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28. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.
2. Dreiländertagung D-A-CH

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.
Schweizerische Gesellschaft für Phoniatrie; Sektion Phoniatrie der Österreichischen Gesellschaft für HNO-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie

09.09. - 11.09.2011, Zürich, Schweiz

Zur Diskriminationsfähigkeit sprachrelevanter Information bei jungen Cochlear-Implant-Kindern: eine EEG-Studie

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  • corresponding author Niki Katerina Vavatzanidis - SCIC, HNO-Uniklinik Dresden, Dresden, Deutschland; Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig, Deutschland
  • author presenting/speaker Anja Hahne - SCIC, HNO-Uniklinik Dresden, Dresden, Deutschland; Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig, Deutschland
  • author Dirk Mürbe - SCIC, HNO-Uniklinik Dresden, Dresden, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 28. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP), 2. Dreiländertagung D-A-CH. Zürich, 09.-11.09.2011. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2011. Doc11dgppP19

doi: 10.3205/11dgpp65, urn:nbn:de:0183-11dgpp650

Published: August 18, 2011

© 2011 Vavatzanidis et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Die Studie beschäftigt sich mit den Auswirkungen der sensorischen Deprivation bei konnatal hochgradig hörgeschädigten Kindern, die in den ersten drei Lebensjahren mit einem Cochlea Implantat versorgt wurden und prüft, wie sich die akustische Verarbeitung sprachrelevanter Reize nach Cochlea-Implantation entwickelt.

Material und Methoden: In einem klassischen oddball-Paradigma wurden kurze und lange Silben dargeboten, während ein EEG abgeleitet wurde. Die erste Messung fand maximal 5 Tage nach initialer Sprachprozessoraktivierung statt, mit Folgemessungen im Abstand von zwei Monaten. Zu jedem Meßzeitpunkt liegen Daten von mindestens vier Kindern vor.

Ergebnisse: Die über vier Kinder gemittelten Daten lassen bereits in den ersten Tagen nach CI-Aktivierung eine Negativierung bei etwa 200 ms nach Stimulusonset gefolgt von einer Positivierung bei etwa 400ms im evozierten Potential erkennen. Die Amplituden dieser Effekte waren jedoch recht gering und die Unterschiede zwischen Standard- und deviantem Reiz erreichten keine statistische Signifikanz. Mit zunehmendem Höralter wurden die Amplituden größer, erreichten jedoch aufgrund der geringen Probandenanzahl (vier oder fünf) pro Messzeitpunkt keine Signifikanz. Bei einer Mittelung über mehrere Messzeitpunkte (Höralter 2, 4 und 6 Monate) waren jedoch sowohl die Negativierung als auch die Positivierung signifikant.

Diskussion: Die Daten geben erste Hinweise, dass trotz der auditorischen Deprivation bereits in den ersten Tagen nach Prozessoraktivierung CI-Kinder unterschiedliche Vokallängen diskriminieren können. Eine erhöhte Probandenzahl wird zeigen, ob das sich andeutende Muster aus MMN und P300 Bestand hat. Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass der Einsatz elektrophysiologischer Methoden eine fruchtbare Ergänzung zur Objektivierung der Hör-Sprachentwicklung bei jungen CI-Kindern darstellt, für die klassische behaviorale Testverfahren nur sehr bedingt einsetzbar sind.


Text

Einleitung und Hintergrund

Bei konnatal hochgradig hörgeschädigten Kindern, die mit einem Cochlea-Implant (CI) versorgt werden, stellt sich die Frage nach der Entwicklung der Diskriminationsfähigkeit auditorischer Merkmale, da der Hörinput durch das CI oft den ersten Höreindruck ihres Lebens darstellt. Zudem ist es insbesondere bei jüngeren Kindern, die noch nicht über Sprache verfügen und erst ein Konzept des Hörens entwickeln müssen, oft schwierig zu bestimmen, wann und welche sprachrelevanten auditorischen Eigenschaften sie nach der Implantation wahrnehmen. Das Elektroenzephalogramm (EEG) bietet die Möglichkeit einer objektiven Erfassung der kognitiven Verarbeitungsprozesse auditiver Reize. Eine Komponente, die sich zum Erfassen der Verarbeitung auditorischer Stimuli bei Kleinkindern besonders eignet, da sie auch in Abwesenheit jeglicher Aufmerksamkeit ausgelöst wird, ist die Mismatch Negativity (MMN), eine Negativierung, die ca. 200–250 ms nach Wahrnehmung einer Abweichung in einer Reihe ansonsten identischer Stimuli auftritt. Ein Auftreten der MMN ist also ein sicherer Indikator dafür, dass ein spezifischer Unterschied (z.B. in der Tonhöhe, -länge, -lautstärke etc.) des Stimulus für den Hörer wahrnehmbar ist. In der folgenden Studie wird die Unterscheidungsfähigkeit sprachrelevanter Merkmale im Verlauf der ersten Monate nach Erstanpassung des Sprachprozessors bei jungen CI-versorgten Kindern betrachtet.

