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28. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.
2. Dreiländertagung D-A-CH

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.
Schweizerische Gesellschaft für Phoniatrie; Sektion Phoniatrie der Österreichischen Gesellschaft für HNO-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie

09.09. - 11.09.2011, Zürich, Schweiz

Phonologische Entwicklung hörgeschädigter Kinder mit Cochlea-Implantat im Höralter von 0 bis 9 Jahren

Vortrag

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 28. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP), 2. Dreiländertagung D-A-CH. Zürich, 09.-11.09.2011. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2011. Doc11dgppV05

doi: 10.3205/11dgpp05, urn:nbn:de:0183-11dgpp051

Published: August 18, 2011

© 2011 Fritz et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Da es im deutschsprachigen Raum bisher kaum möglich ist, anhand von wissenschaftlich belegten Orientierungsdaten den phonologischen Entwicklungsstand hörgeschädigter Kinder mit CI zu bestimmen, wurden das Phoneminventar und die phonologischen Prozesse dieser, entsprechend ihres Höralters, untersucht und mit Normalhörenden verglichen.

Material und Methoden: Im Rahmen einer epidemiologischen prospektiven Querschnittstudie wurde die Aussprache von 31 Kindern im Höralter von 0;6 bis 9;4 Jahren mit Hilfe der PLAKSS getestet. Es gab drei Höraltergruppen (zwei bis vier Jahre) und sechs Einzelfälle (zwischen 0;6 Jahren und 9;4 Jahren). Bei der Auswertung des Phoneminventars wurde zwischen wortinitialen, silbeninitialen, silbenfinalen und wortfinalen Phonemen unterschieden. Bei der Auswertung wurde zwischen deskriptiver und inferenzstatistischer Auswertung unterschieden. Im Rahmen der inferenzstatstischen Auswertung wurde zur statistischen Signifikanzüberprüfung der Kolmogorow-Smirnov-Test, ANOVA, Post-hoc Test Hochberg'́s GT2, Independent-Samples t-Test und der Kolmogorv-Smirnov-Z-Test durchgeführt.

Ergebnisse: Die Gruppe der vierjährigen hörgeschädigten Kinder hat wortinitial und silbeninitial signifikant mehr Phoneme als die der Zwei- und Dreijährigen erworben. Silbenfinal haben die Vierjährigen tendenziell mehr Phoneme erworben als die Zwei- und Dreijährigen. Bei den wortfinalen Phonemen gab es keinen signifikanten Unterschied. Zwischen den Zwei- und Dreijährigen gab es hinsichtlich der Größe des Phoneminventars in den einzelnen Wortpositionen keinen signifikanten Unterschied. Des Weiteren zeigen die Ergebnisse, dass alle Probanden insgesamt 21 verschiedene physiologisch phonologische Prozesse aufwiesen.

Diskussion: Die phonologische Entwicklung hörgeschädigter Kinder mit CI als Gesamtgruppe betrachtet war im Vergleich zu normalhörenden Kindern verzögert. Betrachtet man allerdings einzelne hörgeschädigte Kinder, erkennt man, dass durchaus eine vergleichbare Entwicklung zu normalhörenden Kinder besteht.


Text

Einleitung

Die phonologische Entwicklung bei hörgeschädigten Kindern mit Cochlea-Implantat (CI) wurde bereits u.a. von Buhler, DeThomasis, Chute und DeCora [1], Peter [2], Serry und Blamey [3] und Blamey, Berry und Jacq [4] untersucht. Aber wann genau erwerben deutschsprachige hörgeschädigte Kinder mit CI welche Phoneme? Welche phonologischen Prozesse sind bei hörgeschädigten Kindern mit CI physiologisch und wann werden sie überwunden? Im deutschsprachigen Raum ist es bisher kaum möglich, diese Fragen anhand von wissenschaftlich belegten Orientierungsdaten im Rahmen der Diagnostik im logopädischen Praxisalltag zu beantworten. Daher war das Ziel der durchgeführten Studie, Orientierungsdaten zur phonologischen Entwicklung hörgeschädigter Kinder mit CI, entsprechend ihres Höralters (=Zeitspanne zwischen der Implantation und dem aktuellen chronologischen Alter), zu ermitteln. Es ergaben sich folgende Forschungsfragen: a) Wie sieht das Phoneminventar von Kindern mit CI im Höralter von 0;6 bis 9;4 Jahren aus? b) Welche phonologischen Prozesse liegen bei Kindern mit CI im Höralter von 2;8 bis 9;4 Jahren vor? c) Wo liegen Unterschiede und Gemeinsamkeiten bezüglich der phonologischen Entwicklung der Kinder mit CI im Höralter von 2;0 bis 4;11 Jahren im Vergleich zu normalhörenden Kindern im chronologischen Alter von 1;4 bis 4;11 Jahren? Und folgende Zusatzforschungsfrage: Hat eine Cochlea-Implantation zwischen dem 6. und 12. Lebensmonat positive Auswirkungen auf die phonologische Entwicklung hörgeschädigter Kinder?

