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GMS Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS)

ISSN 1860-9171

Trendanalysen zur Inzidenz und Mortalität an Krebs in Deutschland seit 1970

Trends of cancer related incidence and mortality in Germany since 1970

Originalarbeit

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GMS Med Inform Biom Epidemiol 2015;11(1):Doc03

doi: 10.3205/mibe000159, urn:nbn:de:0183-mibe0001593

Veröffentlicht: 30. Juni 2015

© 2015 Haberland et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Die hier vorliegende Publikation führt eine vor längerer Zeit begonnene und auch 2014 publizierte Arbeit fort, langfristige Entwicklungen der Krebsinzidenz in Deutschland von 1970 bis 2010 zu schätzen (Haberland et al. 2014). Wie international üblich, wird die nationale Inzidenz auf der Basis von Quotienten aus Inzidenz und Mortalität verfügbarer regionaler Krebsregisterregionen geschätzt und durch Multiplikation mit der bundesdeutschen Mortalität auf Gesamtdeutschland übertragen. Dabei werden die eingesetzten Indikatoren zuvor mit Hilfe des weit verbreiteten Joinpoint-Verfahrens geglättet. Unter den analysierten Krebslokalisationen weisen Prostatakrebs bei Männern und Brustkrebs bei Frauen seit 1970 die höchsten absoluten Anstiege in den standardisierten Erkrankungsraten auf. Beide Entwicklungen werden begleitet von Rückgängen in den entsprechenden Mortalitätsraten seit den 1990er Jahren. Die geschätzten Inzidenzraten an Darmkrebs sind bei beiden Geschlechtern ab 1970 über 20 Jahre angestiegen, mit einem höheren Niveau bei Männern. Seit den 1990er Jahren stagnieren die Raten jedoch und sind im letzten Jahrzehnt sogar rückläufig. Auch hier nehmen die Mortalitätsraten zumindest seit Mitte der 1990er Jahre ab. Bei Lungenkrebs verlaufen die geschätzten Inzidenz- und Mortalitätsraten bei beiden Geschlechtern überwiegend parallel. Allerdings steigen die standardisierten Raten bei Männern nur in den 1970er Jahren an und sind seit den 1990er Jahren deutlich rückläufig. Dagegen steigen die Inzidenz- und die Mortalitätsraten bei Frauen über den gesamten Beobachtungszeitraum an, jedoch auf einem im Vergleich zu den Männern niedrigeren Niveau.

Schlüsselwörter: Krebsinzidenz, Krebsmortalität, epidemiologische Krebsregister, Todesursachenstatistik, Joinpoint-Methode, Poisson-Regression

Abstract

The present paper continues a work that has recently begun to estimate long-term incidence rates for Germany starting from 1970 up until 2010 (Haberland et al. 2014). National incidence is estimated by multiplying modeled national mortality with modeled incidence to mortality ratios obtained from regional German cancer registries. To achieve a greater stability in the results the included indicators are previously estimated (smoothed) using joinpoint models. Regarding the analyzed cancer sites, breast cancer incidence rates in women and prostate cancer incidence rates in men showed highest increase since 1970. These developments are accompanied by a decline in the corresponding mortality rates since the 1990s. The estimated incidence rates of colorectal cancer in both sexes increased since 1970 for more than 20 years with a higher level in men. However, since the 1990s the rates have stagnated and even declined in the last decade. Again, the standardized mortality rates are declining since the mid-1990s. The estimated lung cancer incidence and mortality rates run mainly parallel in both sexes. However, in men the standardized rates only increase in the 1970s and have declined significantly since the 1990s. In contrast, in women the incidence and mortality rates rise permanently for the whole observation period, at a lower level compared to men.