Material und Methode

11 konnatal hochgradig hörgeschädigte Kinder (10 bilateral, 1 rechts implantiert) nahmen an der Studie teil. Ein Kind wurde wegen erheblicher CI-induzierter Artefakte in den Daten von der weiteren Analyse ausgeschlossen. Von den verbleibenden Kindern waren fünf weiblich und das Durchschnittsalter zum Messzeitpunkt betrug im Mittel 1;11 Jahre (1;1–4;4), das Implantationsalter 1;7 Jahre (0;9–3;7). Gemessen wurde 3–4 Tage nach Erstanpassung und anschließend nach zwei, vier, sechs und acht Monaten. Nicht jedes Kind konnte zu allen Zeitpunkten gemessen werden, jede Höraltersgruppe besteht jedoch aus mindestens vier Kindern.

Für das Auslösen der MMN wurde ein klassiches Oddball-Paradigma verwendet, bei dem ein Standardstimulus und ein devianter Stimulus präsentiert werden. In dem verwendeten Paradigma, mit dem bereits zwei Monate alte normalhörende Kleinkinder getestet wurden [1], werden abwechselnd kurze und lange Silben (/ba/ = 202 ms und /ba:/ = 341 ms) mit einem Interstimulusintervall von 855 ms über Lautsprecher präsentiert. Der Standardstimulus trat mit einer Wahrscheinlichkeit von 5/6 auf, der deviante Stimulus mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/6. Es wurden zwei Blöcke à 600 Trials präsentiert, in denen jeweils einmal die lange und einmal die kurze Silbe den Standardstimulus darstellte. Die Reihenfolge der Blöcke war über die Probanden hinweg randomisiert. Während der Messung saßen die Kinder auf dem Schoß eines Elternteils und sahen sich einen lautlos gestellten Trickfilm an.

Die EEG-Aufzeichnung erfolgte mit Silber-Silberchlorid-Elektroden, die nach dem internationalen 10-20-System angeordnet waren. Die Elektroden Fz, Cz, Pz, F3, F4, C3, C4, P3 und P4 sowie zwei Mastoidelektroden und vier Augenelektroden wurden mit einer Samplingrate von 500 Hz abgeleitet. Anschließend wurden die Daten auf das Mittel der beiden Mastoidelektroden oder – bei zu starker Artefaktbehaftung einer Seite z.B. durch ein CI-Artefakt – auf einen der beiden Mastoiden rereferenziert. Die Daten passierten einen Bandpassfilter von 1–15 Hz und Trials, in denen auf den Mittelelektroden die Standardabweichung innerhalb eines sliding windows von 200 ms 80 µV überschritt, wurden verworfen. Die Mittelung der ERPs erfolgte in einem Zeitfenster von 0–1.000 ms mit Beginn des Stimulus, die Baseline lag im Bereich von -200 bis 0 ms. Für die MMN und P300 wurden in den Zeitfenstern 100–300 ms und 300–500 ms und pro Block jeweils eine Varianzanalyse mit Messwiederholung bei einem Signifikanzniveau von α=0.05 mit den Bedingungen Stimulus (deviant vs. standard) und Elektrode (Fz, Cz, Pz) durchgeführt.

Ergebnisse

Kurzer Standardstimulus mit langem devianten Stimulus

In dieser Bedingung ist in allen Höraltersgruppen eine negative Auslenkung bei 200 ms gefolgt von einer positiven Auslenkung um die 400 ms in der sogenannten Differenzkurve (Deviant minus Standard) zu beobachten. Deren Amplitude vergrößert sich mit zunehmendem Höralter, die MMN bleibt jedoch mit Ausnahme der Gruppe im Alter von acht Monaten nicht signifikant, vermutlich eine Folge der geringen Datensätze pro Höraltersgruppe (vgl. Abbildung 1 [Abb. 1]).

Langer Standardstimulus mit kurzem devianten Stimulus

In dieser Bedingung konnte in keiner Höraltersgruppe weder deskriptiv noch statistisch ein systematischer Unterschied zwischen den beiden Bedingungen festgestellt werden. Dies ist auch von normalhörenden Kindern bekannt, vermutlich da eine kurze Silbe inmitten langer weniger salient und dadurch schlechter wahrnehmbar ist.

Diskussion

Die Daten legen nahe, dass selbst bei konnatal hochgradig hörgeschädigten Kindern bereits wenige Tage nach Erstanpassung der Unterschied zwischen langen und kurzen Silben wahrnehmbar ist. Die Vergrößerung der Amplituden ab dem zweiten Höraltersmonat implizieren eine effizientere Übertragung und Verarbeitung auditorischer Stimuli mit zunehmender Hörerfahrung. Eine laufende Erhöhung der Datensätze pro Höraltersgruppe wird dazu beitragen, den Zeitraum dieser Reifung näher einzugrenzen.


Literatur

1.
Friederici AD, Friedrich M, Weber C. Neural manifestation of cognitive and precognitive mismatch detection in early infancy. Neuroreport. 2002;13(10):1251-4. DOI: 10.1097/00001756-200207190-00006 External link