gms | German Medical Science

GMS Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS)

ISSN 1860-9171

Welche Kompetenzen in Medizinischer Informatik benötigen Ärztinnen und Ärzte? Vorstellung des Lernzielkatalogs Medizinische Informatik für Studierende der Humanmedizin

What competencies in Medical Informatics are required for physicians? Presentation of a catalog regarding learning objectives for medical students

Originalarbeit

Suche in Medline nach

GMS Med Inform Biom Epidemiol 2012;8(1):Doc04

doi: 10.3205/mibe000128, urn:nbn:de:0183-mibe0001285

Veröffentlicht: 20. Dezember 2012

© 2012 Dugas et al.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Zusammenfassung

Von der GMDS-Projektgruppe „MI-Lehre in der Medizin“ wurde unter Beteiligung aller Standorte, an denen derzeit Lehrveranstaltungen in diesem Fach durchgeführt werden, in einem mehrstufigen Verfahren ein national konsentierter Lernzielkatalog Medizinische Informatik (MI) für Studierende der Humanmedizin erarbeitet, der sich am Konzept des Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalogs Medizin (NKLM) orientiert.

Schlüsselwörter: Medizinische Informatik, Medizinstudent/in, Ausbildung

Abstract

Competencies in Medical Informatics are important for all physicians, for instance regarding electronic health records or digital imaging systems. Physicians spend more than 25% of their working time with information management. The International Medical Informatics Association (IMIA) recommends 40 hours of curricular training dedicated to Medical Informatics for physicians.

In this context, a national project group of the German Association for Medical Informatics, Biometry and Epidemiology developed a catalog of learning objectives for medical students regarding Medical Informatics. Seven areas of competencies were identified: Medical documentation and information processing, medical classifications and terminologies, information systems in healthcare, health telematics and telemedicine, data protection and security, access to medical knowledge and medical signal-/image processing. Overall, 42 learning objectives were identified and consented. For each objective a rationale why a physician needs this competence was provided. In addition, each objective was categorized according to competence context (A=covered by Medical Informatics, B=core subject of Medical Informatics, C=optional subject of Medical Informatics), competence level (1=referenced knowledge, 2=applied knowledge, 3=routine knowledge) and CanMEDS competence role (1=Medical Expert, 2=Communicator, 3=Collaborator, 4=Manager, 5=Health Advocate, 6=Professional, 7=Scholar).

Keywords: Medical Informatics, medical student, education


Einleitung

In den letzten Jahren und Jahrzehnten haben sich die Medizinische Informatik und ihre Anwendungen dynamisch entwickelt. Während vor einem Jahrzehnt noch Systeme in der Wissenschaft und IT (Informationstechnologie)-Verfahren für Verwaltungsabläufe im Vordergrund standen, werden derzeit Computersysteme zur Unterstützung klinischer Abläufe auf breiter Front eingesetzt, insbesondere elektronische Patientenakten und Bildverarbeitungssysteme. Dies führt dazu, dass nicht nur wissenschaftlich tätige Mediziner, sondern alle Ärztinnen und Ärzte in der Krankenversorgung Kompetenzen in Medizinischer Informatik benötigen. Dies ist insbesondere deshalb wichtig, weil mehr als ein Viertel der ärztlichen Arbeitszeit für Informationsmanagement aufgewendet wird [1], [2], das zunehmend IT-basiert erfolgt.

Verfahren der Medizinischen Informatik können die Krankenversorgung nicht nur effizienter gestalten, sondern auch die Behandlungsergebnisse für die Patienten signifikant verbessern (zum Beispiel [3]). Keine Wirkung ohne Nebenwirkung: IT-Systeme können durch Bedienungsfehler, Fehlfunktionen oder organisatorische Mängel die Patientensicherheit gefährden. Ein bekanntes Beispiel ist die Arbeit von Han [4], der über eine Verdopplung der Mortalitätsrate nach Einführung eines IT-Systems in einer Kinderklinik berichtet. Die Medizinische Informatik entwickelt sich somit zu einer Disziplin, die unmittelbare Relevanz für die individuelle Behandlung der Patienten hat. Neben Fakten und Fertigkeiten geht es hier auch um die Vermittlung einer verantwortungsvollen ärztlichen Haltung.

