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ISSN 2698-6388

Spezifische Immuntherapie (SIT) zur Behandlung der allergischen Rhinitis

HTA-Kurzfassung

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  • corresponding author Anja Hagen - Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland
  • author Vitali Gorenoi - Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland
  • author Matthias P. Schönermark - Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland

GMS Health Technol Assess 2010;6:Doc01

doi: 10.3205/hta000079, urn:nbn:de:0183-hta0000795

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/hta/2010-6/hta000079.shtml

Veröffentlicht: 16. März 2010

© 2010 Hagen et al.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.

Der vollständige HTA Bericht in deutscher Sprache ist verfügbar unter: http://portal.dimdi.de/de/hta/hta_berichte/hta254_bericht_de.pdf


Zusammenfassung

Wissenschaftlicher Hintergrund

Die allergische Rhinitis (AR) weist in Deutschland eine Prävalenz von ca. 20% auf und verursacht enorme Kosten im Gesundheitswesen. Die spezifische Immuntherapie (SIT) gilt als einzige potenziell kausale Therapie der AR und wird überwiegend in zwei Formen, subkutan (SCIT) und sublingual (SLIT), eingesetzt. Die SIT verspricht Verminderung der Symptome und Medikamentenanwendung bei AR.

Fragestellung

Es stellt sich die Frage, inwieweit die SIT bei der Behandlung der AR wirksam und kostenwirksam ist sowie welche ethisch-sozialen und juristischen Aspekten bei der Anwendung zu beachten sind.

Methodik

Die Literaturrecherche wird im Februar 2008 in den elektronischen Datenbanken MEDLINE, EMBASE etc. durchgeführt. Die medizinische Bewertung erfolgt anhand von systematischen Übersichten auf der Basis verblindeter, randomisierter kontrollierter Studien (RCT). Bei der ökonomischen Bewertung werden primäre gesundheitsökonomische Studien auf Basis von RCT einbezogen. Des Weiteren wird nach Publikationen mit expliziter Betrachtung von ethisch-sozialen und juristischen Aspekten der Anwendung von SIT gesucht.

Ergebnisse

Es werden zwei Übersichten zu SCIT und drei zu SLIT einbezogen. Zur SIT mit Gräserpollen werden Ergebnisse für kurz- und mittelfristige Effekte aus mehreren Studien betrachtet, zur SIT mit anderen saisonalen Allergenen (z. B. Baumpollen) und mit Hausstaubmilbenallergenen aus deutlich weniger Studien und zur SIT mit anderen ganzjährigen Allergenen nur aus einzelnen.

Die Übersichten berichten von einer signifikanten Reduktion des Symptom- und Medikationsscores zugunsten SCIT mit saisonalen Allergenen und sehen die Wirksamkeit zumindest für Gräserpollenallergene als belegt an. Auch für weiter saisonale Allergene wird die SCIT als wirksam eingeschätzt. Die Übersichten zu SLIT stellen eine signifikante Reduktion des Symptom- als auch des Medikationsscores zugunsten SLIT vs. Placebo im kurz- und mittelfristigen Follow-up bei Auswertungen über alle Allergene hinweg fest. Die Subgruppenanalysen zeigen eine signifikante Reduktion des Symptom- und Medikationsscores nur zugunsten SLIT mit saisonalen Allergenen.

Es werden vier Publikationen zu zwei gesundheitsökonomischen Studien identifiziert, davon eine zu Alutard-SQ®-Injektionslösung (SCIT) und drei zu GRAZAX®-Tabletten (SLIT). Die Studien liefern relativ robuste (zu Alutard-SQ®) oder weniger robuste (zu GRAZAX®) Hinweise, aber keine Nachweise, auf eine Kosten-Wirksamkeit dieser SIT-Präparate bei AR.

Diskussion

Das Thema des Berichts ist sehr breit, so dass die Evidenz aus systematischen Übersichten zusammengefasst wird. Insbesondere die in den Übersichtsarbeiten nachgewiesene statistische Heterogenität der Studien schränkt die Belastbarkeit der Aussagen deutlich ein. Die einbezogenen gesundheitsökonomischen Studien weisen verschiedene methodische Mängel auf, das größte Verzerrungspotenzial stellt die Projizierung der Stärke der mittelfristigen klinischen Effekte für den Zeitraum von neun Jahren dar.

