gms | German Medical Science

28. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.
2. Dreiländertagung D-A-CH

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.
Schweizerische Gesellschaft für Phoniatrie; Sektion Phoniatrie der Österreichischen Gesellschaft für HNO-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie

09.09. - 11.09.2011, Zürich, Schweiz

Anbahnung Talker gestützter Kommunikation mit Augenansteuerung bei einem Kind mit schwerer zerebraler Bewegungsstörung – eine Falldokumentation

Poster

  • corresponding author Karen Reichmuth - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Münster, Deutschland
  • author Sabine Leson - Integrative Kindertagesstätte St. Antonius-Haus Hall, Gescher, Deutschland
  • author presenting/speaker Antoinette am Zehnhoff-Dinnesen - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Münster, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 28. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP), 2. Dreiländertagung D-A-CH. Zürich, 09.-11.09.2011. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2011. Doc11dgppP03

doi: 10.3205/11dgpp08, urn:nbn:de:0183-11dgpp084

Published: August 18, 2011

© 2011 Reichmuth et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution License (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.en). You are free: to Share – to copy, distribute and transmit the work, provided the original author and source are credited.


Zusammenfassung

Hintergrund: Sprach- und Kommunikationsförderung bei Kindern mit cerebralen Bewegungsstörungen ohne (oder mit unzureichender) Lautsprache erfordert den Einbezug gezielter Maßnahmen Unterstützter Kommunikation (UK) [1]. Nach stagnierender Kommunikationsanbahnung mithilfe manueller Ansteuerung einfacher elektronischer Tasten und Versuchen bildgestützter Kommunikation, stellte sich die Frage, ob ein 5-jähriger Junge unserer Klinik mit schwerer Tetraplegie und Dysarthrie nach perinataler Asphyxie ohne Lautsprache durch gezieltes Training mithife eines augengesteuerten Talkers die basalen motorischen Fähigkeiten zur Bedienung erwirbt und seine kommunikativen Fähigkeiten steigern kann.

Material und Methoden: Die Anbahnung erfolgte über 4 Monate mit dem Talker My Tobii C 12 mit Ceye Modul. Das interdisziplinäre Training durch Logopädin, Erzieherin und Eltern umfasste 1.Optimierung der Positionierung im Reha Buggy mittels Kopfstütze, 2.Verbesserung der Ansteuerung bildlicher Angebote auf dem gesamten Bildschirm (9 Rasterfelder), 3. Erweiterung der kommunikativen Fähigkeit des aktiven Wünschens in Spiel- und Alltagssituationen. Mittels Video dokumentierten wir die Blickbewegungen der Ansteuerungs- und Auslöseversuche auf dem Bildschirm in Vor- und Nachtest nach 2 und 4 Monaten.

Ergebnisse: Ansteuerungssicherheit und Blickdauer steigern sich im Trainingsverlauf deutlich. Nach 2 Monaten ist aktives Wünschen mit Auswahl aus 2 fotogestützten Angeboten möglich, nach 4 Monaten aus 4 Angeboten, sowie erfolgreiches Finden/Ansteuern erfragter Personen aus 9 angebotenen Fotos. Zusätzlich nutzt der Junge beginnend das symbolgestützte Beantworten von ja/nein Fragen.

Diskussion: Die Anbahnung Talker gestützter Kommunikation mit Augenansteuerung zeigte nach kurzer Trainingszeit deutliche, der manuellen Ansteuerung überlegene Erfolge, die dem Kind erstmals die aktive Partizipation an seinem sozialen Umfeld ermöglichen und die Grundlage für den weiteren Spracherwerb und die Beschulung deutlich verbessern.


Text

Hintergrund

Das Konzept der Unterstützten Kommunikation (UK) umfasst pädagogische und therapeutische Maßnahmen zur Erweiterung der kommunikativen Möglichkeiten von Menschen, die nicht oder kaum über Lautsprache verfügen. Einen Überblick über UK gibt Nonn [2]. Bei Kindern mit zerebralen Bewegungsstörungen ohne (oder mit unzureichender) Lautsprache ist zur Steigerung kommunikativer Ausdrucksmöglichkeiten der Einsatz elektronischer Kommunikationshilfen mit Sprachausgabe (Talker) der klassischen Dysarthrietherapie deutlich überlegen, wird aber in Deutschland noch in unzureichendem Maße empfohlen und angewandt [1]. Je nach motorischen Einschränkungen sind verschiedene Ansteuerungsmethoden der Talker verfügbar, die sich durch technischen Fortschritt deutlich erweitert haben [2]. Nach stagnierender Kommunikationsanbahnung mithilfe manueller Ansteuerung einfacher elektronischer Tasten und Versuchen bildgestützter Kommunikation, stellte sich die Frage, ob ein 5-jähriger Junge unserer Klinik mit schwerer Tetraplegie und Dysarthrie nahezu ohne Lautsprache durch gezieltes Training mithife eines augengesteuerten Talkers die basalen motorischen Fähigkeiten zur Bedienung erwirbt und seine kommunikativen Fähigkeiten und seine expressiven Äußerungsmöglichkeiten steigern kann.

