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Phoniatrisch-pädaudiologische Aspekte 2020

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

26.09.2020, digital

Hörstörungen bei alpha-Mannosidose im Langzeitverlauf

Meeting Abstract

  • corresponding author presenting/speaker Anne Katrin Läßig - Schwerpunkt Kommunikationsstörungen der HNO-Klinik, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Sabine Nospes - MDK Hessen, Ober-Ursel, Deutschland
  • author Andrea Bohnert - Schwerpunkt Kommunikationsstörungen, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Julia B. Hennermann - Zentrum für für Kinder- und Jugendmedizin, Sektion Pädiatrische Stoffwechselerkrankungen (Villa Metabolica), Universitätsmedizin Mainz der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland

Phoniatrisch-pädaudiologische Aspekte 2020. sine loco [digital], 26.-26.09.2020. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2020. Doc22

doi: 10.3205/20dgpp22, urn:nbn:de:0183-20dgpp227

Published: November 2, 2020

© 2020 Läßig et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Eine frühe Diagnostik und Behandlung der autosomal-rezessiven lysosomalen Speicherkrankheit alpha-Mannosidose (Prävalenz: 1: 1.000.000, Mutationen im Gen MAN2B1 auf Chromosom 19) ist für den chronisch-progredienten Krankheitsverlauf maßgeblich. Eine Enzymersatztherapie (ERT) mit Velmanase alfa ist möglich.

Material und Methoden: Im Rahmen einer prospektiven Krankheitsverlaufsstudie wurden 25 Patienten mit alpha-Mannosidose (1–42 Jahre; 9 weiblich – 16 männlich) im Zeitraum von 2007–2009 u.a. audiologisch untersucht und ausgewertet. Nach 10 Jahren konnten nun aus dieser Studie noch 7 Patienten (3 Frauen, 4 Männer im Alter von 24 bis 39 Jahren) nachuntersucht und der Langzeitverlauf der Hörstörung dokumentiert werden. 6 neue Patienten (4–41 Jahre) unter Enzymersatztherapie konnten hinzugewonnen werden.

Ergebnisse: 6 der 7 Patienten der 10-Jahres-Follow-Up-Gruppe trugen weiterhin Hörgeräte. Ein Ohr wies eine leichte Verbesserung, 5 Ohren ein stabiles Hörvermögen auf. 8 Ohren waren um 5% bis max. 17% progredient (nach Röser 1973). Bei 10 Ohren könnte – mit einem Hörverlust von über 90 % – eine CI-Versorgung in Frage kommen.

Unter den neuen Patienten waren 3 Mädchen unter 6 Jahre, von denen zwei bisher nicht mit Hörgeräten versorgt waren. Eines wies lediglich temporäre Schallleitungsschwerhörigkeiten auf, die nur durch T-Tube-Einlagen behandelt werden mussten. Ein 10-jähriger Junge hatte eine mittel- bis hochgradige und hochgradige Schallempfindungsschwerhörigkeit, die mit Hörgeräten bds. sehr gut versorgt war. Eine 41-Jährige blieb im Verlauf der letzten 4 Jahre unter ERT stabil bei einer hochgradig bis an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit bds., erhielt eine CI-Diagnostik im Alter von 37 Jahren, blieb jedoch Hörgeräte-versorgt. Eine 25-Jährige war bei einer hochgradig bis an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit bds. ausreichend mit Hörgeräten versorgt

Diskussion: Aufgrund des komplexen Krankheitsbildes mit mentaler Retardierung, Sehstörungen, Hepato-/Splenomegalie, Hüftdysplasie, Ataxie, Dysarthrie und meist einer Vielzahl operativer Eingriffe, rezid. entzündlichen Erkrankungen wie Otitiden, Zahnabszessen besteht kaum eine Bereitschaft für eine Versorgung mit einem Cochlea-Implantat und der anschließenden Rehabilitation. Dennoch sollte eine adäquate Hörgeräteversorgung sichergestellt werden. Bei noch jungen Patienten mit progredientem Verlauf der Hörstörung, aber nur leichter neurologischer Symptomatik unter ERT, sollte eine CI-Versorgung bei unzureichendem Gewinn mit einem Hörgerät angestrebt werden.