Schlussfolgerungen

Die Wirksamkeit der SIT bei AR ist nicht für alle SIT-Formen und Allergene gleichermaßen belegt. Für die SCIT und SLIT mit Gräserpollenallergenen kann die kurz- und mittelfristige Wirksamkeit als belegt angesehen werden. Diese Therapieformen sollen bei entsprechenden Indikationen und wenn keine Kontraindikationen vorliegen, angewendet werden. Auch die SCIT und SLIT mit anderen saisonalen Allergenen wie Baumpollenallergenen können eine wirksame Behandlungsoption sein, allerdings wegen schlechter Datenlage insbesondere bei der SLIT mit gewisser Zurückhaltung. Für die SIT mit Hausstaubmilbenallergenen und weiteren Allergenen sind aus den vorliegenden Informationen keine konsistenten Wirksamkeitsnachweise zu ermitteln. Forschungsbedarf besteht zu der nicht-gräserpollenassoziierten SIT, allergen- und herstellerspezifischen Bewertungen sowie insbesondere im Bezug auf die Asthmaprävention. Die Kosten-Wirksamkeit der SIT kann wegen fehlender Nachweise nicht als belegt angesehen werden. Zum entsprechenden Nachweis sollen weitere gesundheitsökonomische Studien mit langfristigem Follow-up durchgeführt werden. Die informierte Einwilligung der Patienten ist eine wichtige ethische Voraussetzung beim Einsatz der SIT.

Schlüsselwörter: spezifische Immuntherapie, Immuntherapie, allergische Rhinitis, Hyposensibilisierung, Desensibilisierung, systematische Übersicht


Kurzfassung

1. Wissenschaftlicher Hintergrund

Bei der allergischen Rhinitis (AR, auch allergischer Schnupfen genannt) handelt es sich um eine entzündliche Erkrankung der Nasenschleimhaut und der oberen Luftwege durch allergieauslösende Stoffe (Allergene). Die AR ist eine häufige und weltweit offensichtlich zunehmende Erkrankung mit einer Prävalenz von ca. 20% in Deutschland. Die Patienten leiden unter lästigen Symptomen, wie verstopfter, juckender oder laufender Nase und sind zu einem hohen Prozentsatz in ihrer täglichen Aktivität und Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. Die Erkrankung tritt häufig schon im Kindesalter auf, wobei etwa jedes zehnte Kind betroffen ist. Es gibt Hinweise, dass eine unbehandelte Rhinitis häufig über den sog. Etagenwechsel in allergisches Asthma übergeht.

Die AR und ihre Komorbiditäten (Begleiterkrankungen) verursachen enorme Kosten im Gesundheitswesen. Die Ausgaben der ambulanten Versorgung für die AR 1996 werden auf 75 Mio. DM geschätzt. Es sind vor allem die direkten Kosten durch Medikamente. Hierbei gibt das Statistische Bundesamt 1996 Kosten in Höhe von 350 Mio. DM für Antiallergika an, was ca. 75% der Gesamtausgaben für AR ausmacht. Bei den indirekten Kosten sind die Kosten durch Arbeitsunfähigkeit erheblich, 29 Mio. DM für 1996. Die Gesamtkosten der AR (direkte und indirekte Kosten) werden 1996 insgesamt in Höhe von 467 Mio. DM angegeben. 2000 werden die Kosten im Gesundheitswesen für Deutschland auf ca. 240 Mio. Euro geschätzt.

Die spezifische Immuntherapie (SIT) gilt als die einzige potenziell kausale Therapie. Ziel der SIT ist es, durch die Verabreichung allmählich ansteigender Dosen des allergiebezogenen Allergenextrakts, eine klinische Toleranz gegen die jeweiligen Allergene zu erreichen. Inwieweit die beiden Formen der SIT, die subkutane spezifische Immuntherapie (SCIT) und die sublinguale spezifische Immuntherapie (SLIT) bei der Vielzahl an möglichen Indikationen wirksam bzw. kostenwirksam sind, ist unklar.