Unabhängig davon waren und sind Verfahren der Informationsverarbeitung für den wissenschaftlich tätigen Arzt von zentraler Bedeutung, beispielsweise in der Versorgungsforschung (Datenbanken für Register und Studien unter Einhaltung des Datenschutzes), in der Bildverarbeitung oder Bioinformatik-Verfahren in der Grundlagenforschung mit molekularen und genetischen Daten.

Vor diesem Hintergrund empfiehlt die International Medical Informatics Association (IMIA) Lehrveranstaltungen in Medizinischer Informatik im Umfang von 40 Stunden in der ärztlichen Ausbildung [5]. Dies wird derzeit in Deutschland nicht erreicht. In einer Umfrage der GMDS-Projektgruppe „MI-Lehre in der Medizin“ im Jahr 2012 lag der Umfang der Lehre in Medizinischer Informatik an den medizinischen Fakultäten in Deutschland zwischen 4 und 30 Stunden. Die GMDS-Projektgruppe „MI-Lehre in der Medizin“ wurde eingerichtet, um einen Konsensus über Lehrinhalte herzustellen und konkrete Vorschläge zur Verbesserung dieser unbefriedigenden Situation zu erarbeiten. In dieser Gruppe sind alle Standorte vertreten, an denen derzeit Lehrveranstaltungen in diesem Fach durchgeführt werden. Ein erstes Ergebnis der Projektgruppe ist der Lernzielkatalog Medizinische Informatik für Studierende der Humanmedizin. Im Folgenden wird dieser Lernzielkatalog und seine Entwicklung vorgestellt.


Methodik

Im Rahmen von regelmäßigen Treffen der Projektgruppe wurde zunächst diskutiert, in welche übergeordneten Themengebiete die Kompetenzen in Medizinischer Informatik für Ärztinnen und Ärzte eingeteilt werden können.

Als zweiter Schritt wurden zu den übergeordneten Themengebieten Einzelthemen formuliert und durch Befragung der Teilnehmer im Umlaufverfahren priorisiert. Das Ergebnis dieses zweiten Schrittes wurde als Themenkatalog zusammengefasst und mit einem Glossar ergänzt.

Im dritten Schritt wurde von der Leitung der Projektgruppe ein erster Entwurf eines kompetenzbasierten Lernzielkatalogs erstellt. Die Struktur dieses Katalogs orientierte sich am Konzept des Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalogs Medizin (NKLM) [6] und Katalogen aus anderen Disziplinen, wie zum Beispiel Orthopädie-Unfallchirurgie [7] und Anästhesiologie [8]. Zu jedem Themengebiet wurde formuliert und begründet, welche Kompetenzen Ärztinnen und Ärzte aus dem Umfeld der Medizinischen Informatik benötigen. Die einzelnen Lernziele wurden operationalisiert und es wurde ein Kompetenzlevel festgelegt. Dieser beschreibt, in welcher Tiefe von den Studierenden das Lernziel beherrscht werden muss. Nach Analyse der verfügbaren Lernzielkataloge wurde für die Medizinische Informatik eine dreistufige Einteilung der Kompetenzlevel definiert (Tabelle 1 [Tab. 1]).

Bei manchen Themen vermittelt die Medizinische Informatik Kompetenzen, deren Bedeutung sich aus einem spezifischen Tätigkeitskontext oder dem Zusammenwirken mit anderen Fächern ergibt. Tabelle 2 [Tab. 2] beschreibt die Stufen A, B und C des jeweiligen Kompetenzkontexts, mit dem die Lernziele kategorisiert wurden.

Der NKLM ordnet Lernziele sieben ärztlichen Kompetenzrollen zu, die in Tabelle 3 [Tab. 3] dargestellt sind. Diese Rollen wurden im Rahmen des CanMEDS Framework [9] entwickelt. Entsprechend wurden die Lernziele in Medizinischer Informatik mit diesen Kompetenzrollen annotiert.