Keywords: cancer related incidence, cancer related mortality, epidemiological cancer registry, statistics on causes of death, joinpoint model, Poisson regression


Hintergrund

Krebs hat aus epidemiologischer Sicht nicht nur in Deutschland nach wie vor eine große gesundheitspolitische Relevanz und die Diagnose stellt für jeden Betroffenen ein schweres individuelles Schicksal dar. Dabei hat die Betrachtung sowohl der Entwicklung der Krebsinzidenz (Erkrankungshäufigkeit) als auch der Krebsmortalität (Sterblichkeit) einen großen Stellenwert. Der Verlauf des Krebssterbegeschehens lässt sich in Deutschland anhand der von den Statistischen Ämtern der einzelnen Bundesländer seit Jahrzehnten zuverlässig erhobenen Todesursachenstatistik flächendeckend beurteilen. Dagegen werden Krebsneuerkrankungen erst seit dem Jahr 2009 in ganz Deutschland flächendeckend auf der Grundlage der Gesetze jedes Bundeslandes erfasst. Zur längerfristigen Beurteilung der Entwicklung der Krebsinzidenz ist man daher nach wie vor auf Schätzungen auf Basis der vollzählig erfassenden bevölkerungsbezogenen (epidemiologischen) Krebsregister angewiesen.

In Deutschland hat die Dachdokumentation Krebs das Krebsgeschehen in Deutschland seit den 1980er Jahren zusammenfassend und übergreifend ausgewertet, zunächst im Bundesgesundheitsamt und nach dessen Auflösung im Jahr 1994 im Robert Koch-Institut (RKI). Dazu gehörte auch die wichtige Schätzung der bundesweiten Krebsinzidenz ab 1980 [1]. Mit dem Bundeskrebsregisterdatengesetz von 2009 ging die Dachdokumentation Krebs in das neu gegründete Zentrum für Krebsregisterdaten (ZfKD) über. Seitdem wird die Krebsinzidenz für Deutschland für den Zeitraum ab 1999 bis dato geschätzt [2], [3]. Zuverlässige regionale Krebsregisterdaten liegen jedoch für einzelne Landesregister auch für frühere Jahrzehnte vor.

Der hier vorliegende Beitrag setzt eine von Haberland et al. im Jahr 2014 publizierte Arbeit fort, in der deutschlandweite Inzidenzen im Zusammenhang mit früherkennungsrelevanten Krebserkrankungen ab 1970 geschätzt wurden [4]. Inzwischen wurde die dabei eingesetzte Methodik weiter verfeinert und auf ein erweitertes Spektrum an Krebslokalisationen angewendet. Die überarbeitete Methode sowie die daraus resultierenden Ergebnisse für Prostata-, Brust-, Darm- und Lungenkrebs werden im Folgenden detailliert beschrieben und im Trendverlauf diskutiert.


Datengrundlage

Die hier durchgeführten Trendanalysen beruhen sowohl auf der in Deutschland seit Jahrzehnten jährlich publizierten Todesursachenstatistik zu bösartigen Neubildungen als auch auf den Daten der regionalen epidemiologischen Krebsregister (EKR) der Länder, in denen auf der Basis eigener Landesgesetze die Krebsneuerkrankungen erfasst werden. Beide Statistiken basieren auf der „International Classification of Diseases“ (ICD), wobei über die Jahre hinweg mehrere Versionen zum Einsatz kamen. Prostatakrebs wurde zunächst in den Versionen 8 und 9 der ICD unter der Nr. 185 geführt. Mit der Version 10 der ICD (seit etwa 1998) erfolgt die Kodierung unter C61. Brustkrebs wurde früher unter der Nr. 174 verschlüsselt, danach als C50. Unter Darmkrebs werden in diesem Beitrag die zusammengefassten ICD-8/9-Gruppen 153-154 bzw. C18-C21 der ICD-10 verstanden. Lungenkrebs war vor 1998 unter der Nr. 162 kodiert und seit der ICD-10 unter C33-C34. Die über die Jahre erfolgten Klassifikationswechsel sind vereinzelt mit Änderungen der Kodierungsregeln verbunden, was bei einigen Krebslokalisationen zu Brüchen in der Statistik führt, aber bei den hier untersuchten Krebserkrankungen ohne erkennbaren Einfluss bleibt.

