten identifiziert werden. Eine deutsche Studie zu Alkoholkonsum während der Schwangerschaft zeigte, dass Frauen aus der sozialen Oberschicht und mit höherem Alter als Risikogruppen zu betrachten sind. In zahlreichen Untersuchungen wurde nachgewiesen, dass Kinder aus Familien mit Abhängigkeitserkrankungen verstärkt von Alkoholabhängigkeit und Sucht betroffen sind.

Diskussion

Eine Übertragbarkeit der Studienergebnisse auf Deutschland ist nur bedingt möglich. Es ist vor allem anzumerken, dass die Studien in den USA größtenteils auf sozial benachteiligte Gruppen ausgerichtet sind, während in Deutschland eher ältere Frauen aus der Mittelschicht als Risikogruppen gelten. Trotzdem liefern die Studien sinnvolle Ansätze für die Prävention von FAS in Deutschland.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Kurzinterventionen, insbesondere aber das Screening bzw. die systematische Erfassung des Alkoholkonsums zu einer Reduktion des Alkoholkonsums bzw. einer Erhöhung der Abstinenz bei Schwangeren führen (Verbesserung bei Kontroll- und Interventionsgruppen). Unter welchen Bedingungen Interventionen erfolgreich und was explizite Erfolgsfaktoren sind, konnte mithilfe der dargestellten Studien nicht herausgearbeitet werden. Die Primärstudien liefern zu wenige detaillierte Beschreibungen der Interventionen und unterscheiden sich z.B. in der Interventionsdauer und im Zeitpunkt des Follow-up. O’Connor weist darauf hin, dass mehrmalige Kontaktaufnahmen die Wirksamkeit von Kurzinterventionen verbessern. Keine der Studien untersucht potenzielle Nebenwirkungen der Intervention. Es gibt keine Evidenz zu anderen Interventionsformen oder zu Interventionen im nicht-klinischen Setting.

Aus ethischer Sicht wichtig, sind ein respektvoller Umgang mit den Betroffenen und der gesamtgesellschaftliche Kontext des Alkoholkonsums (z.B. Situationen, in denen Alkoholkonsum gefördert wird). Ein juristischer Aspekt ist der potenzielle Sorgerechtsentzug bei einer Diagnose des FAS. Aus sozialer Sicht sind Frauen (nicht nur Schwangere), die einen höheren Alkoholkonsum aufweisen (dies sind vorrangig Frauen aus höheren Schichten), und Frauen mit Gewalterfahrungen als besondere Risikogruppen zu behandeln.

In Anbetracht der geringen vorhandenen Evidenz ist die Förderung von Modellprojekten in Deutschland sehr positiv zu bewerten. Wichtig ist es, dass diese Projekte wissenschaftlich begleitet werden und dass über deren Erfolg, aber nicht zuletzt auch über Misserfolgsfaktoren transparent berichtet wird. Darüber hinaus sollte das vom Deutschen Zentrum für Suchtfragen empfohlene T-ACE-Screening (T-ACE = Tolerance Annoyed Cut down Eye-opener) bei allen Mutterpassuntersuchungen Anwendung finden.

Weiterer Forschungsbedarf besteht hinsichtlich folgender Punkte:

  • Alle vorliegenden Studien stammen aus den USA. Insbesondere wegen der anderen Bevölkerungsstruktur (bzw. wegen anderer Risikogruppen) sind für eine erfolgreiche FAS-Prävention mehr methodisch hochwertige Studien insbesondere in Europa notwendig. Wesentlich dabei wäre, dass patientenrelevante Endpunkte berücksichtigt werden und eine Verblindung bei der Erhebung der Endpunkte stattfindet.
  • Potenzielle Nebenwirkungen durch Interventionen, wie Delirium, Depression, Angst oder Abbruch der pränatalen Untersuchungen, sollten in weiteren Studien unbedingt erhoben werden.
  • Mehr Studien sollten genauer untersuchen, welche Komponenten für den Erfolg/Misserfolg in welchem Setting wesentlich sind und über die bloße Messung der Effektivität hinausgehen. Interessant dabei wäre, wie viele Beratungen eine Intervention enthalten sollte, welche Qualifikation der Berater der Kurzintervention haben sollte, wie lange eine Kurzintervention im besten Fall dauert und welcher Zeitpunkt der Schwangerschaft optimal für eine solche ist.
  • Für eine erfolgreiche FAS-Präventionsstrategie ist ein Alkoholscreening zur Erfassung von schwangeren Frauen mit riskantem Alkoholkonsum eine Voraussetzung, weshalb sich auch in Screeningfragen weiterer Forschungsbedarf ergibt.
  • Da der Alkoholkonsum von Schwangeren und Frauen im gebärfähigen Alter nicht losgelöst von der Gesamtgesellschaft gesehen werden kann, besteht weiterer Forschungsbedarf in Bezug auf verhaltens- und verhältnispräventive Maßnahmen zur Verringerung des gesamtgesellschaftlichen Alkoholkonsums. Dabei geht es auch um Maßnahmen, die nicht direkt auf die FAS-Prävention abzielen (wie die Veränderung von sozialen und kulturellen Normen oder Alkoholpreisgestaltung), von denen aber unter Umständen eine indirekte präventive Wirkung zu erwarten ist.
  • Mehr geforscht werden sollte zu Frauen mit besonders hohem Risiko (zu schwangeren Alkoholikerinnen, zu schwangeren Frauen, die bereits ein Kind mit FAS geboren haben), bei denen Maßnahmen, wie Kurzinterventionen, nicht ausreichend sind (Alternative: Therapie).

Schlussfolgerung/Empfehlung

Folgende Empfehlungen lassen sich über den weiteren Forschungsbedarf hinaus aus der Bearbeitung der Hintergrundliteratur, der Primär- und Sekundärstudien sowie des Task-Force-Berichts ableiten:

  • Als Grundlage für weitere Präventionsmaßnahmen sind Prävalenzdaten zu FAS in Deutschland und zu besonders betroffenen Risikogruppen notwendig.
  • Wissenschaftliche Studien sollten alle deutschen Projekte begleiten, effektive Modellprojekte sollten ausgeweitet werden.
  • Die momentanen Maßnahmen zum Screening von Schwangeren in Deutschland sollten evaluiert und gegebenenfalls adaptiert werden.
  • Das medizinische und das nichtmedizinische Personal, das Screening sowie Kurzinterventionen bei Schwangeren durchführt, sollte speziell aus- und weitergebildet werden. Neben grundlegender Information zum Thema Alkohol und Schwangerschaft wird eine Weiterbildung zu Gesprächsführung sowie zu respektvollem und wertschätzendem Umgang mit den betroffenen Frauen empfohlen. Betroffene Frauen sollten bei Bedarf an entsprechende weitere Beratungs- und Behandlungsangebote verwiesen werden. Dazu ist eine Vernetzung der Angebote wichtig.
  • Da der Alkoholkonsum von Schwangeren im dritten Trimester der Schwangerschaft häufig wieder steigt, sind Kurzinterventionen in Form mehrmaliger persönlicher Kontaktaufnahmen über die gesamte Schwangerschaft sinnvoll.

Anmerkungen

Interessenkonflikte

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel haben.

INAHTA-Checkliste

Checkliste für HTA-bezogene Dokumente (Anhang 1 [Anh. 1]).