Text

Hintergrund

Eine frühe Diagnostik und Behandlung der sehr seltenen autosomal-rezessiv vererbten lysosomalen Speicherkrankheit alpha-Mannosidose (Prävalenz: 1: 500.000–1.000.000, Mutationen in dem Gen MAN2B1 auf Chromosom 19) ist für den chronisch-progredienten Krankheitsverlauf maßgeblich. Da die typischen Erstsymptome wie rezidivierende Atemwegs- und Ohrinfektionen mit Hörstörungen, einer allgemeinen Entwicklungsverzögerung und vergröberten Gesichtszügen sehr unspezifisch sind, wird der Zeitpunkt der Diagnose häufig spät gestellt. Es werden verschiedene Manifestationsformen beschrieben:

  • Typ 1: milde Form mit juvenilem Onset (10. Lebensjahr), sehr langsamem Verlauf, ohne Skelettbeteiligung
  • Typ 2: (häufigste) moderate Form mit juvenilem Onset vor dem 10. Lebensjahr, langsamer Verlauf mit Skelettbeteiligung und Entwicklung einer Ataxie im Alter von 20 bis 30 Jahren
  • Typ 3: schwere infantile Form mit sofortigem Beginn und schwerer Beteiligung des zentralen Nervensystems, des Skelettes und frühem Tod [1], [2].

Eine Diagnosestellung ist nicht möglich aufgrund des klinischen Aspektes mit Immunschwäche, frühzeitig kombinierten Hörstörungen, Strabismus und Hyperopie, typischen Skelettdeformitäten (Dysostosis multiplex) u.a. mit Wirbelkörperveränderungen und Hüftgelenksdysplasie sowie einer kognitiven Beteiligung mit sehr milder bis zu einer schweren mentalen und motorischen Entwicklungsverzögerung mit Ungeschicklichkeit und Ataxie. Viele Symptome überlappen sich mit den Mukopolysaccharidosen und den Mukolipidosen. Zur Diagnosestellung kann die erhöhte Ausscheidung von Oligosacchariden im Urin, ein Trockenbluttest oder die Enzymaktivitätsmessung in Leukozyten oder Fibroblasten bzw. die genetische Analyse – auch in der Pränataldiagnostik – genutzt werden. Eine Enzymersatztherapie (ERT) mit dem gentechnisch hergestellten Enzym Velmanase alfa, welches einmal wöchentlich als Infusion über mehrere Stunden intravenös gegeben wird, kann die Krankheit verlangsamen oder stoppen, jedoch nicht heilen.

Methoden

Im Rahmen einer prospektiven Krankheitsverlaufstudie wurden 25 Patienten [3] mit alpha-Mannosidose (1–42 Jahre; 9 weiblich – 16 männlich) im Zeitraum von 2007–2009 u.a. audiologisch untersucht und ausgewertet. Nach 10 Jahren konnten nun aus dieser Studie noch 7 Patienten (3 Frauen, 4 Männer im Alter von 24 bis 39 Jahren) nachuntersucht und der Langzeitverlauf der Hörstörung dokumentiert werden. 6 neue Patienten unter Enzymersatztherapie konnten hinzugewonnen werden.

Ergebnisse

6 der 7 Patienten der Follow-up-Gruppe trugen weiterhin Hörgeräte. Ein Ohr wies eine Verbesserung, 5 Ohren ein stabiles Hörvermögen auf. 8 Ohren waren um 5% bis max. 17% progredient (nach Röser 1973), so dass teilweise eine Hörgeräteversorgung im Verlauf nicht mehr möglich war bzw. aufgrund des fehlenden Gewinns nicht mehr akzeptiert wurde. Bei 10 von 26 Ohren (38,5%) könnte mit einem Hörverlust von über 90% eine CI-Versorgung in Frage kommen.

Abbildung 1 [Abb. 1], Abbildung 2 [Abb. 2]

