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Phoniatrisch-pädaudiologische Aspekte 2020

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

26.09.2020, digital

Bedeutung der humangenetischen Hördiagnostik bei geringgradigen kindlichen Schwerhörigkeiten am Beispiel des Schwerhörigkeit-Infertilitäts-Syndroms

Meeting Abstract

  • author presenting/speaker Berit Hackenberg - Abteilung für Kommunikationsstörungen, Klinik für HNO-Heilkunde, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland
  • Evgenia Martin - Abteilung für Kommunikationsstörungen, Klinik für HNO-Heilkunde, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland
  • Oliver Bartsch - Insitut für Humangenetik, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland
  • corresponding author Anne K. Läßig - Abteilung für Kommunikationsstörungen, Klinik für HNO-Heilkunde, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland

Phoniatrisch-pädaudiologische Aspekte 2020. sine loco [digital], 26.-26.09.2020. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2020. Doc18

doi: 10.3205/20dgpp18, urn:nbn:de:0183-20dgpp188

Published: November 2, 2020

© 2020 Hackenberg et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Mindestens 54% der kongenitalen Schallempfindungsschwerhörigkeiten sind genetisch bedingt. Die Bedeutung der humangenetischen Hördiagnostik bei geringgradigen kindlichen Schwerhörigkeiten wird unterschätzt, so dass diese teilweise erst bei zusätzlich auftretenden Symptomen oder progredienten Verläufen im höheren Lebensalter veranlasst wird. Eine frühe Diagnostik bietet jedoch Aufschluss über die Ursache der Hörstörung und ggf. weitere Konsequenzen für die Patienten.

Fallbeispiel: Ein 1;3 Jahre alter Junge wurde nach einem auffälligen Neugeborenen-Hörscreening (TEOAE bds. auffällig, AABR bds. unauffällig) bei uns vorstellig. Schwangerschaft und Geburt verliefen unauffällig. Eine familiäre Hörstörung sei nicht bekannt. In der körperlichen Untersuchung ergaben sich keine Auffälligkeiten. Es erfolgte eine BERA in Sedierung, welche eine Hörschwelle von rechts 30–40 dB und links 35 dB ergab. Bei einer geringgradigen Schwerhörigkeit beidseits erfolgte die vergleichende Hörgeräteanpassung und nach Aufklärung der Eltern eine humangenetische Diagnostik. Hierbei konnte eine chromosomale Mikrodeletion 15q15.3 mit Verlust der Gene STRC (Stereocilin) und CATSPER2 als ursächlich identifiziert werden, wodurch sich die Diagnose eines Schwerhörigkeit-Infertilitäts-Syndroms (OMIM *611102) ergab. Im Verlauf zeigte sich eine gute Hörgeräteakzeptanz, so dass die Hörgeräte beidseits verordnet werden konnten.

Diskussion: Das Schwerhörigkeit-Infertilitäts-Syndrom (Deafness-Infertility Syndrome, DIS) wird durch eine biallelische Deletion der Gene STRC und CATSPER2 auf Chromosom 15 verursacht (autosomal-rezessive Vererbung). Betroffene Patienten haben eine beidseitige Schallempfindungsschwerhörigkeit und die Männer zusätzlich eine Infertilität durch eine Asthenoteratozoospermie.

Fazit: Seit der Erstbeschreibung (Zhang et al. 2007) wurden in der Literatur erst wenige Familien mit DIS beschrieben, so dass die Prävalenz dieser genetischen Erkrankung unbekannt bleibt (ORPHA:94064, geschätzte Prävalenz < 1: 1.000.000). Dennoch ist es für die behandelnden Pädaudiologen, die betroffenen Kinder und deren Familien von Bedeutung, auch seltene Ursachen einer frühkindlichen Hörstörung festzustellen. Unser Patient kann sich im Erwachsenenalter frühzeitig in einer Kinderwunschambulanz zu einer intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) beraten lassen und dies in seine Familienplanung miteinbeziehen. Weitere gesundheitliche Risiken bestehen bei DIS nicht.