Im Gegensatz zur Mortalität stehen in Deutschland hinsichtlich der Inzidenz von Krebserkrankungen für die vergangenen Jahrzehnte keine flächendeckenden Daten zur Verfügung, sondern lediglich regionale Daten bevölkerungsbezogener Krebsregister, die erst seit dem Jahr 2009 in allen Bundesländern etabliert sind. Für die in diesem Beitrag durchgeführten langfristigen, nationalen Krebsinzidenzschätzungen wurden die Daten ausgewählter epidemiologischer Register eingesetzt, die im jeweiligen Zeitraum die Krebsneuerkrankungen möglichst vollzählig erfasst haben. Auch die im Folgenden präsentierten Schätzungen basieren auf denselben Krebsregisterdaten, die schon in den früheren Schätzungen einbezogen wurden [4]. Für den Zeitraum ab 1970 bis zur deutschen Wiedervereinigung waren das die Daten der Krebsregister des Saarlands und der DDR. Für die Jahre danach wurden für die Schätzungen die Registerdaten aus dem Saarland, Hamburg und Münster als Referenzen genutzt. Ab 1998 bis zum Ende des hier betrachteten Beobachtungszeitraums 2010 wurden diese drei Referenzregister um die Register von Bremen und Sachsen erweitert. Wie international üblich, enthalten die Inzidenzdaten der Referenzregister neben den gemeldeten Erkrankungsfällen auch die DCO (Death Certificate Only)-Fälle, die im Rahmen des periodisch durchgeführten Mortalitätsabgleichs von den Registern gefunden werden.

Anders als in den früheren Schätzungen erfolgt hier neu eine Gewichtung der Referenzregisterdaten vor dem Jahr 1990, um artifizielle Sprünge in den Raten durch den Wechsel der Referenzregister zu mildern. Dabei werden die alters- und geschlechtsspezifischen Inzidenz- und Mortalitätsfallzahlen des Saarlandes mit den jeweiligen Bevölkerungsanteilen der westlichen Bundesländer an Gesamtdeutschland gewichtet und die Daten der östlichen Bundesländer mit den entsprechenden Bevölkerungsanteilen Ostdeutschlands. Bei den verwendeten Bevölkerungszahlen handelt es sich um die von den Statistischen Ämtern jährlich fortgeschriebene durchschnittliche Jahres-Wohnbevölkerung, die alle in Deutschland wohnhaften Personen ohne Berücksichtigung ihrer Staatsangehörigkeit einbezieht.


Methodik

Zur Schätzung der bundesdeutschen Krebsinzidenzen werden, wie in der 2014 publizierten Arbeit, die international vielfach eingesetzten Quotienten aus Inzidenz und Mortalität (IR/MR) der Referenzregionen, jeweils multipliziert mit der nationalen Mortalität (MN), verwendet [5], [6]. Dieser Ansatz erlaubt Unterschiede in den Krebserkrankungsrisiken zwischen den Referenzregionen und Gesamtdeutschland. Unterstellt wird nur, dass sich diese Differenzen an den jeweiligen Mortalitätsunterschieden messen lassen. Die Verwendung der I/M-Quotienten beruht damit auf der Annahme, dass die Todesursachenstatistik in allen Bundesländern gleichartig erhoben wird und sich Diagnostik und Therapie innerhalb Deutschlands nicht wesentlich voneinander unterscheiden. Die notwendige vorherige Glättung der eingesetzten und unten in Klammern aufgeführten Indikatoren erfolgt, wie zuvor, mittels der weit verbreiteten Joinpoint-Methode [7]. Die altersspezifischen Inzidenz- und Mortalitätsraten werden dabei jeweils separat mit dem folgenden log-linearen Modellansatz geschätzt:

Formel 1

Dabei bezeichnet IKit den jeweiligen Indikator (Anzahl der Erkrankten IR bzw. der Gestorbenen MR in den Referenzregionen sowie der in Deutschland Gestorbenen MN) in der i-ten Altersklasse (0-4, 5-9, … 80-84, 85+) und zum Jahr t, Pit die dazugehörige durchschnittliche Bevölkerungszahl und JPji einen der insgesamt J Joinpoints (α+=α für α>0, 0 sonst). Unter Verwendung des vom National Cancer Institute frei zur Verfügung gestellten „Joinpoint Regression Program“ werden sowohl für alle altersspezifischen Inzidenz- und Mortalitätsraten der Referenzregionen als auch für die nationalen altersspezifischen Mortalitätsraten automatisiert die Joinpoints bestimmt (bei einer vorgegebenen Anzahl von maximal drei Joinpoints). Aus den daraus resultierenden, geglätteten altersspezifischen Indikatoren werden in einem zweiten Schritt die erwarteten nationalen Krebsinzidenzen (INerw) wie folgt geschätzt:

Formel 2

Bei dieser Schätzung wird berücksichtigt, dass in einigen Altersklassen die Zahl der Krebssterbefälle zu gering ist, als dass darüber eine sinnvolle Schätzung der Krebsinzidenz noch möglich wäre. In diesen Fällen, d.h. in denjenigen Altersgruppen, in denen weniger als 50 Sterbefälle über den gesamten Beobachtungszeitraum aufgetreten sind, werden die Krebsinzidenzen allein aus den (geglätteten) Krebserkrankungsraten der Referenzregionen geschätzt.

Um die Ungenauigkeiten, die mit dieser Schätzung – wie mit jeder anderen auch – verbunden sind, quantifizieren zu können, werden zusätzlich Prognoseintervalle mittels (semi)parametrischem Bootstrapping berechnet [8]. Dabei werden unter der Annahme Poisson-verteilter Fallzahlen wiederholt mit Hilfe eines Zufallszahlengenerators die Daten simuliert und die gesuchten Indikatoren geschätzt. Den in dieser Untersuchung berechneten Prognoseintervallen liegen jeweils 100 Bootstrap-Stichproben zugrunde.


Ergebnisse

Abbildung 1 [Abb. 1] zeigt die Verläufe der auf die alte Europabevölkerung altersstandardisierten, geschätzten Inzidenz- und Mortalitätsraten pro 100.000 der Bevölkerung seit 1970 für Prostatakrebs bei Männern in Deutschland. Die gepunkteten Linien beschreiben die approximativen 95%-Prognoseintervalle, anhand derer die Genauigkeit der jeweiligen Schätzungen beurteilt werden kann. Zusätzlich zu den Schätzungen sind in dieser Grafik und allen folgenden Abbildungen die von den Statistischen Ämtern jährlich beobachteten Sterberaten in Form von nichtverbundenen Symbolen dargestellt. Den dargestellten langfristigen Trendverläufen der Inzidenz werden in den einzelnen Grafiken die Kurvenverläufe der vom RKI aktuell über einen Zeitraum von rund 10 Jahren jeweils geschätzten Krebsneuerkrankungsraten zum Vergleich gegenübergestellt (graue Linien) [3].

Auch nach dieser neuen Schätzung weist die betreffende standardisierte Erkrankungsrate über den gesamten Beobachtungszeitraum dauerhaft einen Anstieg auf, mit besonders starken Zuwächsen ab 1990. Prostatakrebs hat sich dadurch inzwischen zur häufigsten Krebserkrankung bei Männern entwickelt [3]. Seit 2005 hat sich jedoch der Anstieg deutlich abgeschwächt. Auch die altersstandardisierte Sterberate steigt seit 1970 an, allerdings ist hier seit den 1990er Jahren ein deutlicher Rückgang zu beobachten.

Wie Abbildung 2 [Abb. 2] erkennen lässt, steigt auch die geschätzte altersstandardisierte Erkrankungsrate an Brustkrebs bei Frauen seit 1970 dauerhaft an, wobei sich dieser Anstieg ab Mitte der 2000er Jahre (Zeitpunkt der Einführung des Mammographie-Screenings) deutlich erhöht hat. Begleitet wird dieser starke, geschätzte Anstieg von einem Rückgang der standardisierten Sterberaten seit Mitte der 1990er Jahre.

Abbildung 3 [Abb. 3] zeigt die geschätzte Entwicklung von Darmkrebs bei Männern und Frauen seit 1970. Der anfängliche Anstieg in den geschätzten Inzidenzraten bei beiden Geschlechtern setzt sich ab den 1990er Jahren in einem Rückgang fort. Auch die (geschätzten) Mortalitätsraten sind zumindest nach 1990 rückläufig.

Beim Lungenkrebs (Abbildung 4 [Abb. 4]) verlaufen die geschätzten altersstandardisierten Raten zwischen den Geschlechtern deutlich unterschiedlich. Bei Männern steigen sowohl die Inzidenz- als auch die Mortalitätsraten seit den 1970er Jahren stark an, weisen aber spätestens seit den 1990er Jahren deutlich abnehmende Verläufe auf. Bei Frauen steigen dagegen sowohl die geschätzten Erkrankungs- als auch die Sterberaten über den gesamten Beobachtungszeitraum stetig an.