Der erste Entwurfs des Lernzielkatalogs wurde durch Fachexperten überarbeitet und kommentiert. Diese Version bildete dann die Grundlage einer zweiten, mehrwöchigen Kommentierungsphase. Zur Unterstützung des Diskussionsprozesses wurde eine Webbasierte Anwendung eingerichtet, bei der die einzelnen Standorte zu jedem Lernziel Kommentare und Änderungsvorschläge einbringen konnten. Nach der Kommentierungsphase wurde von der Leitung der Projektgruppe eine konsolidierte Version des MI-Lernzielkatalogs erstellt und dem Fachausschuss Medizinische Informatik der GMDS und der GI (Gesellschaft für Informatik e.V.) vorgelegt.


Ergebnisse

Folgende sieben Themengebiete ärztlicher Kompetenzen wurden von der Projektgruppe identifiziert und konsentiert:

  • Medizinische Dokumentation und Informationsverarbeitung
  • Medizinische Klassifikationssysteme und Terminologien
  • Informationssysteme im Gesundheitswesen
  • Gesundheitstelematik und Telemedizin
  • Datenschutz und Datensicherheit
  • Zugriff auf Medizinisches Wissen
  • Medizinische Signal- und Bildverarbeitung

Für diese Themengebiete wurden insgesamt 42 Lernziele erarbeitet. Für jedes Lernziel wurde begründet, warum es bereits für ärztliche Berufsanfänger erforderlich ist und daher im Rahmen des Studiums der Humanmedizin erreicht werden soll. Ebenso wurden für jedes Ziel Kompetenzkontext, Kompetenzlevel und Kompetenzrolle festgelegt. Lernziele des Kompetenzkontext C, die im Rahmen zusätzlicher Lehrveranstaltungen erworben werden können, sind dabei nur beispielhaft aufgeführt.

Der Lernzielkatalog Medizinische Informatik für Studierende der Humanmedizin wurde vom Fachausschuss Medizinische Informatik (FAMI) der GMDS und der GI geprüft und am 30.11.2012 befürwortet. Der komplette Katalog, ergänzt um ein Abkürzungsverzeichnis, ist als Anlage dieser Publikation beigefügt (Anhang 1 [Anh. 1]).


Diskussion

Die dynamische Entwicklung der Informatik – bei Hardware und Software – in den letzten Jahren und Jahrzehnten beeinflusst und verändert alle Lebensbereiche, insbesondere auch die Medizin. Während in der medizinischen Forschung Verfahren der Informationsverarbeitung schon seit langer Zeit eine große Rolle spielen, wird in den letzten Jahren mehr und mehr auch die Patientenversorgung durch IT-Systeme direkt mitgestaltet. Die Vision der elektronischen Patientenakte ist Realität geworden, digitale Bildverarbeitungssysteme werden breit eingesetzt und Telemedizin gewinnt zunehmend an Bedeutung.

Dies muss Konsequenzen für die Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten haben, weil Verfahren der Informationsverarbeitung zwar einerseits die Patientenversorgung effizienter und qualitativ besser machen können, andererseits aber auch neue Probleme mit sich bringen, insbesondere bezüglich Patientensicherheit und Datenschutz. In der Forschung wächst die Bedeutung der Medizinischen Informatik ebenfalls, weil die Datenmengen rapide zunehmen ("Big data") und systematische Verfahrensweisen erforderlich sind. Gerade für die Versorgungsforschung werden künftig Informationssysteme im Gesundheitswesen eine zentrale Datenquelle sein. Über die Vermittlung von Fakten und Fertigkeiten hinaus geht es bei der Medizinischen Informatik auch um eine ärztliche Haltung und Verantwortung.

Mit dem Lernzielkatalog Medizinische Informatik ist es erstmals gelungen, die erforderlichen Kompetenzen von Ärztinnen und Ärzten in diesem Bereich zu operationalisieren. Wichtig ist, dass ein deutschlandweiter Konsens über diese Lernziele hergestellt werden konnte. Damit kann der Katalog in den NKLM eingebracht werden. Von internationaler Seite (IMIA) gibt es für die Medizinerausbildung bezüglich Themen der Medizinischen Informatik klare Empfehlungen, die im Einklang mit dem vorliegenden Katalog stehen. Der nächste Schritt ist eine Diskussion, wie diese Lernziele an den verschiedenen Standorten am besten umgesetzt werden können und welche Arten von Lehrveranstaltungen dafür am besten geeignet sind.


