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Phoniatrisch-pädaudiologische Aspekte 2020

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

26.09.2020, digital

Entwicklung von auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsleistungen bei Grundschulkindern mit und ohne AVWS

Meeting Abstract

Phoniatrisch-pädaudiologische Aspekte 2020. sine loco [digital], 26.-26.09.2020. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2020. Doc15

doi: 10.3205/20dgpp15, urn:nbn:de:0183-20dgpp157

Published: November 2, 2020

© 2020 Nickisch et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Die Reifung des zentral-auditorischen Systems kann bei hörgesunden Kindern mit objektiven Verfahren belegt werden. In subjektiven Tests ist dies an einer Verbesserung auditiver Verarbeitungs- und Wahrnehmungsleistungen mit zunehmendem Lebensalter erkennbar bzw. bei Schulkindern mit ansteigender Schuljahresstufe. Allerdings stellt sich die Frage, ob diese Veränderung auch für Kinder mit AVWS zutrifft.

Material und Methoden: In einer Trendstudie wurden 82 Erstklässler (40 AVWS; 42 Non-AVWS) und 65 Viertklässler (35 AVWS; 30 Non-AVWS) bzgl. 7 z-standardisierter auditiver Testvariablen sowie deren Gesamtsummenwert miteinander verglichen.

Eine ANOVA erfolgte mit dem Gesamtsummenwert als abhängige Variable sowie eine MANOVA mit folgenden Testvariablen: Göttinger Sprachaudiometrie II im Störgeräusch; Dichotisches Wortpaarverstehen (Uttenweiler); Subtests Phonemdifferenzierung, Phonemidentifikation, Phonemanalyse (jeweils aus Heidelberger Lautdifferenzierungstest); Subtest Zahlenfolgen-Gedächtnis (Psycholinguistischer Entwicklungstest); Mottier-Test.

Ergebnisse: Die ANOVA zeigte signifikante Haupteffekte von „Schulklasse“ (1. vs. 4. Klassenstufe; p<.001, ɳ²=.418) und „Gruppe“ (AVWS vs. Non-AVWS; p<.001; ɳ²=.690), jedoch keinen Interaktionseffekt zwischen „Schulklasse“ und „Gruppe“.

In der MANOVA stellte sich ein ähnliches Ergebnismuster bzgl. der o.g. Haupteffekte dar. Zudem lag ein signifikanter Interaktionseffekt (Klassenstufe x AVWS) für Phonemidentifikation (p=.043; ɳ²=.028) und Phonemanalyse (p=.003; ɳ²=.062) vor, jedoch nur mit jeweils geringen Effektstärken.

Diskussion: Beide Gruppen zeigten in der 4. Klassenstufe signifikant bessere Testleistungen als in der 1. Klasse. Der Unterschied zwischen den Gruppen (AVWS vs. Non-AVWS) scheint im Wesentlichen unabhängig von der Grundschulklassenstufe zu sein.

Fazit: Im Grundschulalter gibt es sowohl für AVWS- als auch für Non-AVWS-Kinder Hinweise auf eine Reifung des zentral-auditorischen Systems, jedoch scheint der Unterschied zwischen den Gruppen von der 1. zur 4. Schulklassenstufe nicht erheblich zu sein. Dies deutet darauf hin, dass auch Kinder mit diagnostizierter AVWS während des Grundschulalters durchaus vergleichbare Entwicklungen in den untersuchten auditiven Leistungen durchlaufen. Die Ergebnisse dieser Trendstudie gilt es nun in einer Längsschnittstudie an denselben Stichproben zu überprüfen.


Text

Hintergrund

Die Reifung des zentral-auditorischen Systems kann bei hörgesunden Kindern mit objektiven Untersuchungsverfahren belegt werden [1], [2]; in subjektiven Tests ist dies mit zunehmendem Lebensalter bzw. bei Schulkindern mit ansteigender Schuljahresstufe an einer Leistungsverbesserung erkennbar (z.B. [3]). Allerdings stellt sich die Frage, ob eine solche Veränderung auch für Kinder mit AVWS zutrifft.

Material und Methode

In einer Trendstudie wurden 147 monolingual deutschsprachig aufwachsende Kinder (Erstklässler: 40 AVWS; 42 Non-AVWS; Viertklässler: 35 AVWS; 30 Non-AVWS) bzgl. ihrer auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsleistungen verglichen. Die klinische Gruppe (AVWS) erhielt die Diagnose „AVWS“, wenn die individuelle Leistung in mindestens zwei der zur Abklärung einer AVWS eingesetzten diagnostischen Instrumente auffällig war (Diagnosekriterien siehe [4], [5]). Unauffällig waren jeweils beidseits binokularmikroskopischer Ohrbefund, Tympanogramm und Tonaudiogramm. Die nonverbale Intelligenzhöhe belief sich auf einen IQ≥86. Die Kontrollgruppe (Non-AVWS) bestand aus unauffälligen Kindern, rekrutiert an Münchner Regelschulen; sie waren peripher normalhörig und zeigten weder aktuell noch anamnestisch Hinweise auf eine Sprachentwicklungsstörung oder Lese-Rechtschreibschwäche.