2. Fragestellung

Medizinische Bewertung

Die medizinische Bewertung soll folgende Fragen beantworten:

1.
Wie ist die Informationslage zur medizinischen Wirksamkeit des Einsatzes von verschiedenen Formen der SIT bei AR?
2.
Welche Formen der SIT sind bei welchen Indikationen wirksam? Wie sind medizinische Wirksamkeit und Komplikationsraten der verschiedenen Formen der SIT einzuschätzen?
Gesundheitsökonomische Bewertung

Im ökonomischen Teil werden folgende Fragestellungen bearbeitet:

1.
Wie ist die Informationslage zur Kosten-Effektivität des Einsatzes von verschiedenen Formen der SIT bei AR?
2.
Wie gestaltet sich die Kosten-Wirksamkeit des Einsatzes verschiedener Formen der SIT bei AR?
Ethisch-soziale und juristische Bewertung

Die ethisch-soziale und juristische Bewertung soll folgende Frage beantworten:

Welche spezifischen ethisch-sozialen und juristischen Implikationen sind beim Einsatz verschiedener Formen der SIT bei AR zu beachten?

3. Methodik

Die Literaturrecherche wird im Februar 2008 in den medizinischen elektronischen Datenbanken MEDLINE, EMBASE, SciSearch, BIOSIS, ETHMED, INAHTA, NHS-CRD-DARE, NHS-EED, SOMED, und der Cochrane Database durchgeführt. Die Recherchestrategie ist auf die Jahre ab 2003 beschränkt sowie auf die Sprachen Deutsch und Englisch. Die Bewertung der Literaturstellen erfolgt in drei Schritten (Titel, Zusammenfassungen, Volltext). Zwei unabhängige Reviewer sind an der Selektion der relevanten Publikationen beteiligt.

Medizinische Bewertung

Die medizinische Bewertung erfolgt aufgrund der Vielzahl an vorhandener Information anhand von systematischen Übersichten auf der Basis verblindeter, randomisierter kontrollierter Studien (RCT) deren Hauptfokus auf der Behandlung der AR liegt. Zusammenfassungen (engl. abstracts), Expertenstatements, nicht systematische Übersichtsarbeiten, systematische Übersichtsarbeiten nicht auf der Basis von verblindeten RCT, systematische Übersichtsarbeiten ohne getrennte Auswertung von AR- und Asthmastudien sowie Einzelstudien werden ausgeschlossen.

Gesundheitsökonomische Bewertung

Beim Einschluss gesundheitsökonomischer Publikationen werden ausschließlich systematische Übersichten von gesundheitsökonomischen Analysen oder primäre gesundheitsökonomische Studien auf Basis von RCT zum Vergleich von SIT mit Placebo, symptomatischer Therapie bzw. von verschiedenen SIT-Medikamenten untereinander in die Bewertung einbezogen.

Bei der Beschreibung und Bewertung der relevanten ökonomischen Studien werden folgende Aspekte berücksichtigt: Studiendesign, medizinische und gesundheitsökonomische Annahmen, methodische Aspekte der Studiendurchführung, medizinische und gesundheitsökonomische Ergebnisse. Als wichtigster gesundheitsökonomischer Parameter gilt das inkrementelle Kosten-Wirksamkeits-Verhältnis (IKER) pro qualitätsadjustiertem Lebensjahr (QALY) in den Studien.

Ethisch-soziale und juristische Bewertung

Bei der Literaturrecherche wird nach Publikationen mit expliziter Betrachtung von ethisch-sozialen und juristischen Aspekten der Anwendung von SIT gesucht. Da die Literaturrecherche der Deutschen Agentur für Health Technology Assessment (DAHTA) des Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) keine Treffer ergibt, wird die zusätzlich verwendete Literatur der Handsuche ebenfalls auf ethisch-soziale sowie juristische Aspekte der SIT gescreent und ggf. einbezogen.