Proband

Proband ist ein 5;11-jähriger Junge nach schwerer peripartaler Asphyxie mit Verdacht auf hypoxisch-ischämische Encephalopathie mit schwerer infantiler spastischer Tetraplegie, mit Brille versorgter Hyperopie, normalem Hörvermögen, allgemeiner Entwicklungsretardierung, Sprachentwicklungsstörung der rezeptiven und expressiven Sprachleistungen mit nahezu ausgebliebener Lautsprachentwicklung und schwerer spastischer Dysarthrie. Ausgangssituation: Der Junge besucht eine integrative Kindertagesstätte mit UK-geschultem Personal. Er spricht wenige nahezu unverständliche Einzelwörter aktiv (9 Wörter im FRAKIS [3]) und zeigt bei orientierender Beurteilung ein Sprachverständnisalter von circa 2½ Jahren. Der Junge zeigt das soziokognitive Wissen über Selbstwirksamkeit gegenüber Menschen und Objekten und über das Ursache-Wirkungs-Prinzip. Er besitzt bildliche Vorstellung und beginnend Symbolverstehen und kommuniziert mit vertrauten Personen intentional über Augen, Mimik und Kopfbewegungen, sowie mithilfe von Einzelwörtern. Körpereigene UK-Möglichkeiten wie Zeigegeste oder Gebärden sind motorisch nicht möglich. Manuelles Ansteuern elektronischer Kommunikationshilfen ist begrenzt auf eine Taste möglich. Ohne Talker gelingt das Wünschen durch Auswahl aus maximal 2 bildlichen Angeboten durch Blickwendung zum Bild. Zustimmung und Ablehnung sind bedingt möglich durch Blicksteuerung auf ja/nein Symbolkärtchen oder verbal mit großer Sprechanstrengung.

Methode

Die Anbahnung Talker gestützter Kommunikation mit Augenansteuerung erfolgte über 4 Monate mit dem Talker My Tobii C 12 mit Ceye Modul [4]. Der Tobii Eye Tracker nutzt für die Berechnung der Augenbewegungen am Bildschirm eine erweiterte Version der PCCR-Technik (Pupil Centre Corneal Reflection) [5]. Das interdisziplinäre Training durch Logopädin und Erzieherin in der Kindertagesstätte (KiTa) sowie Eltern umfasste 1. Optimierung der Positionierung im Reha Buggy mittels Kopfstütze, 2. Verbesserung der Ansteuerungssicherheit für bildliche Angebote auf dem gesamten Bildschirm (Einteilung des Bildschirms in 9 Rasterfelder) als Schwerpunkt im ersten Trainingsmonat: Die Ansteuerung erfordert visuelle Aufmerksamkeitslenkung, ausreichende Kopfkontrolle und Blickdauer zum Auslösen der Sprachausgabe. Das Training erfolgte einerseits mittels eines Suchspiels mit randomisierter Darbietung von Fotos 4 vertrauter Personen auf den 9 Rasterfeldern (pro Suchbild je 1 Foto und 8 leere gelbe Rasterfelder; insgesamt 36 Ansteuerungsversuche/4 pro Rasterfeld). Bei ausreichender Blickdauer auf das Foto aktivierte der Junge automatisch das sprachliche Feedback und das Umblättern zum nächsten Suchbild. Die Blickdauer wurde ausgehend von 1790 ms allmählich gesteigert. Andererseits erfolgte das Training mithilfe My Tobii eigener Ansteuerungsspiele (z.B. Suchspiele „Spukschloss“; „Winnie the Puh“). Die Übungen erfolgten im ersten Monat 4–5x pro Woche für 20–30 Minuten, dann insgesamt 3–4x pro Woche für 10–15 Minuten (zuhause und in der KiTa). 3. Erweiterung der kommunikativen Fähigkeit des aktiven Wünschens in Spiel- und Alltagssituationen (zusätzlicher Förderaspekt ab dem zweiten Trainingsmonat). Die Förderung erfolgte durch fotogestützte Auswahl aus anfangs 2, dann 3, dann 4 Fotos von Spielaktivitäten kombiniert mit Wunschäußerung über die Sprachausgabe (z.B. „Ich möchte ...: a) Seifenblasen spielen; b) ein Buch anschauen; b) Eisenbahn spielen). Zusätzliches bildliches Angebot von ja/nein-Symbolen (Strichgesichter) auf dem Bildschirm nach jeweiligem Spielbeginn zur Klärung des Spielverlaufs: z.B. „Möchtest Du weiter Seifenblasen spielen?“ In gleicher Weise wurden Wünsche nach Essen und Trinken aus Fotos ausgewählt und geklärt. Die Übungen erfolgten circa 4x pro Woche für je circa 30 Minuten in der KiTa Kindergarten und zuhause (1x Einzeltherapie; 2x in der Gruppe; 1–2x zuhause). In Vor- und Nachtests nach 2 und 4 Monaten dokumentierten wir die Blickbewegungen der Ansteuerungs- und Auslöseversuche auf dem Bildschirm mittels Video und dokumentierten die Steigerung der Auslösezeit.