Folgende 7 auditive Testvariablen wurden verwendet: Göttinger Sprachaudiometrie II im Störgeräusch; Dichotisches Wortpaarverstehen (Uttenweiler); Subtests Phonemdifferenzierung, Phonemidentifikation, Phonemanalyse (jeweils aus Heidelberger Lautdifferenzierungstest); Subtest Zahlenfolgen-Gedächtnis (Psycholinguistischer Entwicklungstest); Mottier-Test.

Nach einer z-Standardisierung der Testvariablen wurde hieraus der Gesamtsummenwert ermittelt sowie die Gruppen (AVWS vs. Non-AVWS) und das jeweilige Schuljahr (1 vs. 4) miteinander verglichen mittels:

1.
einer ANOVA mit dem Gesamtsummenwert als abhängige Variable sowie
2.
einer MANOVA mit den 7 Testvariablen als abhängige Variablen.

Ergebnisse

1.
Die ANOVA zeigte signifikante Haupteffekte von „Schuljahr“ (1. vs. 4. Klassenstufe; p<.001, η2=.418) und „Gruppe“ (AVWS vs. Non-AVWS; p<.001; η2=.690), jedoch keinen Interaktionseffekt zwischen „Schuljahr“ und „Gruppe“.

Kinder mit „AVWS“ hatten im 1. wie auch im 4. Schuljahr jeweils einen signifikant niedrigeren Gesamtsummenwert als Kinder ohne AVWS des jeweils selben Schuljahres (Haupteffekt „Gruppe“). Zudem waren für Viertklässler die Leistungen in beiden Gruppen signifikant höher als für Erstklässler (Haupteffekt „Schuljahr“) (Abbildung 1 [Abb. 1]).

2.
In der MANOVA stellte sich ein ähnliches Ergebnismuster bzgl. der o.g. Haupteffekte dar mit signifikantem Haupteffekt für den Faktor „Schuljahr“ mit unterschiedlichen Effektgrößen (partielles Eta-Quadrat η2) von knapp 4 bis knapp 48%. Das partielle η2=.475 für das Kurzzeitgedächtnis (KZG) für sinnleere Silbensequenzen belegte nach Cohen [6] einen starken Effekt in Anbetracht von knapp 48% Varianzaufklärung (Tabelle 1 [Tab. 1]). Keine Beziehung bestand zwischen „Schuljahr“ und „Sprachaudiometrie im Störgeräusch“. Auch der Faktor „Gruppe“ (AVWS vs. Non-AVWS) hatte einen signifikanten Effekt unterschiedlichen Ausmaßes auf alle auditiven Testvariablen (Varianzaufklärung zwischen ca. 21 bis knapp 59%). Für das KZG für sinnleere Silbensequenzen lag mit knapp 59% Varianzaufklärung ein starker Effekt vor.

Die Wechselwirkung der beiden Faktoren („Schuljahr“ x “AVWS“) war ausschließlich bzgl. der Testvariablen „Phonemidentifikation“ (F=4.161; p=.043; η2=.028) mit einer Varianzaufklärung von knapp 3% und „Phonemanalyse“ (F=9,398; p=.003; η2=.062) mit einer Varianzaufklärung von etwa 6% signifikant. Die Grafiken zu diesen beiden Variablen ähnelten sehr dem Profildiagramm des Gesamtsummenwerts (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]).

Diskussion

Beide Gruppen zeigten im 4. Schuljahr signifikant bessere Testleistungen als in der 1. Klasse. Der Unterschied zwischen den beiden Studiengruppen (AVWS vs. Non-AVWS) scheint im Wesentlichen unabhängig von der Grundschulklassenstufe zu sein.

Insofern gibt es für Kinder im Grundschulalter mit als auch ohne AVWS Hinweise auf eine Reifung des zentral-auditorischen Systems, jedoch stellt sich der Unterschied zwischen den beiden Gruppen im 1. verglichen mit dem 4. Schuljahr nicht grundlegend anders dar. Dies deutet darauf hin, dass auch Kinder mit diagnostizierter AVWS im Grundschulalter durchaus vergleichbare Entwicklungen in den untersuchten auditiven Leistungen durchlaufen. Die Ergebnisse dieser Trendstudie gilt es nun in einer Längsschnittstudie zu überprüfen.


Literatur

1.
Bishop DV, Hardiman M, Uwer R, von Suchodoletz W. Maturation of the long-latency auditory ERP: step function changes at start and end of adolescence. Dev Sci. 2007;10(5):565-75.
2.
Pang EW, Taylor MJ. Tracking the development of the N100 from age 3 to adulthood: an examination of speech and non-speech stimuli. Clin Neurophysiol. 2000;111:388-97.
3.
Brunner M, Baeumer C, Dockter S, Feldhusen F, Plinkert P, Proeschel U. Heidelberg Phoneme Discrimination Test (HLAD): normative data for children of the third grade and correlation with spelling ability. Folia Phoniatr Logop. 2008;60(3):157-61.
4.
Nickisch A, Gohde K, Kiese-Himmel C. AVWS bei Regelschülern im 2. Schuljahr: welche Tests trennen auffällige von unauffälligen Kindern? Laryngo-Rhino-Otol. 2013;92:594-99.
5.
Nickisch A, Kiese-Himmel C. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsleistungen 8- bis 10-Jähriger: Welche Tests trennen auffällige von unauffälligen Kindern? Laryngo-Rhino-Otol. 2009;88:469-76.
6.
Cohen J. Statistical Power Analysis for the Behavioral Sciences. Hoboken: Taylor & Francis; 1988.