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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Robert Jütte (Hrsg): Die Zukunft der IndivudualMedizin. Autonomie des Arztes und Methodenpluralismus

Buchbesprechung/book report Humanmedizin

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  • corresponding author Jörg Marienhagen - Universität Regensburg, Klinikum, Abt. für Nuklearmedizin, Regensburg, Deutschland

GMS Z Med Ausbild 2010;27(3):Doc38

doi: 10.3205/zma000675, urn:nbn:de:0183-zma0006753

Received: June 2, 2009
Revised: January 18, 2010
Accepted: January 25, 2010
Published: May 17, 2010

© 2010 Marienhagen.
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Bibliographische Angaben

Robert Jütte (Hrsg)

Die Zukunft der IndividualMedizin

Autonomie des Arztes und Methodenpluralismus

Herausgegeben in Verbindung mit dem Dialogforum Pluralismus in der Medizin

Deutscher Ärzte-Verlag, Köln

Seitenzahl: 136; € 29,95

Erscheinungsjahr: 2009; ISBN13: 978-3-7691-0591-9


Rezension

Die Ankündigung auf der Rückseite des 136 Seiten starken Büchleins ist viel versprechend und weckt Interesse:

„Welche Ärztin, welcher Arzt verfügt heute über die zeitlichen, finanziellen und persönlichen Ressourcen, um die individuelle Situation eines Patienten richtig zu erfassen, gemeinsam mit dem Patienten ein erfolgreiches therapeutisches Vorgehen zu entwickeln und dabei aus der Bandbreite nicht nur schul-, sondern auch komplementärmedizinischer Methoden zu schöpfen? Informieren Sie sich über die notwenigen Voraussetzungen, Möglichkeiten und Chancen einer „individuelleren Medizin!“ Denn –wir lesen es in Fettdruck: „Jeder Patient ist anders!“ Wer hätte das gedacht?

Das von R. Jütte im Deutschen Ärzteverlag in Verbindung mit dem Dialogforum Pluralismus in der Medizin herausgegebene Buch „Die Zukunft der IndividualMedizin. Autonomie des Arztes und Methodenpluralismus“ enthält die ausgearbeiteten Beiträge einer Tagung, die am 23. und 24. 01. 2008 in Berlin stattfand. Der Bogen der behandelten Themen ist weit gespannt und umfasst Abhandlungen zur Begriffsgeschichte der „IndividualMedizin“, zur Paradigmenpluralität und ärztlichen Praxis, zum Wandel des Berufsbildes und zur Individualmedizin in der ärztlichen Aus- und Weiterbildung. In zwei Beiträgen wird der Themenbereich Methodenpluralismus und Therapiefreiheit vor dem Hintergrund der Evidenzbasierten Medizin bearbeitet. Der Individualmedizin im Zeitalter der technischen Möglichkeiten widmen sich zwei Artikel zur Bedeutung der Pharmakogenomik und der Computermedizin. Abschließend werden Patientenerwartungen sowie die Utopien und Chancen der Individualmedizin beleuchtet. Die Autoren sind in ihrem jeweiligen Fachgebiet ausgewiesene und bekannte Experten. Dennoch ist die Qualität der einzelnen Beiträge ausgesprochen heterogen. Neben sehr informativen und gut lesbar geschriebenen Darlegungen (z. B. zum Wandel des Berufsbildes und seinen historischen Hintergründen, zur Individualmedizin in der ärztlichen Aus- und Weiterbildung sowie den ethischen Implikationen der Evidenzbasierten Medizin) finden sich langatmige, mehr oder weniger pseudophilosophische Ausführungen zur Paradigmenpluralität und ärztlichen Praxis mit zum Teil in einem wissenschaftlichen Text befremdlich wirkender Ausdrucksweise (Paradigma der Heimsuchung und Therapieprinzip der Vertreibung, S. 44). Der konstruiert wirkende Gegensatz zwischen Mediziner und Arzt oder zwischen medizinischer und ärztlicher Diagnose (S. 38, 39) gehört zu den Dauerbrennern der gegen die Schulmedizin gerichteten Einwände. Erstaunlich sind immer wieder aufkommende Animositäten gegen die Evidenzbasierte Medizin und das Forschungsinstrument der randomisierten Studien mit z.T. ebenfalls lange bekannten Argumenten (z. B. S. 71 f) und Platituden wie der Empfehlung, randomisierte klinische Studien stets kritisch zu beurteilen und durch eigene Expertise sowie andere Evidenzen zu ergänzen oder korrigieren (S. 72). Dass in diesem Kontext auch noch die Ergebnisse der Expertiseforschung sehr verkürzt in Anspruch genommen werden, ist überraschend, macht die Argumentation aber nicht überzeugender. Diese Diskussion ist keinesfalls neu und zeigt die unveränderte Aktualität von Eugen Bleulers Auseinandersetzung mit dem autistisch- undisziplinierten Denken in der Medizin. Ob sich so die angeblich obsoleten Grabenkämpfe zwischen Mainstream- und Komplementärmedizin (S. 53) überwinden lassen, sei dahin gestellt.