Methodik

Es wurde eine epidemiologisch prospektive Querschnittstudie durchgeführt. Die Datenerhebung fand am Cochlear Implant Centrum der Uniklinik Köln im Oktober 2010 statt. Die letztendliche Stichprobe bestand aus 31 Kindern von 0;6 bis 9;4 Jahren. 25 Kinder wurden drei unterschiedlichen Höraltergruppen (zwei bis vier Jahre) zugeordnet und sechs Kinder als Einzelfälle betrachtet. Der Aussprachestatus der Probanden wurde mit Hilfe der Psycholinguistischen Analyse kindlicher Sprechstörungen (PLAKSS) [5] untersucht. Hierbei wurde das Bildbenennungsverfahren mit seinen 99 Items benutzt. Die Testabnahme wurde auf Video aufgezeichnet und nach der Untersuchung anhand des Zeicheninventars der IPA transkribiert. Die Auswertung erfolgte deskriptiv und inferenzstatistisch mit folgenden statistischen Test: Kolmogorow-Smirnov-Test, ANOVA, Post-hoc Test Hochberg's GT2, Independent-Samples t-Test und Kolmogorv-Smirnov-Z-Test [6].

Ergebnisse

Forschungsfrage a) Die Auswertung der einzelnen Phoneme erfolgte pro Wortposition und basierte auf der Annahme, dass es einen Unterschied bezüglich des Umfangs des Phoneminventars in den einzelnen Wortpositionen gibt. In Tabelle 1 [Tab. 1] kann abgelesen werden, dass 60%, 75% bzw. 90% der Kinder einer Höraltergruppe ein Phonem erworben haben. Ein Phonem galt als erworben, wenn es zu mindestens 67% korrekt von einem Kind eingesetzt wurde [7]. Die deskriptiven Ergebnisse der Studie zeigen, dass die Zwei- und Dreijährigen hinsichtlich des Erwerbs der einzelnen Phoneme pro Wortposition lediglich bei bestimmten Phonemen das 60% Kriterium erreichten. Die Vierjährigen erreichten außerdem das 75% und 90% Kriterium. Bei der inferenzstatistischen Auswertung ergab die statistische Signifikanzüberprüfung, dass die Vierjährigen signifikant (p=.037) mehr wortinitiale Phoneme erworben haben als die Zweijährigen und auch signifikant (p=.035) mehr als die Dreijährigen. Ebenso haben die Vierjährigen signifikant (p=.040) mehr silbeninitiale Phoneme als die Zweijährigen und signifikant (p=.012) mehr als die Dreijährigen erworben. Silbenfinal haben die Vierjährigen tendenziell (p=.0985) mehr Phoneme als die Zweijährigen und tendenziell (p=.08) mehr als die Dreijährigen erworben. Bei den wortfinalen Phonemen gab es keinen signifikanten Unterschied im Vergleich der Vierjährigen mit den Zwei- und Dreijährigen. Zwischen den Zwei- und Dreijährigen gab es hinsichtlich der Größe des Phoneminventars in keiner Wortpositionen einen signifikanten Unterschied.

Forschungsfrage b) Wie in Tabelle 2 [Tab. 2] zu erkennen, wiesen die Kinder der vorliegenden Studie insgesamt 21 verschiedene physiologisch phonologische Prozesse auf. Ein Prozess wurde als physiologisch eingestuft, wenn ihn mehr als 10% der Kinder einer Höraltergruppe aufwiesen (Grunwell, 1987), [7]. Ein phonologischer Prozess galt als solcher, wenn ein Kind diesen zu seinem individuell errechneten kritischen Wert (vgl. [8], S. 68) aufwies.

Forschungsfrage c) Bei der Auswertung dieser Forschungsfrage hinsichtlich des Phonemerwerbs wurden die Phoneme im Wort generell betrachtet, um einen direkten Vergleich zur Studie von Fox und Dodd (1999, zitiert in [7]) ziehen zu können, die Daten zur phonologischen Entwicklung normalhörender Kinder erhoben haben. Im Vergleich hörgeschädigter mit normalhörenden Kindern setzte der Erwerb der Phoneme im Wort generell gemäß dem 75% Kriterium bei den hörgeschädigten Kindern der vorliegenden Studie ab einem Höralter von ca. 3;0 Jahren ein. Im Gegensatz dazu begann er bei den normalhörenden Kindern der Studie von Fox und Dodd (1999, zitiert in [7]) mit einem chronologischen Alter von ca. 1;6 Jahren. Bezüglich der physiologisch-phonologischen Prozesse zeigen die Ergebnisse, dass diese bei den hörgeschädigten Kindern der vorliegenden Studie länger andauerten, als bei den normalhörenden.