Diskussion

Anders als bei der Krebsmortalität stehen den hier präsentierten Krebsinzidenzschätzungen auf Bundesebene keine beobachteten Daten gegenüber, anhand derer man die Ergebnisse besser einordnen bzw. diskutieren könnte. Allerdings basieren die zuvor schon erwähnten regelmäßig vorgenommenen kurzfristigen RKI-Schätzungen der nationalen Krebsinzidenz teilweise auf beobachteten Krebsneuerkrankungszahlen bundesdeutscher Krebsregister. Diese deutschlandweiten Schätzungen resultieren aus der Aggregation der Daten aller Bundesländer. Aus den Regionen, die von Krebsregistern abgedeckt werden und deren Daten bestimmten Anforderungen genügen, werden die beobachteten Krebsneuerkrankungszahlen verwendet und aus allen übrigen Regionen entsprechende Erwartungswerte, die das RKI regelmäßig berechnet [3]. Ein Vergleich dieser Ergebnisse (siehe graue Linien in Abbildung 1 [Abb. 1], Abbildung 2 [Abb. 2], Abbildung 3 [Abb. 3] und Abbildung 4 [Abb. 4]) mit den langfristigen Krebsinzidenzschätzungen zeigt überwiegend höhere Werte in den kurzfristigen Schätzungen, wobei sich die Ergebnisse zum Ende des Beobachtungszeitraums 2010 annähern und die kurzfristigen Schätzungen größtenteils in die Vertrauensintervalle der langfristigen Schätzungen fallen. Die beiden Schätzungen für Brustkrebs bei Frauen (Abbildung 2 [Abb. 2]) verlaufen dagegen schon seit 2000 ähnlich. Jedoch weisen die kurzfristigen Schätzungen in den letzten beiden Jahren einen Rückgang auf, der sich in den hier vorgestellten langfristigen Trendschätzungen (noch) nicht widerspiegelt, da die Joinpoint-Methode auf signifikante Trendänderungen erst ab 3 Jahren prüft. Daher steigt die langfristige Trendschätzung auch nach 2009 weiter an. Dabei ist jedoch zu beachten, dass Krebsregisterdaten durch Meldeverzögerungen im aktuellen Meldejahr teilweise noch nicht vollzählig sind. Dadurch können die beobachteten Daten im jeweils letzten Meldejahr noch (temporär) geringer ausfallen, wobei solche Meldelücken in den Folgejahren zumeist aufgefüllt werden.

Ausgiebige Trendanalysen des epidemiologischen Krebsgeschehens mit Hilfe der Joinpoint-Methode wurden auch für Deutschland schon früher durchgeführt [9]. Dabei wurden allerdings ausschließlich die Krebsinzidenzdaten des Saarlandes stellvertretend für Gesamtdeutschland ausgewertet. Becker et al. weisen daher in ihrer Publikation auch auf eine Relativierung der Aussagefähigkeit ihrer Inzidenz-Mortalitätsvergleiche hin. Außerdem wurden von den Autoren nur über alle Altersklassen aggregierte Indikatoren, wie rohe und altersstandardisierte Raten, untersucht. Im Gegensatz dazu werden in der hier vorliegenden Arbeit alle altersspezifischen Inzidenz- und Mortalitätsraten jeweils einzeln einer Joinpoint-Analyse unterzogen und auf dieser Basis aus den geglätteten Werten die altersstandardisierten Raten berechnet. Jedoch stehen die ermittelten Joinpoints in den jeweils 18 Altersklassen nicht im Mittelpunkt dieser Untersuchung und werden deshalb hier auch nicht aufgeführt und diskutiert. Vielmehr dienen die Joinpoint-Analysen lediglich dazu, die wesentlichen Trendverläufe in den altersspezifischen Raten zu modellieren und damit zu glätten.

