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Notfallrettungseinsätze mit Patient*innen mit psychiatrischer oder psychosozialer Symptomatik: Eine Beobachtungsstudie aus Ostniedersachsen
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Published: | September 10, 2024 |
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Hintergrund: Notfallrettungseinsätze (NFR) mit Menschen in psychiatrischen oder psychosozialen Krisen gestalten sich für Rettungsfachpersonal und Notärzt*innen häufig als herausfordernd. Dies ist unabhängig davon, ob die psychiatrische Symptomatik Anlass für den NFR oder eine Begleiterscheinung ist.
Angesichts der aktuellen Diskussionen um die Neuordnung der Notfallversorgung in Deutschland und den Ausbau von psychiatrischen Krisendiensten untersucht die vorliegende Studie die Prävalenz und Charakteristika von psychiatrischen NFR.
Zielsetzung: Charakterisierung von NFR mit Menschen in psychiatrischen oder psychosozialen Krisen und Identifizierung von möglichen Unterschieden zu NFR mit Menschen ohne eine solche Symptomatik und longitudinal.
Methode: Analyse aller Einsatzprotokolle von NFR mit Patient*innen zwischen 12 und 65 Jahren hinsichtlich Patient*innenalter und -geschlecht, Erkrankungs- und Fallcharakteristika wie notärztliche Beteiligung, Einsatzzeiten, Tageszeit, Wochentag und Monat aus vier Rettungswachen in Ostniedersachsen (2019–2020).
Verglichen wurden die psychiatrischen NFR mit NFR ohne psychiatrische Symptome sowie die Subgruppen ‚psychotische Symptomatik‘, ‚Suizidalität‘, ‚Intoxikation‘ und ‚psychosoziale Krise‘. Da der beobachtete Zeitraum die Anfänge der COVID-19-Pandemie umfasste, wurden zudem Einsatzhäufigkeiten zwischen verschiedenen Zeiträumen (vor der Pandemie, 1. Lockdown, Lockerungsphase, 2. Lockdown) betrachtet.
Ergebnisse: Von den 25.643 während des Untersuchungszeitraums durchgeführten NFR erfüllten 9.205 Einsätze die Einschlusskriterien. Bei 23,4% dieser NFR zeigten Patient*innen eine psychiatrische oder psychosoziale Symptomatik (1,6% psychotische Symptomatik, 3,0% Suizidalität, 15,7% Intoxikation, 7,1% psychosoziale Krise). Diese Patient*innen waren im Mittel jünger als Patient*innen mit anderen Indikationen. Der Anteil Männer war bei Intoxikationen deutlich höher. Psychosoziale Krisen betrafen überwiegend Frauen und waren mit einer längeren Verweildauer der Rettungskräfte am Einsatzort verbunden. Bei 48,9% der Patient*innen lagen zusätzlich somatische Symptome vor. Die Lockdowns der COVID-19-Pandemie hatte nur einen begrenzten Einfluss auf die Gesamtzahl psychiatrischer NFR; im Pandemiezeitraum nahmen allerdings NFR mit Intoxikation und psychotischer Symptomatik zu.
Implikation für Forschung und/oder (Versorgungs-)Praxis: NFR aufgrund psychiatrischer oder psychosozialer Krisen machen einen bedeutenden Anteil der NFR aus. Daher sollte der Umgang mit ihnen ein integraler Bestandteil von Aus- und Weiterbildung des ärztlichen und nichtärztlichen Rettungsfachpersonals sein. Die Versorgung von Menschen in psychiatrischen und psychosozialen Krisensituationen sollte zudem grundlegender Bestandteil der Reform der Notfallversorgung sein. Zu diskutieren ist, inwieweit die Implementierung psychiatrischer oder psychosozialer Krisendienste die Häufigkeit von psychiatrischen NFR entlastend beeinflussen kann.
Förderung: Sonstige Förderung; Projektname: DICTUM-rescue; Fördernummer: 2818LD007 und 5SL1.4-48104MTV16/19 und ZAM 85037964