4. Ergebnisse

Medizinische Bewertung
Zusammenfassung der Ergebnisse zu SCIT

Zur SCIT mit Gräserpollen im Vergleich zu Placebo werden in den Übersichten Ergebnisse für kurz- und mittelfristige Effekte aus mehreren Studien betrachtet, zur SCIT mit anderen saisonalen Allergenen und mit Hausstaubmilbenallergenen aus deutlich weniger Studien und zur SCIT mit anderen ganzjährigen Allergenen nur aus einzelnen. Beide Übersichtsarbeiten sprechen von einer signifikanten Wirksamkeit hinsichtlich Reduktion des Symptomscores und des Medikationsscores für SCIT mit saisonalen Allergenen. Insbesondere für die Gräserpollenallergie wird die Evidenz als gut belegt angesehen. Auch für Baumpollenallergene wird die SCIT als wirksam eingeschätzt, wenn auch auf etwas schlechterer Datenbasis.

Im Rahmen der eingeschlossenen Studien werden keine Todesfälle nach SCIT beobachtet, allerdings treten selten systemische unerwünschte Ereignisse (UE) schweren Ausmaßes und gehäuft lokale UE auf. Die Übersichten machen aufgrund fehlender einschließbarer Studien keine Aussagen zu langfristigen Effekten und zur Wirksamkeit speziell bei Kindern.

Zusammenfassung der Ergebnisse zu SLIT

Für den Vergleich von SLIT vs. Placebo stellen alle drei Übersichtsarbeiten eine signifikante Reduktion des Symptomscores als auch des Medikationsscores für SLIT im kurz- und im mittelfristigen Follow-up fest bei Auswertungen über alle Allergene fest. Bei den durchgeführten Subgruppenanalysen ergibt sich ein uneinheitliches Bild. Eine Übersicht zeigt zwar signifikante Wirksamkeitsergebnisse für SLIT bei gemeinsamer Auswertung aller Allergene bei Erwachsenen, nicht aber bei Kindern (in der Originalarbeit wird vermutet, dass die Datenlage nicht ausreichend ist). Bei der Subgruppenanalyse saisonale vs. ganzjährige Allergene findet sich eine signifikante Reduktion des Symptom- und Medikationsscores nur beim Vergleich von saisonalen Allergenen vs. Placebo, beim Vergleich SLIT mit ganzjährigen Allergenen vs. Placebo ist die Reduktion zugunsten SLIT nicht signifikant. Die spätere Übersichtsarbeit nur zu SLIT bei Kindern gibt in den Subgruppenanalysen eine signifikante Wirksamkeit für eine SLIT mit saisonalen Allergenen, nicht aber für eine SLIT mit Hausstaubmilbenallergenen an.

Eine weitere Übersicht von fünf Studien berichtet eine signifikante Reduktion des Symptomscores und Medikationsscores für SLIT mit Gräserpollen-, Birkenpollenallergenen sowie eine signifikante Reduktion des Symptomscores bei SLIT mit Hausstaubmilbenallergenen. Bei den drei in der Arbeit eingeschlossenen Studien zu Kindern (jeweils eine zu Gräserpollen-, Birkenpollen- und Hausstaubmilbenallergenen, alles ALK-Abelló-Produkte) zeigt nur die Studie zu SLIT mit Hausstaubmilbenallergenen eine signifikante Reduktion des Symptomscores.

Im Rahmen der in die Übersichtsarbeiten eingeschlossenen Studien zeigen sich keine Todesfälle oder Fälle von schweren systemischen UE, allerdings häufiger geringfügige lokale UE, insbesondere Jucken und Schwellung der Mundschleimhaut.

Gesundheitsökonomische Bewertung

Die Informationslage zur Kosten-Wirksamkeit des Einsatzes von verschiedenen Formen der SIT bei AR ist gering. Es werden vier Publikationen zu zwei gesundheitsökonomischen Studien identifiziert, davon eine zu Alutard-SQ®-Injektionslösung (SCIT) und drei zu GRAZAX®-Tabletten (SLIT).

Die Kosten-Wirksamkeit des Einsatzes verschiedener Formen der SIT bei AR ist aus heutiger Sachlage als nicht nachgewiesen zu betrachten. Es gibt relativ robuste (zu Alutard-SQ®) oder weniger robuste (zu GRAZAX®) Hinweise auf eine Kosten-Wirksamkeit des Einsatzes der SIT bei Patienten mit allergischer Rhinokonjuktivitis. Bei Alutard-SQ® kann eine Dominanz und bei GRAZAX® eine Kosten-Wirksamkeit im Vergleich zu Placebo nach neun Jahren vermutet werden. Die Kosten-Wirksamkeit anderer SIT-Medikamente ist bislang nicht ermittelt.