Wie die in Abbildung 1 [Abb. 1], Abbildung 2 [Abb. 2], Abbildung 3 [Abb. 3] und Abbildung 4 [Abb. 4] dargestellten Ergebnisse der geschätzten Krebsinzidenzen zeigen, sind die Kurvenverläufe um das Jahr 1990 herum deutlich glatter als die bei den entsprechenden früheren Schätzungen [4], bedingt durch die neu eingeführte Gewichtung der Referenzregisterdaten vor dem Jahr 1990. Dadurch ergeben sich zumindest für die hier untersuchten Krebslokalisationen glattere Übergänge beim Wechsel der verwendeten Referenzregionen im betreffenden Jahr. Dies erleichtert eine Interpretation der Kurvenverläufe, da man Änderungen in den geschätzten Inzidenzraten sonst vielfach als geänderte Erkrankungsrisiken interpretiert.

Auch wenn an der potentiellen „Sprungstelle“ 1990 durch die neu vorgenommene Bevölkerungsgewichtung die Krebsinzidenzschätzungen deutlich glatter verlaufen als ohne Gewichtung, lassen sich dennoch die verbliebenen Trendänderungen in den Krebsinzidenzen nicht restlos erklären.

Der bei Prostatakrebs in Abbildung 1 [Abb. 1] nach 1990 auffällig starke, aber nach 2005 kaum noch zu erkennende Anstieg in der geschätzten standardisierten Inzidenzrate wird in der Literatur auf einen in Deutschland zunächst vermehrten, aber ab Mitte der 2000er Jahre tendenziell stagnierenden Einsatz der PSA (Prostataspezifisches Antigen)-Testung zurückgeführt (z.B. [3], [9]). Aus der Entwicklung der geschätzten Prostatakrebs-Erkrankungsrate sollte man daher nicht unbedingt auf erhöhte Erkrankungsrisiken in Deutschland schließen, zumal die entsprechende altersstandardisierte Sterberate seit Mitte der 1990er Jahre rückläufig ist.

Bei Frauen wird der verstärkte Anstieg in der geschätzten Brustkrebsinzidenzrate seit Mitte der 2000er Jahre mit der schrittweisen Einführung des organisierten Mammographie-Screenings ab 2005 in Verbindung gebracht, durch eine vorzeitige Entdeckung vieler, auch kleinerer Tumoren. Auch hier geht diese Inzidenzentwicklung einher mit einem dauerhaften Rückgang der Brustkrebsmortalität seit Mitte der 1990er Jahre.

Bei Darmkrebs steigt das Erkrankungsrisiko mit zunehmendem Alter stetig an. Trotz des demografischen Wandels ist dennoch bei beiden Geschlechtern in den letzten Jahren ein Rückgang in den geschätzten Erkrankungszahlen (hier nicht dargestellt) zu verzeichnen [3]. Abbildung 3 [Abb. 3] zeigt auch in den geschätzten altersstandartisierte Inzidenz- und Mortalitätsraten für Darmkrebs nach 1990 sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern einen deutlichen Rückgang.

Lungenkrebs gehört nach wie vor zu den prognostisch ungünstigsten Tumoren [3]. Das spiegelt sich in Abbildung 4 [Abb. 4] an den relativ dicht und parallel verlaufenden Inzidenz- und Mortalitätsraten bei beiden Geschlechtern wider, wobei bei Männern die geschätzten Raten seit längerem rückläufig sind, im Gegensatz zu den Frauen, bei denen die Raten – nach dieser Schätzung – seit mehr als 40 Jahren ansteigen, unter anderem bedingt durch ein verändertes Rauchverhalten.

Obwohl mit der seit Jahrzehnten zuverlässig erhobenen Todesursachsenstatistik flächendeckend beobachtete Krebssterbezahlen für Gesamtdeutschland zur Verfügung stehen, wurden diese Zeitreihen hier ebenfalls modelliert. Zum einen werden die geglätteten Sterbezahlen für eine stabilere Schätzung der bundesdeutschen Krebsinzidenz benötigt und zum anderen geben die mittels Joinpoint modellierten Sterberaten die wesentlichen Trendverläufe der Zeitreihen deutlich besser wieder als die stärker variierenden beobachteten Zahlen selbst.