Ergebnis

Ansteuerungssicherheit und Blickdauer steigerten sich im Trainingsverlauf deutlich: Ansteuerungssicherheit der 9 Felder von anfangs 25–100% je nach Rasterfelder auf 75–100% für alle Rasterfelder; erfolgreiches Auslösen durch leicht gesteigerte Blickdauer von 1790 ms auf 2190 ms. Nach 2 Monaten ist aktives Wünschen mit Auswahl aus 2 fotogestützten Angeboten möglich, nach 4 Monaten aus 4 Angeboten, sowie erfolgreiches Finden und Ansteuern erfragter Personen aus 9 gleichzeitig angebotenen Fotos. Zusätzlich nutzt der Junge beginnend das symbolgestützte Beantworten von ja/nein Fragen. 5 Monate nach Trainingsbeginn erfolgte erstmals eine Testung des Sprachverständnisses über augengesteuerte Bildauswahl mithilfe der Verfahren SETK-2 [6] und SETK-3-5 [7], die in den My Tobii-Talker eingepflegt wurden. Der mittlerweile 6;5-jährige Junge erreicht im SETK-2 Untertest Wortverstehen T-Wert 53 und im Untertest Satzverstehen T-Wert 49 für das Referenzalter 30–35 Monate. Im SETK-3-5 Untertest Satzverstehen erreicht er T-Wert 33 für das Referenzalter 36–41 Monate.

Diskussion

Die Anbahnung Talker gestützter Kommunikation mit Augenansteuerung zeigte nach kurzer Trainingszeit von 4 Monaten deutliche, der manuellen Ansteuerung überlegene Erfolge, die dem Kind erste Selbstbestimmung durch Wunschäußerungen ermöglicht und die aktive Teilnahme am Alltagsgeschehen steigert. Diese Maßnahme der UK stellt eine Teilkompensation der körperbezogenen Funktionseinschränkungen des zerebral bewegungsgestörten Kindes dar und eröffnet ihm neue Lernmöglichkeiten. Sie dient als Grundlage für den weiteren Spracherwerb und verbessert die Beschulungschancen deutlich. Auch ermöglicht sie zusätzlich erstmals eine objektive Einschätzung seiner Fähigkeiten, hier durch Testung der rezeptiven Sprachleistungen, als Grundlage für die weitere Förderung. Die gewählte patientenspezifische Maßnahme der UK ermöglicht Trainingserfolge, die die Forderung des ICF-CY (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Version Kinder und Jugendliche [8]) erfüllen, durch Fördermaßnahmen größtmögliche Verbesserung der Partizipation des Patienten an seiner sozialen Umwelt zu erzielen [9].


Literatur

1.
Boenisch J. Sprachtherapie und/oder Unterstützte Kommunikation? Forschungsergebnisse zur kommunikativen Situation von Kindern ohne Lautsprache. In: Giel B, Maihack V, eds. Sprachtherapie & Mehrfachbehinderung – Die Internationale Klassifikation von Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) als Chance. Köln: Prolog; 2008. p. 149-72.
2.
Nonn K. Unterstützte Kommunikation in der Logopädie. Forum Logopädie. Stuttgart: Thieme; 2011.
3.
Szagun G, Stumper B, Schramm SA. Fragebogen zur frühkindlichen Sprachentwicklung (FRAKIS). Frankfurt Main: Pearson; 2009.
4.
My Tobii C 12 mit Ceye Modul. Available from: http://wwwtobii.com/ External link
5.
Technology AB. Tobii Eye Tracking – An Introduction to eye tracking and Tobii Eye Trackers. 2011. Available from: http://www.tobii.com/ External link
6.
Grimm H, Aktas M, Frevert S. Sprachentwicklungstest für zweijährige Kinder (SETK-2). Göttingen: Hogrefe; 2000.
7.
Grimm H, Aktas M, Frevert S. Sprachentwicklungstest für drei- bis fünfjährige Kinder (SETK-3-5). Göttingen: Hogrefe; 2001.
8.
WHO. International Classification of Functioning, Disability and Health. Children and Youth Version ICF-CY. Geneva: WHO; 2007.
9.
Hollenweger J. ICF-CY-Neue Zugänge zur Diagnose und Therapie von Kindern mit Mehrfachbehinderungen. In: Giel B, Maihack V, eds. Sprachtherapie & Mehrfachbehinderung – Die Internationale Klassifikation von Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) als Chance. Köln: Prolog; 2008. p. 61-80.