Ethisch-soziale und juristische Bewertung

Bei der durchgeführten Literaturrecherche wird nach Publikationen mit expliziter Betrachtung von ethisch-sozialen und juristischen Aspekten der Anwendung verschiedener SIT-Formen gesucht. Da die Recherche der DAHTA keine Treffer ergibt, werden die bei der Handsuche identifizierten Aspekte lediglich diskutiert.

5. Diskussion

Medizinische Bewertung

Das Thema des vorliegenden Berichts ist sehr breit angelegt, so dass die Evidenz aus den identifizierten systematischen Übersichten zusammengefasst wird. Ein Problem der Einbeziehung von systematischen Übersichten liegt in der fehlenden Abdeckung von Suchzeiträumen und damit verbunden besteht die Gefahr, dass relevante Studien nicht in die Bewertung einbezogen sind. Im vorliegenden Fall dürften die systematischen Übersichten zu SCIT die Literatur durchgängig den Zeitraum bis 2003 für alle Allergene, für die saisonalen Allergene bis 2006 abdecken. Für SLIT ist der Zeitraum bis 2006 sowohl für saisonale als auch ganzjährige Allergene sowohl für die Anwendung an Erwachsenen als auch an Kinder abgedeckt.

In allen drei Übersichtsarbeiten zu SIT mit einer Informationssynthese in Form einer Metaanalyse zeigt sich insgesamt eine große statistische Heterogenität der Studien. Dies schränkt die Belastbarkeit der Aussagen deutlich ein.

Eine Unterteilung nach Herstellern und Produkten wird nicht vorgenommen, wird aber u. a. von den Fachgesellschaften gefordert, um evidenzbasierte medizinische Entscheidungen treffen zu können.

Ebenso bleibt die Frage nach der optimalen Dosis und Behandlungsdauer weitgehend offen.

Als wesentlicher Vorteil der SLIT wird angeführt, dass schwerwiegende UE im Vergleich zur SCIT deutlich seltener auftreten. Trotz des sehr geringen bis fehlenden Auftretens von schwerwiegenden UE treten bei der Verabreichung von SLIT offensichtlich häufig leichte lokale UE wie Schwellung und Jucken im Bereich der Mundschleimhaut auf. Es ist allerdings zu bedenken, dass die Anwendung der SLIT im Gegensatz zur SCIT im häuslichen Umfeld ohne ärztliche Überwachung erfolgt und deshalb möglicherweise UE nicht sofort behandelt werden.

Die SLIT ist eine besonders für die Behandlung von Kindern attraktive Applikationsform, da sie ohne „Spritzen“ auskommt und zu Hause durchgeführt werden kann. Gerade für Kinder sind die Wirksamkeitsnachweise bei SLIT allerdings nicht konsistent und insbesondere für SLIT mit Nicht-Gräserpollenallergenen fehlen aussagekräftige Studien an Kindern. Eine Überprüfung der Datenlage zu SLIT speziell bei Kindern unter Einbeziehung aller neuen publizierten Studien im Rahmen einer separaten Forschungsarbeit wird in der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allergologie und Immunologie gefordert und von den Autoren der vorliegenden Gesamtübersicht empfohlen.

Die Prävention von Asthma und Neusensibilisierungen bei Patienten mit AR ist ein wesentliches Ziel der SLIT. Die in den vorliegenden Bericht eingeschlossenen Übersichten liefern jedoch keine verlässlichen Informationen über den präventiven Effekt der SLIT, da keine entsprechenden Studien einbezogen werden können.

Aus den einbezogenen Übersichten lassen sich nur zwei Studien dentifizieren, die einen direkten Vergleich zwischen SCIT und SLIT vornehmen, aber beide methodische Mängel aufweisen. Deshalb scheinen weitere Studien zum direkten Vergleich der beiden Applikationsformen, die den Empfehlungen der World Allergy Organization Taskforce gemäß geplant und durchgeführt werden, dringend erforderlich.