In den Beiträgen des in Verbindung mit dem Dialogforum Pluralismus in der Medizin herausgegebenen Buches ist viel von Komplementärmedizin und Methodenpluralismus die Rede, womit wohl in erster Linie die besonderen Therapierichtungen der sog. „Alternativmedizin“ gemeint sind (S. 2; 13; 14; 16). Auf der Rückseite des Bandes ist hierzu u.a. zu lesen, dass dieses Dialogforum mit der Zielsetzung gegründet wurde, innerhalb der Ärzteschaft eine Plattform für einen strukturierten Dialog zwischen (selbst-)kritischen Vertretern der Schulmedizin und anderen Therapierichtungen zu schaffen. Im Vorwort des Herausgebers wird als Ziel im Interesse einer optimalen Patientenversorgung dezidiert genannt, „die Weiterentwicklung des derzeit intransparent erscheinenden Pluralismus voranzutreiben hin zu einer nachvollziehbaren Pluralität unterschiedlicher Denk- und Praxisansätze innerhalb der Medizin als einem sinnvollen Ganzen (S. 2).“ Hier habe ich etwas vermisst. An kritischen und selbstkritischen Äußerungen zur Schulmedizin, insbesondere zur Evidenzbasierten Medizin ist in dem Buch kein Mangel. Allerdings kann Kritik keine Einbahnstraße sein. Wer den Methodenpluralismus fordert und im Namen der ärztlichen Therapiefreiheit für alternativmedizinische Verfahren und letztlich (darum geht es, S. 14 und 15) ihre Erstattung durch die Solidargemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherung eintritt, ist ebenfalls zur Selbstkritik und zur Darlegung seiner eigenen wissenschaftstheoretischen Grundlagen aufgefordert. Die in dem Dialogforum Pluralismus in der Medizin sowie in dem Sammelband mit eigenen Beiträgen vertretenen Verfechter komplementärer Medizinansätze haben einen dezidiert anthroposophischen Hintergrund. Als mit dieser besonderen Therapierichtung nicht vertrauter Schulmediziner hätte ich mir daher im Interesse einer nachvollziehbaren Pluralität z. B. von dem das Buch herausgebenden Medizinhistoriker einige Klarstellungen über den mystisch- esoterischen oder, wie manche Kritiker sogar meinen, okkultistischen Hintergrund der in Wissenschaftskreisen bekanntlich umstrittenen „anthroposophischen Medizin“ gewünscht (siehe hierzu die Webseiten der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften e.V. GWUP, http://www.gwup.org/), vor allem auch vor dem Hintergrund aktueller Analysen renommierter Fachleute zur Anthroposophie (z. B. [1]). Von der Vertreterin des „Institutes für angewandte Erkenntnistheorie und medizinische Methodologie“, auf deren Homepage der Begründer der Anthroposophie Rudolf Steiner, eine schillernde Gestalt der Esoterikszene des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, wie selbstverständlich in eine Reihe mit Plato, Aristoteles, Galilei und – ausgerechnet- Kant, der Geisterseherei stets vehement abgelehnt hatte, gestellt wird, hätte ich gern gehört, in wie weit die von Steiner praktizierten Methoden („Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten?“) heute noch gültig sind und sich mit den Ansprüchen moderner wissenschaftlicher Medizin vertragen. Es wäre interessant gewesen zu erfahren, wie sich die Vertreter der anthroposophischen Komplementärmedizin eine objektive Überprüfung ihrer individualmedizinischen Methoden und Therapien, aber auch ihrer ärztlichen Überzeugungen z. B. in Bezug auf Impfungen vorstellen, die auch uneingeweihte Ärzte zu überzeugen vermag, die nicht über die Fähigkeit des Geistersehens verfügen. Auch dies ganz im Sinne einer Weiterentwicklung des derzeit in der Tat intransparent erscheinenden Pluralismus.

Insofern ist es schade, dass die im Anschluss an die Tagung stattfindende Podiumsdiskussion nicht mit abgedruckt wurde. So bleibt nur zu hoffen, dass auf dieser zumindest für die Tagungsteilnehmer einiges klar gestellt wurde

Fazit: das vorliegende Buch enthält zum Teil durchaus lesenswerte Beiträge, wird seinem Hauptanliegen, jedoch nicht gerecht. Wer als Schulmediziner mehr darüber erfahren will, warum und wie er denn „komplementärmedizinische Verfahren“ in sein Methodenspektrum integrieren sollte, um seinen Patienten eine individuellere Medizin anzubieten, wird das Buch enttäuscht zur Seite legen. Ein Beispiel für gelungene Lobbyarbeit ist der Sammelband aber allemal.


Literatur

1.
Zander H. Anthropsophie in Deutschland.Theosophische Weltanschaung und gesellschaftliche Praxis 1984-1945. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; 2007.