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GMS Mitteilungen aus der AWMF

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)

ISSN 1860-4269

Wie verbindlich sind Leitlinien?

Buchbesprechung

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GMS Mitteilungen aus der AWMF 2005;2:Doc6

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Received: February 22, 2005
Published: February 22, 2005

© 2005 Müller.
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Zusammenfassung

Im Mai 2004 fand in Bremen - organisiert vom Institut für Gesundheits- und Medizinrecht der Universität - die Tagung "Leitlinien und Recht" statt, bei der die rechtliche Verbindlichkeit von Leitlinien im Arzthaftungsrecht und im Sozialrecht das Generalthema war. Jetzt erschien unter dem Titel "Klinische Leitlinien und Recht" der Tagungsband mit allen bei der Tagung gehaltenen Vorträgen:

Schlüsselwörter: Leitlinien, Recht, Haftungsrecht, Sozialrecht


Text

Klinische Leitlinien und Recht.

Gesundheitsrecht und Gesundheitswissenschaften Bd. 8;

Kartoniert, 234 S.

Nomos-Verlag Baden-Baden 2005

ISBN 3-8329-1157-X, 49,- EUR

Im ersten Teil, der sich mit der Qualität und Akzeptanz medizinischer Leitlinien in Deutschland befasst, finden sich die Beiträge aus medizinischer Sicht, darunter auch der AWMF-Beitrag "Zur Empirie hochwertiger Leitlinien im System der AWMF: Gibt es sie und wie viele?" von I. Kopp, A. Encke, S. Hartig, W. Müller und W. Lorenz.

Im zweiten Teil spiegelt sich die erhebliche Diskrepanz in der Einschätzung von Leitlinien zwischen Rechtstheoretikern (z.B. Prof. D. Hart, Bremen) und Rechtpraktikern (z.B. die Richterin A. Diederichsen vom Bundesgerichtshof und Richter R. Rosenberg vom OLG Köln) hinsichtlich ihrer Verbindlichkeit wider:

Der Theoretiker Hart postuliert, dass Leitlinien für den einzelnen Arzt umso verbindlicher werden, je besser die Methodik ihrer Erarbeitung ist, da damit der "Standard" im jeweiligen Fachgebiet festgehalten werde und dieser Standard im Arzthaftungsprozess schließlich die Richtschnur sei:

"Der medizinische Standard ist eine Norm guter ärztlicher Behandlung und als solche medizinisch verbindlich. Eine ärztliche Leitlinie hat dem Standard im Zeitpunkt ihrer Verabschiedung zu entsprechen. Sie ist ebenso medizinische Norm und deshalb verbindlich." (S. 88) ... "Nur eine entsprechend wissensbasierte und konsentierte Leitlinie kann medizinische Verbindlichkeit und Normcharakter beanspruchen ... Deshalb ist jede S3-Leitlinie im Zeitpunkt ihrer Verabschiedung identisch mit dem Standard und damit gleichzeitig haftungsrechtlich verbindlich." (S. 97)

Er beklagt, dass sich die Rechtspraxis den Leitlinien gegenüber "sehr zurückaltend bis ignorant" verhalte.

Im Gegensatz dazu legen die Rechtspraktiker dar, dass im Arzthaftungsprozess nach wie vor der konkrete Einzelfall daraufhin zu überprüfen sei, ob der Arzt gegen seine Sorgfaltspflicht verstoßen habe. Dies könne das Gericht immer nur durch die Einschaltung eines medizinischen Sachverständigen klären, der zu beurteilen hat, ob der beschuldigte Arzt im konkreten Einzelfall einen Fehler gemacht hat oder nicht. Da Leitlinien immer nur für "typische" Fälle formuliert werden, sind sie bei der rechtlichen Beurteilung des individuellen Einzelfalls möglicherweise eine Hilfe für den Sachverständigen, jedoch nicht für das Gericht:

"Weder garantiert die Kompetenz des Fachgremiums, das sie erarbeitet hat, noch die Korrektheit des Verfahrens, mit dem sie erstellt werden, die absolute Geltung im Einzelfall wegen der Unmöglichkeit einer Verallgemeinerung der Behandlungsbedingungen infolge der Unberechenbarkeit des menschlichen Organismus. ... Bei der rechtlichen Prüfung eines standardgemäßen Handelns wird der Richter deshalb weiterhin die Aufklärung durch das Gutachten eines Sachverständigen benötigen und sich nicht auf den Wortlaut einer Leitlinie verlassen können." (Diederichsen, S. 196f)

"Die Leitlinie stellt keine medizinische Bewertung des konkreten streitbefangenen Behandlungsgeschehens dar, sondern eine Hilfe für Ärzte zur Entscheidungsfindung in spezifischen Situationen. ... Für den Sachverständigen sind Leitlinien allerdings eine zu beachtende Erkenntnisquelle ..." (Rosenberger, S. 116f).

Im dritten Teil befasste sich die Tagung mit der sozialrechtlichen Relevanz von Leitlinien. R. Franke (Bremen) diskutiert u.a. die Einführung einer öffentlich-rechtlich geregelten Zertifizierung von Leitlinien, mit der ihnen auch im Bereich des Sozialrechts eine verbindliche Regelungswirkung zukommen könnte, lehnt aber letzendlich eine Bindung der sozialrechtlich legitimierten Akteure (z.B. Gemeinsamer Bundesausschuss) an Leitlinien ab.

Auch der Richter am Bundessozialgericht T. Clemens lehnt eine sozialrechtlich verankerte Bindung von Ärzten an Leitlinien als unverhältnismässigen Eingriff in die ärztliche Berufsausübungsfreiheit ab, plädiert aber für die angemessene Berücksichtigung des medizinischen Inhalts von Leitlinien bei der Festlegung von sozialrechtlichen Richtlinien.

R. Hess als Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) sieht das Konfliktpotential zwischen der Rechtsverbindlichkeit der Beschlüsse des G-BA und der den medizinischen Leitlinien ausdrücklich "immanenten Charakteristik als Handlungsempfehlung mit der diesen Leitlinien immanenten Möglichkeit einer begründeten Abweichung im Einzelfall". Bei der Bewältigung seiner Aufgaben wird sich der G-BA zukünftig der Beratung durch das "Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)" bedienen, das dabei allerdings eng mit wissenschaftlichen Einrichtungen und Fachgesellschaften kooperieren muss.

M. Perleth (AOK-Bundesverband) plädiert für eine Verknüpfung von Leitlinien und ärztlicher Fortbildung, um die mögliche qualitätssichernde Wirkung von Leitlinien zu nutzen. Durch leicht verständliche Patientenversionen sollte die Kommunikation zwischen Arzt und Patient bei der Entscheidungsfindung im Einzelfall gestärkt werden.