Gesundheitsökonomische Bewertung

Die einbezogenen gesundheitsökonomischen Studien weisen verschiedene methodische Mängel auf. Das größte Verzerrungspotenzial stellt die Projizierung der klinischen Effekte für den Zeitraum von neun Jahren dar. Diese Projizierung wird von den Studienautoren nur mit den Ergebnissen klinischer Studien begründet, die zum Teil eine niedrigere Evidenzebene aufweisen und keine quantitativen Effektschätzer liefern. Ein exakt gleich bleibender klinischer Effekt der Medikamente nach neun Jahren ist kaum zu erwarten.

Ethisch-soziale und juristische Bewertung

Es kann bei der Literaturrecherche keine relevante Publikation primär zu ethischen Aspekten identifiziert werden, deswegen werden ethische Aspekte beim Einsatz von SIT bei AR nur diskutiert. Die vorliegende medizinische Bewertung ergibt, dass die SIT mit nennenswerten Nebenwirkungen verbunden sein kann. Deshalb ist eine informierte Einwilligung des Patienten wichtig und soll entsprechend dokumentiert werden.

Da bei Individualrezepturen im Gegensatz zu den zugelassenen SIT-Fertigarzneimitteln die Qualität, Wirksamkeit und Verträglichkeit nicht in gleicher Weise überprüft wird, ist aus ethisch-juristischer Sicht den zugelassenen Fertigarzneimitteln der Vorzug zu geben, wenn es das Sensibilisierungsspektrum des Patienten zulässt.

6. Schlussfolgerungen

Die Wirksamkeit der SIT bei AR ist nicht für alle SIT-Formen und Allergene gleichermaßen belegt. Für die SCIT und SLIT mit Gräserpollenallergenen kann die kurz- und mittelfristige Wirksamkeit als belegt angesehen werden. Diese Therapieformen sollen bei entsprechenden Indikationen und wenn keine Kontraindikationen vorliegen, angewendet werden. Die SCIT oder die SLIT mit anderen saisonalen Allergenen wie Baumpollenallergenen kann eine wirksame Behandlungsoption sein, allerdings wegen schlechter Datenlage insbesondere bei der SLIT mit gewisser Zurückhaltung. Sowohl für die SCIT als auch für die SLIT mit Hausstaubmilbenallergenen und anderen Allergenen sind aus den vorliegenden Informationen keine konsistenten Nachweise der Wirksamkeit zu ermitteln. Die Wirksamkeit von SIT mit diesen Allergenen soll vor verbreitetem Einsatz genauer untersucht werden.

Da die vorliegenden Informationen aus den systematischen Übersichten zwar einen breiten aber eher überblickenden Bericht ermöglichen, sind weitere detailorientierte Analysen zu empfehlen. Die Autoren sehen erheblichen Forschungsbedarf vor allem im Bereich der nicht-gräserpollenassoziierten SIT, allergen- und herstellerspezifischen Bewertungen sowie einer detailorientierteren Wirksamkeitsprüfung der SIT bei Kindern, insbesondere in Bezug auf die Asthmaprävention. Für die SIT mit Hausstaubmilbenallergenen ist die Erstellung einer aktuellen allergenbezogenen Übersicht auf Basis von Primärstudien sinnvoll. Die Frage nach der optimalen Dosis und Behandlungsdauer sollte insbesondere für die SLIT weiter untersucht werden.

Die Kosten-Wirksamkeit des Einsatzes der SIT bei Patienten mit AR kann wegen fehlender Nachweise nicht als belegt angesehen werden. Der Hinweis auf eine Kosten-Wirksamkeit von Alutard-SQ® und von GRAZAX® soll in weiteren gesundheitsökonomischen Studien, insbesondere mit zuverlässigen langfristigen Follow-up-Daten, bestätigt werden. Ferner sollte die Kosten-Wirksamkeit der noch nicht untersuchten SIT-Präparate zu SIT bestimmt werden. Da die SIT mit nennenswerten Nebenwirkungen verbunden sein kann, ist eine informierte Einwilligung des Patienten wichtig und soll entsprechend dokumentiert werden. Zugelassenen Fertigarzneimitteln ist wegen der besseren Überprüfung der Qualität, Wirksamkeit und Verträglichkeit gegenüber Individualrezepturen der Vorzug zu geben, wenn es das Sensibilisierungsspektrum des Patienten zulässt.