Schlussfolgerungen

Ärztinnen und Ärzte benötigen für ihre Arbeit in Klinik, Praxis, Forschung und Lehre Kompetenzen in Medizinischer Informatik. Ein detaillierter, national konsentierter Lernzielkatalog steht jetzt zur Verfügung. Dieser bildet die Grundlage für eine Diskussion, wie dies in der Medizinerausbildung am besten umgesetzt werden kann.


Anmerkungen

Danksagung

Für ihre intensive und konstruktive Mitarbeit am Lernzielkatalog möchten wir uns bei allen Mitgliedern der GMDS-Projektgruppe MI-Lehre in der Medizin bedanken, insbesondere bei: T. Deserno (Aachen), U. Prokosch (Erlangen), J. Ingenerf (Lübeck), P. Knaup-Gregori (Heidelberg), M. Behrends (Hannover), M. Marschollek (Hannover), T. Wetter (Heidelberg), A. Winter (Leipzig).

Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

1.
Blum K, Müller U. Dokumentationsaufwand in Arztlichen Dienst der Krankenhäuser. Repräsentativerhebung des Deutschen Krankenhausinstituts. Das Krankenhaus. 2003;7:544-8.
2.
Ammenwerth E, Spötl HP. The time needed for clinical documentation versus direct patient care. A work-sampling analysis of physicians' activities. Methods Inf Med. 2009;48(1):84-91.
3.
Kucher N, Koo S, Quiroz R, Cooper JM, Paterno MD, Soukonnikov B, Goldhaber SZ. Electronic alerts to prevent venous thromboembolism among hospitalized patients. N Engl J Med. 2005 Mar;352(10):969-77. DOI: 10.1056/NEJMoa041533 Externer Link
4.
Han YY, Carcillo JA, Venkataraman ST, Clark RS, Watson RS, Nguyen TC, Bayir H, Orr RA. Unexpected increased mortality after implementation of a commercially sold computerized physician order entry system. Pediatrics. 2005 Dec;116(6):1506-12. DOI: 10.1542/peds.2005-1287 Externer Link
5.
Mantas J, Ammenwerth E, Demiris G, Hasman A, Haux R, Hersh W, Hovenga E, Lun KC, Marin H, Martin-Sanchez F, Wright G. Recommendations of the International Medical Informatics Association (IMIA) on Education in Biomedical and Health Informatics. First Revision. Methods Inf Med. 2010 Jan;49(2):105-120. DOI: 10.3414/ME5119 Externer Link
6.
Hahn EG, Fischer MR. Nationaler Kompetenzbasierter Lernzielkatalog Medizin (NKLM) für Deutschland: Zusammenarbeit der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA) und des Medizinischen Fakultätentages (MFT). GMS Z Med Ausbild. 2009;26(3):Doc35. DOI: 10.3205/zma000627 Externer Link
7.
Walcher F, Dreinhöfer KE, Obertacke U, Waydhas C, Josten C, Rüsseler M, Venbrocks RA, Liener U, Marzi I, Forst R, Nast-Kolb D. Entwicklung des Lernzielkatalogs "Muskuloskelettale Erkrankungen, Verletzungen und traumatische Notfälle" für Orthopädie-Unfallchirurgie im Medizinstudium [Development of a catalogue of undergraduate learning objectives for orthopaedics and traumatology]. Unfallchirurg. 2008 Sep;111(9):670-87. DOI: 10.1007/s00113-008-1506-9 Externer Link
8.
Breuer G, Ahlers O, Beckers S, Breckwoldt J, Böttiger B, et al. Nationaler Lernzielkatalog „Anästhesiologie“ mit fachspezifischen Aspekten der Bereiche Intensivmedizin, Notfall- und Schmerzmedizin. Kommission Studentische Lehre und Simulartortraining der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI). Anasthesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther. 2013. (in press)
9.
Frank JR, Jabbour M, eds. Report of the CanMEDS Phase IV Working Groups. Ottawa: The Royal College of Physicians and Surgeons of Canada; March 2005.