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67. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (GMDS), 13. Jahreskongress der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e. V. (TMF)

21.08. - 25.08.2022, online

Arzneimitteltherapiesicherheit: Was darf eine präemptive Testung kosten?

Meeting Abstract

  • Roland Linder - Techniker Krankenkasse, Hamburg, Germany
  • Michael Steffens - Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, Bonn, Germany
  • Daria Langner - Techniker Krankenkasse, Hamburg, Germany
  • Tatjana Huebner - Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, Bonn, Germany
  • Julia Stingl - RWTH Aachen, Aachen, Germany
  • Britta Haenisch - Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, Bonn, Germany

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie. 67. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (GMDS), 13. Jahreskongress der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e.V. (TMF). sine loco [digital], 21.-25.08.2022. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2022. DocAbstr. 84

doi: 10.3205/22gmds126, urn:nbn:de:0183-22gmds1262

Published: August 19, 2022

© 2022 Linder et al.
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Text

Einleitung: Aufgrund unserer unterschiedlichen genetischen Ausstattung verstoffwechseln wir Menschen Arzneimittel unterschiedlich schnell. Werden Arzneimittel individuell besonders langsam oder besonders schnell abgebaut, kann der tatsächliche Wirkspiegel im Blut deutlich von dem geplanten abweichen und es kann zu schweren unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAWs) kommen. Die Folge können gesundheitliche Beeinträchtigungen und hohe Gesundheitskosten sein. Im vom G-BA geförderten Innovationsfondsprojekt EMPAR (Einfluss metabolischer Profile auf die Arzneimittelsicherheit in der Routineversorgung) werden vor allem thromboembolische und hämorrhagische UAWs nach Antikoagulanziengabe sowie Myopathien nach Statingabe untersucht. Während die Niederlande schon seit Jahren vor Beginn einer Therapie mit bestimmten Arzneimitteln erfolgreich das pharmakogenetische Profil von Patienten bestimmen, wird in Deutschland eine präemptive Testung bislang nicht von den Krankenkassen finanziert. Das Problem besteht darin, dass den behandelnden Ärzt:innen die Information über die genetisch bedingten Verstoffwechslungsgeschwindigkeiten ihrer Patient:innen fehlt. Unsere Studie ging erstmals in Deutschland der Frage nach, wie hoch der Preis für präemptives Testen unter dem Primat der Kostenneutralität sein dürfte.

Methodik: Erstmalig wurden in Deutschland Diagnosen und Arzneimittelverordnungen aus GKV-Routinedaten (Phänotyp) mit Informationen aus dem Genom von mehr als 10.000 Versicherten (Genotyp) zusammen ausgewertet. Hierbei wurde ein Datenschutzkonzept mit hohen Sicherheitsstandards umgesetzt, das durch das Bundesamt für soziale Sicherung (BAS) sowie die Ethikkommission an der Medizinischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn geprüft und bewilligt wurde. Anhand des iPLEX® PGx 74 Panels von Agena Bioscience wurden überwiegend Pharmakogene mit höchster klinischer Evidenz, dass genetische Polymorphismen zu einer hohen Variabilität in der Arzneimittelexposition und damit zu UAWs führen können, analysiert [1]. Insbesondere für Blutgerinnungshemmer wurden potenzielle UAWs sowie die Gesamttherapiekosten über alle Leistungsbereiche untersucht und ein Deep Learning Ansatz (iRprop+ von [2]) für eine Kostenvorhersage trainiert. Über eine Simulation mit virtuell verändertem Erbgut konnte auf die durchschnittlichen Mehrausgaben bei abweichendem pharmakogenetischen Profil geschlossen werden. Darüber wurden im Rahmen eines Business Modells Preisbetrachtungen für präemptives Testen angestellt.

Ergebnisse: Die Studienstichprobe erwies sich bzgl. der untersuchten Gene in der europäischen Bevölkerung als repräsentativ. Vermehrt UAWs wurden im Zusammenhang mit den drei Genen CYP2C19, CYP2C9 und CYP3A5 beobachtet. Über die Deep Learning Simulation wurde berechnet, dass bei einer 50%-igen Einsparung von Behandlungskosten eine präemptive Testung auf diese drei Gene unter Wirtschaftlichkeitsaspekten knapp 42 € kosten darf.

Diskussion: Mit einem ausgefeilten Datenschutzkonzept konnte gezeigt werden, dass auch die Zusammenführung und Analyse sensibler Gesundheitsdaten verantwortungsvoll und DSGVO–konform möglich ist. Die Teilnahmebereitschaft war unerwartet hoch, die pharmakogenetischen und -epidemiologischen Ergebnisse entsprachen weitgehend der Erwartungshaltung. Methodisch anspruchsvoll ist die Simulation auf Basis eines Deep Learning Ansatzes. Erstmals in Deutschland existiert mit der vorliegenden Untersuchung eine Preisvorstellung für die kostenneutrale Einführung einer präemptiven Testung.

Schlussfolgerung: Da ein präemptives Testen auch eine Durchführung, Analytik und Nachbesprechung erfordert, wird eine annähernd kostenneutrale Einführung nicht ohne die Unterstützung der Ärzteschaft möglich sein. Andererseits ist absehbar, dass die Preise für Gensequenzierung weiter fallen werden und ein für nur wenige Gene maßgeschneidertes minimales Testkit preiswerter sein wird als heutige Standard-Testkits. Da sich präemptives Testen aus guten Gründen international zunehmend durchsetzt [3], [4], [5], möchte die vorliegende Studie eine entsprechende Diskussion anstoßen und zugleich die Bereitschaft wecken, diese vielversprechende Technologie auch in Deutschland zu nutzen.

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Die Autoren geben an, dass ein positives Ethikvotum vorliegt.


Literatur

1.
Fracowiak J, Huebner T, Heß S, Roethlein C, Langner D, Schneider U, Falkenberg F, Scholl C, Linder R, Stingl J, Haenisch B, Steffens M. Evaluation oft he EMPAR study population on the basis of metabolic phenotypes of selected pharmacogenes. Pharmacogenomics J. 2022;22:136-144.
2.
Igel C, Hüsken M. Empirical Evaluation of the Improved Rprop Learning Algorithms. Neurocomoputing. 2003;50(C):105-123.
3.
Alshabeeb MA, Deneer VHM, Khan A, Asselbergs FW. Use of Pharmacogenetic Drugs by the Dutch Population. Frontiers in Genetics. 2019;10:567.
4.
Bank PCD, Swen JJ, Guchelaar HJ. Estimated nationwide impact of implementing a preemptive pharmacogenetic panel approach to guide drug prescribing in primary care in The Netherlands. BMC Med. 2019;17(1): 110.
5.
Zhu Y, Moriarty JP, Swanson KM, Takahashi PY, Bielinski SJ, Weinshilboum R, Wang L, Borah BJ. A model-based cost-effectiveness analysis of pharmacogenomic panel testing in cardiovascular disease management: preemptive, reactive, or none? Genet Med. 2021;23(3):461-470.