Zusatzforschungsfrage: Betrachtet man das Implantationsalter der untersuchten Kinder innerhalb einer Höraltergruppe, erkennt man, dass es hinsichtlich des Umfangs des Phoneminventars Unterschiede gab. Es gab Kinder, die früh, das heißt im ersten Lebensjahr implantiert wurden, und ein größeres Phoneminventar aufwiesen, als Kinder, die spät, das heißt nach dem ersten Lebensjahr, implantiert wurden. Andererseits gab es auch Kinder einer Höraltergruppe, die spät implantiert wurden und trotzdem ein gleichgroßes oder größeres Phoneminventar hatten, als früh implantierte Kinder. Betrachtet man allerdings das chronologische Alter der letztgenannten Vergleichsgruppe, erkennt man, dass beispielsweise eines der spät implantierten Kinder auch älter war als beispielsweise eines der früh implantierten. Deshalb sollte es vermutungsweise in seiner Phonementwicklung hinsichtlich des chronologischen Alters auch mehr Phoneme erworben haben.

Resümee und Ausblick

Grundsätzlich ist zu erkennen, dass die phonologische Entwicklung mit zunehmendem Höralter progressiv verläuft. Dies zeigt, dass sich eine Cochlea-Implantation bei Kindern positiv auf die phonologische Entwicklung auswirkt. Die phonologische Entwicklung der hörgeschädigten Kinder mit CI der durchgeführten Studie, als Gesamtgruppe betrachtet, war im Vergleich zu normalhörenden Kindern verzögert. Betrachtet man allerdings einzelne Kinder der Stichprobe, erkennt man, dass durchaus eine vergleichbare Entwicklung zu normalhörenden Kindern bestand. Wie bereits am Anfang dieser Kurzversion erwähnt, ist es in deutschen Praxen bisher kaum möglich anhand wissenschaftlich belegter Daten Kinder mit CI mit anderen hörgeschädigten zu vergleichen, um deren phonologischen Entwicklungsstand bestimmen zu können. Mit den Tabellen 1 [Tab. 1] und 2 [Tab. 2] kann bei der Diagnostik ein Vergleich mit anderen hörgeschädigten Kindern mit CI hergestellt werden, indem die Tabellen als Orientierungsdaten für den logopädischen/sprachtherapeutischen Alltag genutzt werden. Zur Verifizierung der Ergebnisse bzw. der Orientierungsdaten sollte die vorliegende Studie noch einmal mit einer größeren Stichprobe wiederholt werden.


Literatur

1.
Buhler HC, DeThomasis B, Chute P, DeCora A. An Analysis of Phonological Process Use In Young Children With Cochlear Implants. The Volta Review. 2007;107(1):55-74.
2.
Peter K. Phonetisch-phonologische Sprachentwicklung hörgeschädigter Kinder mit unterschiedlicher Versorgung. Forum Hals-Nasen-Ohrenkunde. 2010;12:197-200.
3.
Serry TA, Blamey PJ. A 4-year investigation into phonetic inventory development in young cochlear implant users. J Speech Lang Hear Res. 1999;42(1):141-54.
4.
Blamey PJ, Barry JG, Jacq P. Phonetic inventory development in young cochlear implant users 6 years postoperation. J Speech Lang Hear Res. 2001;44(1):73-9. DOI: 10.1044/1092-4388(2001/007) External link
5.
Fox A. PLAKKS. Psycholinguistische Analyse kindlicher Sprechstörungen. Frankfurt/M: Pearson Assessment & Information GmbH; 2009.
6.
Field A. Discovering Statistics Using SPSS. London: Sage Publications Ltd; 2005.
7.
Fox A. Kindliche Aussprachestörungen: Phonologischer Erwerb - Differenzialdiagnostik - Therapie. Idstein: Schulz-Kirchner Verlag GmbH; 2009.
8.
Bekermann A, Fritz TA. Phonologische Entwicklung hörgeschädigter Kinder mit Cochlea-Implantat im Höralter von 0 bis 9 Jahren [Unveröffentlichte Bachelor-Thesis]. Nijmegen: Hogeschool van Arnhem en Nijmegen; 2011.