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Phoniatrisch-pädaudiologische Aspekte 2020

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

26.09.2020, digital

Soziale Teilhabe von Senior*innen nach mehrjähriger Hörerfahrung mit Cochlea-Implantaten

Meeting Abstract

  • corresponding author presenting/speaker Karen Reichmuth - Klinik für Phoniatrie & Pädaudiologie, Universitätsklinikum, Münster, Deutschland
  • Reinhild Hofmann - Westfälische Wilhelms-Universität, Internationales Centrum für Begabungsforschung (ICBF), Münster, Deutschland
  • Stephanie Brinkheetker - Klinik für Phoniatrie & Pädaudiologie, Universitätsklinikum, Münster, Deutschland
  • Antoinette am Zehnhoff-Dinnesen - Klinik für Phoniatrie & Pädaudiologie, Universitätsklinikum, Münster, Deutschland
  • author Katrin Neumann - Klinik für Phoniatrie & Pädaudiologie, Universitätsklinikum, Münster, Deutschland

Phoniatrisch-pädaudiologische Aspekte 2020. sine loco [digital], 26.-26.09.2020. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2020. Doc20

doi: 10.3205/20dgpp20, urn:nbn:de:0183-20dgpp203

Published: November 2, 2020

© 2020 Reichmuth et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Hörschädigungen stellen bei Senior*innen ein besonderes Risiko für soziale Teilhabe dar, das durch Cochlea-Implantat(CI)-Versorgung reduziert werden kann. Die soziale Teilhabe von Senior*innen mit langjähriger CI-Erfahrung wurde bisher kaum erforscht. Die vorliegende Studie untersucht drei Fragestellungen: (1) Wie zufrieden sind Senior*innen mit langjähriger CI-Erfahrung bezüglich ihrer sozialen Teilhabe? (2) Wie hoch ist ihre krankheitsspezifische Lebensqualität? (3) In welchen Bereichen der sozialen Teilhabe wünschen sie sich Verbesserung?

Material und Methoden: In einer bundesweiten Fragebogen-gestützten Studie bewerteten 71 postlingual ertaubte Senior*innen (mittleres Alter 72,3 Jahre, SD 7,6, 54% weiblich) mit mehreren Jahren CI-Erfahrung (mittlere Dauer 8,2 Jahre, SD 6,5) anhand von durch das Studienteam entwickelten Fragebögen ihre soziale Teilhabe. Noch bestehende Bedürfnisse an Reha-Angeboten wurden erfragt, die krankheitsspezifische Lebensqualität wurde mit dem Fragebogen „Hearing Handicap Inventory for the Elderly“ erhoben.

Ergebnisse: Ein Viertel bis ein Fünftel der Senior*innen wünschten sich mehr Freizeitaktivitäten und soziale Kontakte. Mehr Unabhängigkeit in Gesprächen in Gruppen wünschten sich 71% der Senior*innen, in Gesprächen mit Fremden und Behörden 47%, am Telefon mit Vertrauten 44% und mit Fremden 77%. Die Korrelation zwischen Häufigkeit genannter Freizeitaktivitäten (r=0,25, p=0,04) und sozialer Kontakte (r=0,26, p=0,02) und der Zufriedenheit damit war gering, zwischen berichteter Unabhängigkeit vom Gesprächspartner (r=0,67, p<0,001) und Telefonkompetenz (r=0,69, p<0,001) und der Zufriedenheit damit war hoch. Das Handicap durch die Hörstörung wurde im Mittel als moderat (emotional) bis deutlich (sozial) erhöht bewertet. 70% äußerten Interesse an Kommunikationstraining.

Diskussion: Die Ergebnisse unterstreichen, dass hörstörungsbedingte Einschränkungen in Kommunikation, sozialer Teilhabe und Lebensqualität persistieren, auch nach vielen Jahren mit CI. Bessere Telefonkompetenz und geringere Abhängigkeit in Gesprächen sind mit höherer Zufriedenheit verbunden. Eine individuelle Zielsetzung in der Nachsorge von Senior*innen ist wichtig, da die geprüften Maße der sozialen Teilhabe und die diesbezügliche subjektive Zufriedenheit nicht zwingend hoch miteinander korrelieren.