Betrachtet man in diesem Zusammenhang das GLOBOCAN-Programm, mit dem die International Agency for Research on Cancer (IARC) weltweit periodisch Krebsinzidenzen ermittelt, so unterscheidet sich deren Vorgehensweise bei der Berechnung je nach Datenlage im jeweiligen Land. Wenn für ein Land eine zuverlässige flächendeckende Krebsregistrierung existiert, werden die dortigen, teilweise schon älteren Registerdaten nur auf die aktuelle Bevölkerung hochgerechnet, um die aktuelle nationale Krebsinzidenz zu ermitteln. Stehen für ein Land keine flächendeckenden Krebsregisterdaten zur Verfügung, sondern nur zuverlässige Daten regionaler Register mit einer kleinräumigen Abdeckung, dann schätzt die IARC die nationale Krebsinzidenz auf der Basis von I/M-Quotienten, sofern auch eine zuverlässige nationale Mortalitätsstatistik vorhanden ist. Für den Fall, dass keine zuverlässigen regionalen Krebsregisterdaten zur Verfügung stehen, werden teilweise I/M-Quotienten aus Krebsregistern anderer, angrenzender Länder verwendet. Noch vor einigen Jahren hat die IARC die Krebsregisterdaten aus Österreich, Frankreich, den Niederlanden und der Schweiz genutzt, um Krebsinzidenzen für Deutschland zu schätzen [10]. In der aktuellen Auswertung für das Jahr 2012 schätzt die IARC die nationalen Inzidenzen für Deutschland jetzt auf der Basis von 9 bundesdeutschen Krebsregistern durch Anwendung dieser älteren Raten auf die derzeitige gesamtdeutsche Bevölkerung [5], [6]. Damit geht die IARC für Deutschland inzwischen von einer ausreichenden Abdeckung mit Krebsregistern aus, um so auf die Berücksichtigung von Mortalitätsunterschieden verzichten zu können. In dem hier vorliegenden Beitrag werden weiterhin die I/M-Ouotienten verwendet, da die von der IARC genannte Abdeckung von 28% der deutschen Bevölkerung diese Vorgehensweise nach Ansicht der Autoren noch nicht rechtfertigt, insbesondere weil sich die von der IARC verwendeten 9 deutschen Referenzregister zu 50% aus östlichen Bundesländern zusammensetzen, dieser Anteil aber nur 20% der deutschen Gesamtbevölkerung ausmacht. Noch dazu gibt es innerhalb Deutschlands teilweise deutliche Ost-West-Unterschiede in den Erkrankungsrisiken einzelner Krebserkrankungen, wie beispielsweise beim Brustkrebs, mit wesentlich niedrigeren Erkrankungsraten in den neuen Bundesländern [3].

Die auf der Verwendung des I/M-Quotienten beruhenden und bereits oben erwähnten Annahmen bedeuten letztlich ähnliche Überlebensaussichten von Krebspatienten zwischen den Referenzregionen und Gesamtdeutschland. Wie frühere Publikationen des Robert Koch-Instituts zu Ost-West-Vergleichen von Überlebensraten bei Krebserkrankungen zeigen, gab es vor 1990 durchaus Unterschiede, so beispielsweise bei Prostatakrebs [11]. Nach der deutschen Wiedervereinigung haben sich diese zwar verringert, dennoch sind teilweise noch signifikante Unterschiede zu erkennen [12]. Die in der aktuellen Schätzung neu vorgenommene Gewichtung der saarländischen Krebsregisterdaten mit den Bevölkerungsanteilen der westlichen Bundesländer sollte das für den Zeitraum vor 1990 zumindest teilweise berücksichtigen, unter der Annahme, dass es vor der Wiedervereinigung innerhalb der westlichen Bundesländer keine signifikanten Unterschiede in den Überlebensaussichten von Krebspatienten gab. Diese Annahme ist allerdings nicht überprüfbar, da vor 1990 Krebserkrankungen in der Bundesrepublik Deutschland noch nicht flächendeckend erfasst wurden [13].

Trotz gewisser methodischer Einschränkungen der hier vorgestellten langfristigen Krebsinzidenzschätzungen, bieten diese Schätzungen zusätzliche Ergebnisse zur Beschreibung und Bewertung der Entwicklung von Krebserkrankungen in Deutschland, ergänzend zu den regelmäßig im Robert Koch-Institut durchgeführten und gemeinsam mit der Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland (GEKID) publizierten kurzfristigeren Schätzungen.


Anmerkung

Interessenkonflikte

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

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2.
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