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Die gesundheitsbezogene Lebensqualität nach Polytrauma: Traumafolgen mit Chronifizierungspotenzial?
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Published: | October 23, 2023 |
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Fragestellung: Das Polytrauma (PT) ist die häufigste Ursache für Todesfälle und langfristige Behinderungen bei Kindern und jungen Erwachsenen. Mit verbesserter Überlebenswahrscheinlichkeit rücken die Auswirkungen des PT auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität (HRQoL), die mentale Gesundheit und die sozioökonomischen Folgen in den Fokus. Ziel dieser Studie ist die Erfassung der HRQoL nach PT und die Identifizierung von Einflussfaktoren.
Methodik: In einer retrospektiven Querschnittsstudie wurden im Rahmen der klinikeigenen PT-Sprechstunde einwilligungsfähige PT-Patienten untersucht. Mittels 4 Fragebögen wurden die HRQol (SF-36), depressive Störungen (PHQ-9), Angststörungen (GAD-7) sowie sozioökonomische und verletzungsspezifische Informationen (eigener traumaspezifischer Fragebogen) erhoben. Aus dem Krankenhausinformationssystem sowie dem internen Datensatz des TraumaRegister-DGU wurden die Behandlungsdaten, der ISS und die Verletzungsregionen ermittelt. Es folgten eine univariate Analyse sowie Signifikanzanalysen mittels t-Test und Wilcoxon-Mann-Whitney-Test.
Ergebnisse und Schlussfolgerung: Siebzig Patienten (ø-Alter 41,8 Jahre; 71,4% männlich; ø-ISS 24,2; ø-Untersuchungszeitpunkt nach 746,4 Tagen) konnten in die Studie eingeschlossen werden. Die HRQoL war im Vergleich zur Normalbevölkerung (NBEV) in allen 8 Dimensionen, der körperlichen Summenskala (KSK) und der psychischen Summenskala (PSK) des SF-36 signifikant (p<0,001; PSK:p=0,0049) reduziert. Die Auswertung des PHQ-9 und des GAD-7 zeigte für die Studienpopulation (SP) im Vergleich zur NBEV höhere Summenscores (PHQ-9: SP=6,75 NBEV=3,58; GAD-7: SP=5,11 NBEV=2,95), wobei bei n=25 eine milde depressive Symptomatik und bei n=14 sogar Hinweise für eine schwere depressive Störung vorlagen. Als signifikant negative Einflüsse auf die HRQoL konnten wir eine fehlende vollständige Rückkehr in den Beruf (KSK:p=0,014), Probleme bei Aktivitäten des täglichen Lebens (KSK:p<0,001; PSK:p<0,001), Schmerzen (KSK:p=0,004; PSK:p=0,001), insbesondere Schmerzen der unteren Extremität (KSK:p=0,004; PSK:p=0,001) und der Wirbelsäule (KSK:p=0,044), Verluste der Arbeitsstelle (PSK:p=0,014), der Partnerschaft (PSK:p=0,011) und Freundschaften (PSK:p=0,022), finanzielle Verluste (PSK:p=0,026) sowie Antriebslosigkeit, Müdigkeit, Erschöpfung (PSK:p<0,001) feststellen.
Die HRQoL ist auch langfristig vermindert, wobei die signifikant negativen Einflussfaktoren nicht nur verletzungsbezogen, sondern auch psychisch und sozioökonomisch begründet sind. Das PT darf nicht als komplexeres Verletzungsbild simplifiziert werden. Aufgrund der Ähnlichkeit zu typischen Langzeitfolgen bekannter chronischer Erkrankungen sollte das PT als eigenständige Erkrankung mit Chronifizierungspotenzial betrachtet werden. Um dies abzuwenden, bedarf es individualisierter und interdisziplinärer Therapiekonzepte mit dem Ziel der umfassenden sozioökonomischen Rehabilitation und Reintegration.