Fazit: Die Ergebnisse unterstreichen die Relevanz von psycho-sozialer und kommunikationsbezogener Unterstützung in der CI-Rehabilitation von Senior*innen.


Text

Hintergrund

Hörstörungen, die im Laufe des Lebens auftreten, stellen allgemein ein Risiko für psychische und mentale Gesundheitsprobleme sowie reduzierte soziale Teilhabe dar, das sich im Alter erhöht [1], [2]. Eine Cochlea-Implantat-(CI)-Versorgung wird daher zunehmend auch bei Senior*innen mit hochgradiger Hörschädigung empfohlen, um neben der Verbesserung des Hörvermögens auch dem o.g. Risiko vorzubeugen. In der postoperativen Rehabilitation dieser Patientengruppe werden aus Expertensicht allerdings die notwendigen Therapiebereiche zur Stärkung kommunikativer Kompetenzen und zur Verbesserung der sozialen Teilhabe noch zu wenig und zu wenig spezifisch berücksichtigt [3], [4]. So sollte unter anderem beachtet werden, dass sich soziale Kontakte und Freizeitaktivitäten sowie das Bedürfnis danach im Alter nicht nur verändern, sondern auch individuell sehr unterschiedlich sind [5]. Dijkers et al. [6] zeigen, dass zum Beispiel die objektive Anzahl von Aktivitäten nur mäßig mit der individuellen Zufriedenheit damit bei Senior*innen korreliert. Wie sich die soziale Teilhabe von Patienten mit langjähriger CI-Erfahrung entwickelt, wurde bisher noch wenig erforscht.

Die vorliegende Studie untersucht drei Fragestellungen: (1) Wie zufrieden sind Senior*innen mit langjähriger CI-Erfahrung bezüglich ihrer sozialen Teilhabe? (2) Wie hoch ist ihre krankheitsspezifische Lebensqualität? (3) In welchen Bereichen der sozialen Teilhabe wünschen sie sich Verbesserung?

Material und Methoden

In einer bundesweiten Fragbogen-gestützten Studie bewerteten 71 postlingual ertaubte Senior*innen (mittleres Alter 72;3 Jahre, SD 7,6, 54% weiblich) mit mehreren Jahren CI-Erfahrung (mittlere Dauer 8;2 Jahre, SD 6,5) anhand von durch das Studienteam entwickelten Fragebögen ihre soziale Teilhabe. Noch bestehende Bedürfnisse an Reha-Angeboten wurden erfragt, die krankheitsspezifische Lebensqualität wurde mit dem Fragebogen Hearing Handicap Inventory for the Elderly [7] erhoben.

Ergebnisse

Ein Fünftel der Senior*innen wünschte sich mehr soziale Kontakte und ein Viertel mehr Freizeitaktivitäten. Mehr Unabhängigkeit von Gesprächspartnern in Gesprächen in Gruppen wünschten sich 71%, in Gesprächen mit Fremden und Behörden 47%, am Telefon mit Vertrauten 44% und mit Fremden 77% der Senior*innen. Die Korrelation zwischen Häufigkeit genannter Freizeitaktivitäten (r=0,25, p=0,04) und sozialer Kontakte (r=0,26, p=0,02) und jeweiliger Zufriedenheit damit war gering; demgegenüber war sie hoch zwischen berichteter Unabhängigkeit vom Gesprächspartner (r=0,67, p<0,001) und Telefonkompetenz (r=0,69, p<0,001) und jeweiliger Zufriedenheit damit. Das emotionale Handicap durch die Hörstörung wurde im Mittel als moderat, das soziale Handicap als deutlich erhöht bewertet. 70% der Befragten äußerten Interesse an einem Kommunikationstraining.