Text

Hintergrund

Mindestens 54% der kongenitalen Schallempfindungsschwerhörigkeiten sind genetisch bedingt [1]. Die Bedeutung der humangenetischen Hördiagnostik bei geringgradigen kindlichen Schwerhörigkeiten wird jedoch unterschätzt, so dass diese teilweise erst bei zusätzlich auftretenden Symptomen oder progredienten Verläufen im höheren Lebensalter veranlasst wird. Eine frühe Diagnostik bietet jedoch Aufschluss über die Ursache der Hörstörung und deren Konsequenzen. So können begleitende Erkrankungen frühzeitig erkannt, behandelt oder kontrolliert werden. Auch für die Familienplanung der Eltern kann dies Konsequenzen haben. Betroffene und ihre Familien haben darüber hinaus die Möglichkeit, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen oder das Angebot einer Selbsthilfegruppe zu nutzen.

Fallbeispiel

Ein 1;03 Jahre alter Junge wurde nach einem auffälligen Neugeborenen-Hörscreening (TEOAE bds. auffällig, AABR bds. unauffällig) bei uns vorstellig. Die 1. Schwangerschaft der 1988 geborenen Mutter und spontane Geburt in der 41 SSW verliefen komplikationslos (Gewicht: 3470g, 52 cm, 36,5 cm, 9/10/10). Eine familiäre Hörstörung sei nicht bekannt. In der körperlichen Untersuchung ergaben sich keine Auffälligkeiten. Lediglich bestand der V.a. eine Schilddrüsenunterfunktion (TSH 7,11 (Norm bis 6,0), T4 1,41 (Norm 1–1,8)), so dass eine Verlaufskontrolle angeraten wurde. Die Freifeld-Reaktionen des Jungen lagen bei 40 bis 45 dB mit Lokalisationen und Reaktionen auf Kinderliedern bei 45 dB (Abbildung 1 [Abb. 1]).

Die Tympanogramme waren gipfelbildend, dennoch weder TEOAE noch DPOAE bds. nachweisbar. Es erfolgte eine BERA-Messung in Sedierung, welche akustisch evozierte Potentiale mittels Click-Reize bei bds. jeweils 35 dB und frequenzspezifisch mittels Toneburst bei 0,5/1/2/4 kHz rechts bei 30 (25?)/35/40 (35?)/35 dB und links bei 35/35 (30?)/35/35 dB ergab. Bei einer geringgradigen Schwerhörigkeit beidseits erfolgte die Hörgeräteanpassung. Hierbei zeigte sich eine gute Spontanakzeptanz der Hörgeräte.

Weiterhin erfolgte nach ausführlicher Aufklärung der Eltern eine humangenetische Diagnostik. Nach hochauflösender gesamtgenomischer Mikroarray-Analyse (affymetrix CytoScan HD, 2.600.000 verschiedene Marker) bestätigte sich eine homozygote chromosomale Mikrodeletion 15q15.3 mit Verlust von 144 kb u.a. der Gene STRC und CATSPER2 als ursächlich (Pathogenitätsstufe 5), wodurch sich die Diagnose eines Taubheits-Infertilitätssyndroms (OMIM*611102) ergab.

Der Patient stellte sich vier Monate nach ambulanter Erprobung der Hörgeräte wieder vor. In der Audiometrie zeigte er ohne Hörgeräte beidseits Freifeldreaktionen zwischen 45–55 dB. Mit den Hörgeräten beidseits zeigte er Freifeldreaktionen zwischen 30–35 dB. Es erfolgte die Erstverordnung der Hörgeräte. Seither ist er in halbjährlicher Kontrolle in unserer Klinik. Eine Hörverschlechterung wurde bisher nicht bemerkt. Zudem habe er gute sprachliche Fortschritte gemacht, spreche hingegen noch teilweise undeutlich. Der Junge selbst trägt die Hörgeräte gerne und hat im Alltag subjektiv einen guten Gewinn. Bisher zeigte sich in der pädaudiologischen Diagnostik keine Progredienz der Hörstörung.