Unter den neu dazugewonnenen Patienten waren 3 Mädchen unter 6 Jahre, von denen zwei bisher nicht mit Hörgeräten versorgt waren. Ein 5,3-jähriges Mädchen wies lediglich temporäre Schallleitungsschwerhörigkeiten auf, die durch T-Tube-Einlagen behandelt werden konnten und nicht mit Hörgeräten versorgt werden mussten. Sie zeigte jedoch eine deutliche Sprachentwicklungsstörung und psychomotorische Entwicklungsverzögerung, welche die pädaudiologische Diagnostik sehr erschwerte und mehrfache BERA-Messversuche notwendig machte, um das Hörvermögen sicher einschätzen zu können. Ein Mädchen konnte im Alter von 2,06 Jahren als mittel- bis hochgradig schwerhörig identifiziert und mit Hörgeräten bds. nach Adenotomie und Paracentese sowie BERA im OP versorgt werden. Es erhielt im Alter von 3,09 Jahren erstmals Paukendrainagen bds., jedoch bestanden daraufhin über 6 Monate rezidivierende Otorrhoen, so dass die Hörgeräte nicht getragen werden konnten und eine Antibiose notwendig wurde. Ein Mädchen wurde im Alter von 4,07 Jahren erstmals als mittelgradig schwerhörig diagnostiziert und mit Hörgeräten bds. versorgt. Es hatte bis dahin keine Mittelohrentzündungen oder Paukendrainagen-Einlagen erhalten.

Ein 10-jähriger Junge hatte eine mittel- bis hochgradige und hochgradige Schallempfindungsschwerhörigkeit, die mit Hörgeräten bds. sehr gut versorgt war. Eine 41-Jährige blieb im Verlauf der letzten 4 Jahre unter ERT stabil bei einer hochgradig bis an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit bds., erhielt eine CI-Diagnostik im Alter von 37 Jahren, blieb jedoch Hörgeräte-versorgt.

Schlussfolgerungen

Der frühzeitige Antibiotikaeinsatz bei bakteriellen Infektionen, die großzügige Indikation zur Paracentese mit Paukendrainagen-Einsatz und meist T-Tube-Einlage sowie die frühzeitige Hörgeräteversorgung können die Sprachentwicklung und sozio-emotionale Entwicklung verbessern, ebenso eine Brillenversorgung sowie ggf. Linsenersatz bei Katarakt und Hornhauttransplantation. Physiotherapie einschließlich Hydrotherapie zur Vermeidung von Gelenkbelastungen, die Behandlung von Osteoporose oder Osteopenie, orthopädischer Eingriff sowie meist Rollstuhlversorgung und ggf. ein ventrikulokavaler Shunt bei Hydrozephalus sind meist notwendig.

Aufgrund des komplexen Krankheitsbildes mit meist mentaler Retardierung, Sehstörungen u.a. mit Netzhautdystrophie, Hepato-/Splenomegalie, Hüftdysplasie, Ataxie, Dysarthrie mit meist einer Vielzahl operativer Eingriffe v.a. orthopädisch (Hüft-TEP, Aufrichtungs-OP), rezid. entzündlichen Erkrankungen wie Otitiden, Cholestolithiasis, Zahnabszessen besteht kaum eine Bereitschaft für eine Versorgung mit einem Cochlea-Implantat und der anschließenden Rehabilitation der Patienten. Dennoch sollte eine adäquate Hörgeräteversorgung sichergestellt werden.

Fazit

Im Kindesalter treten meist kombinierte Schwerhörigkeiten auf, die im weiteren Verlauf bei liegenden Paukendrainagen und meist rezidivierenden Ohrinfektionen mit Otorrhoen progredient verlaufen und möglichst früh umfangreich pädaudiologisch abgeklärt, lokal behandelt und sofern indiziert, mit Hörgeräten versorgt werden sollten. Insbesondere bei noch jungen Patienten mit progredientem Verlauf der Hörstörung, aber nur leichter neurologischer Symptomatik unter ERT sollte eine CI-Versorgung bei unzureichendem Gewinn mit einem Hörgerät angestrebt werden.


Literatur

1.
Malm D, Nilssen Ø. Alpha-Mannosidosis. In: Adam MP, Ardinger HH, Pagon RA, Wallace SE, Bean LJH, Stephens K, Amemiya A, editors. GeneReviews® [Internet]. Seattle (WA): University of Washington; 2001 Oct 11. [updated 2019 Jul 18].
2.
Ceccarini MR, Codini M, Conte C, Patria F, Cataldi S, Bertelli M, Albi E, Beccari T. Alpha-Mannosidosis: Therapeutic Strategies. Int J Mol Sci. 2018 May 17;19(5):1500.
3.
Nospes S, Hartung R, Beck M, Keilmann A. Hörstörungen bei Alpha-Mannosidose-Patienten. In: Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 25. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Düsseldorf, 12.-14.09.2008. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2008. Doc08dgppP0525.