Diskussion

Die Ergebnisse unterstreichen, dass auch nach langjähriger Erfahrung mit CI bei Senior*innen Einschränkungen in Kommunikation, sozialer Teilhabe und Lebensqualität existent sind. Das Bedürfnis nach sozialen Kontakten und Freizeitaktivitäten und die Zufriedenheit damit sind bei Senior*innen mit langjähriger CI-Erfahrung individuell sehr unterschiedlich. Das Bedürfnis nach mehr Unabhängigkeit von Hilfe in Gesprächssituationen (insbesondere in Gruppen, aber auch mit Fremden und Behörden) und besserer Telefonkompetenz (vor allem mit Fremden) ist bei vielen Senior*innen vorhanden. Senior*innen, die diese herausfordernden Situationen der sozialen Teilhabe häufiger meistern, sind zufriedener. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie unterstreichen, dass eine individuelle Zielsetzung in der Nachsorge von Senior*innen mit CI wichtig ist, da nicht alle Maße sozialer Teilhabe mit individueller Zufriedenheit korrelieren.

Gemäß der International classification of functioning, disability and health (ICF) [8] sollten daher die Ziele der Rehabilitation bei Senior*innen individuell erfragt und die Inhalte auf die Bedürfnisse eines jeden Patienten angepasst werden, mit dem Ziel der Verbesserung der Lebensqualität und sozialen Teilhabe, auch bei Senior*innen mit langjähriger CI-Erfahrung. Das Bedürfnis und die Bereitschaft der Senior*innen, im Rahmen von spezifischen Reha-Angeboten kommunikationsbezogene Fähigkeiten auch nach langjähriger CI-Erfahrung noch zu trainieren, sind hoch.

Fazit/Schlussfolgerung

Die Ergebnisse der vorliegenden Studie unterstreichen nicht nur die Relevanz von psycho-sozialen und kommunikationsbezogenen Zielsetzungen in der CI-Rehabilitation von Senior*innen, sondern auch die Notwendigkeit diesbezüglicher Reha-Angebote bei (langjährig) erfahrenen CI-Träger*innen.


Literatur

1.
Olze H, Gräbel S, Förster U, Zirke N, Huhnd LE, Haupt H, Mazurek B. Elderly patients benefit from cochlear implantation regarding auditory rehabilitation, quality of life, tinnitus, and stress. Laryngoscope. 2012;122(1):196-203. DOI: 10.1002/lary.22356 External link
2.
Wahl HW, Drapaniotis PM, Heyl V. Functional ability loss in sensory impaired and sensory unimpaired very old adults: analyzing causal relations with positive affect across four years. Exp Gerontol. 2014 Nov;59:65-73. DOI: 10.1016/j.exger.2014.06.008 External link
3.
Clark JH, Yeagle J, Arbaje AI, Lin FR, Niparko JK, Francis HW. Cochlear implant rehabilitation in older adults: Literature review and proposal of a conceptual framework. Journal of the American Geriatrics Society. 2012;60(10):1936-45.
4.
Convery E, Meyer C, Keidser G, Hickson L. Assessing hearing-loss self-management in older adults. International Journal of Audiology. 2018;57:313-20.
5.
Levasseur M, Desrosiers J, St-Cyr Tribble D. Do quality of life, participation and environment of older adults differ according to level of activity? Health Qual Life Outcomes. 2008;6:30.
6.
Dijkers M, Cicerone K, Heinemann A, Brown M, Whiteneck G. PART-S: a new measure of satisfaction with participation. Arch Phys Med Rehabil. 2009;90:e39.
7.
Ventry IM, Weinstein BE. The Hearing Handicap Inventory for the Elderly (HHIE): a new tool. Ear Hear. 1982 May-Jun;3(3):128-34.
8.
World Health Organization. International classification of functioning, disability and health: ICF. Geneva: World Health Organization; 2001.