Diskussion

Das Taubheits-Infertilitäts-Syndrom (Deafness-Infertility-Syndrom (DIS), ICD-10: Q93.5) ist eine autosomal-rezessive Erkrankung, welche durch eine Deletion 15q15.3 mit homozygotem Verlust der STRC und CATSPER2-Gene (OMIM 606440 + 607249) verursacht wird. Die Prävalenz liegt bei 1:100.000 und 1:1 Mio. mit mittelschweren bis schweren Innenohrschwerhörigkeiten, meist ohne Verschlechterung und bisher ohne Notwendigkeit eines Cochlea-Implantates. Das Gen STRC kodiert für Stereozilin, ein Protein, welches die Stereozilien der Haarzellen im Innenohr stabilisiert. Eine Mutation mit der Folge eines strukturveränderten Proteins kann somit zu einer Schwerhörigkeit führen. STRC-Mutationen machen somit bis zu 4% aller leicht- bis mittelgradigen, angeborenen Schwerhörigkeiten aus [2]. Das Gen CATSPER2 (cation channel sperm associated 2) kodiert für einen Calciumkanal, welcher sich auf den Flagellen von Spermien befindet und deren Beweglichkeit ermöglicht [3]. Aufgrund der benachbarten Lage auf dem langen Arm des Chromosom 15 können hier Deletionen der o.g. Gene gemeinsam auftreten und vererbt werden. Betroffene Patienten weisen somit eine beidseitige Schallempfindungsschwerhörigkeit auf und die Männer zusätzlich eine Infertilität durch eine Asthenoteratozoospermie.

Fazit

Bisher sind in der Literatur drei Patienten mit DIS in konsanguinen Familien und zwei Patienten mit DIS in nicht-verwandten Familien beschrieben [4], [5], [6], [7]. Dennoch ist es für die behandelnden Pädaudiologen, die betroffenen Kinder und deren Familien von Bedeutung, auch seltene Ursachen einer frühkindlichen Hörstörung, insbesondere bei geringgradiger Ausprägung, festzustellen. Unser Patient kann sich im Erwachsenenalter frühzeitig in einer Kinderwunschambulanz zu einer intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) beraten lassen und dies in seine Familienplanung miteinbeziehen.


Literatur

1.
Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. S2k-Leitlinie: Periphere Hörstörungen im Kindesalter 049/010. (Zugriff am 31.08.2020). Verfügbar unter: https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/049-010l_S2k_Periphere_Hörstörungen_im_Kindesalter_2013-09_abgelaufen.pdf External link
2.
Yokota Y, Moteki H, Nishio S, et al. Frequency and clinical features of hearing loss caused by STRC deletions. Sci Rep. 2019;9:4408. DOI: 10.1038/s41598-019-40586-7 External link
3.
Bhilawadikar R, Zaveri K, Mukadam L, et al. Levels of Tektin 2 and CatSper 2 in normozoospermic and oligoasthenozoospermic men and its association with motility, fertilization rate, embryo quality and pregnancy rate. J Assist Reprod Genet. 2013;30:513-23. DOI: 10.1007/s10815-013-9972-6 External link
4.
Zhang Y, Malekpour M, Al-Madani N, et al. Sensorineural deafness and male infertility: a contiguous gene deletion syndrome. BMJ Case Rep. 2009;2009:bcr08.2008.0645. DOI: 10.1136/bcr.08.2008.0645 External link
5.
Avidan N, Tamary H, Dgany O, Cattan D, Pariente A, Thulliez M, Borot N, Moati L, Barthelme A, Shalmon L, et al. CATSPER2, a human autosomal nonsyndromic male infertility gene. Eur J Hum Genet. 2003;11:497-502.
6.
Dgany O, Avidan N, Delaunay J, Krasnov T, Shalmon L, Shalev H, Eidelitz-Markus T, Kapelushnik J, Cattan D, Pariente A, et al. Congenital dyserythropoietic anemia type I is caused by mutations in codanin-1. Am J Hum Genet. 2002;71:1467-74.
7.
Knijnenburg J, Oberstein SA, Frei K, Lucas T, Gijsbers AC, Ruivenkamp CA, Tanke HJ, Szuhai K. A homozygous deletion of a normal variation locus in a patient with hearing loss from non-consanguineous parents. J Med Genet. 2009;46:412-7.