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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Der Unterricht zur Arzt-Patientin-Beziehung (APB)1 im Fach Medizinische Soziologie an den medizinischen Fakultäten der Bundesrepublik Deutschland nach Änderung der Approbationsordnung für Ärzte: Ergebnisse einer Befragung

Teaching the doctor-patient relationship in medical sociology within German medical faculties following revisions to licensing regulations for physicians: Survey results

Forschungsarbeit/research article Humanmedizin

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  • corresponding author Jutta Begenau - Charité - Universitätsmedizin Berlin, Zentrum für Human- und Gesundheitswissenschaften, Institut für Medizinische Soziologie, Berlin, Deutschland
  • author Thomas Elkeles - Hochschule Neubrandenburg, Sozialmedizin und Public Health, Fachbereich Gesundheit und Pflege, Neubrandenburg, Deutschland
  • author Claudia Kiessling - Universität Basel, Medizinische Fakultät, Studiendekanat, Basel, Schweiz

GMS Z Med Ausbild 2008;25(4):Doc105

The electronic version of this article is the complete one and can be found online at: http://www.egms.de/en/journals/zma/2008-25/zma000590.shtml

Received: November 22, 2007
Revised: April 22, 2008
Accepted: July 15, 2008
Published: November 17, 2008

© 2008 Begenau et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Die 2002 eingeführte neue Ärztliche Approbationsordnung (ÄAppO) löste in der Fachgesellschaft Deutsche Gesellschaft für Medizinische Soziologie e.V. (DGMS) eine vielschichtige Diskussion aus. Um den Prozess der curricularen Verständigung zu forcieren, wurde von der AG Lehre der DGMS eine Befragung zum Thema Arzt-Patientin-Beziehung im medizinsoziologischen Unterricht durchgeführt.

Methode: Die Befragung fand im Frühjahr 2005 per E-Mail statt. Instrument war ein standardisierter Fragebogen mit insgesamt dreißig Lernzielen, welche nach fünf Kriterien beurteilt werden sollten. Insgesamt 13 ExpertInnen aus Instituten der Medizinischen Soziologie an elf Medizinischen Fakultäten antworteten auf die Befragung. Die Daten wurden EDV-gestützt erfasst. In Anlehnung an die für Delphiverfahren empfohlenen Methoden wurden arithmetische Mittel und Streuungsmaße berechnet.

Ergebnisse: Von den insgesamt dreißig Lernzielen wurden zwei von der Majorität der Befragten negativ beurteilt. Zwanzig weitere zeigten Beurteilungsvarianzen. Acht Lernziele, wie die soziale Rahmung der Arzt-Patientin-Beziehung, die elaborierte Sprache oder auch die Asymmetrie der Arzt-Patientin-Beziehung, wurden kollektiv positiv eingeschätzt. Bei den Lernzielen mit Beurteilungsvarianzen werden Widersprüche sichtbar. Bei einigen Lernzielen, wie etwa der Erhebung einer Sozialanamnese, klaffen erkannte Relevanz und praktische Umsetzung auseinander.

Schlussfolgerungen: Die Ergebnisse bezüglich der gegenwärtigen Lehrpraxis zum Thema Arzt-Patientin-Beziehung an elf Medizinischen Fakultäten geben Orientierungen für weiterführende Diskussionen in der Medizinischen Soziologie. Zum einen führen die Antwortquote und die Diskussionspraxis der letzten Jahre zu der Schlussfolgerung, dass die Diskussion in der Fachgesellschaft über den Kreis der Fachvertreter resp. der langjährig in der Lehre Tätigen hinaus geführt werden sollte. Zum anderen zeigen die Ergebnisse, dass eine auf unterschiedlichen Ebenen geführte Diskussion dazu führen kann, den Unterricht noch praxisnäher und inhaltlich facettenreicher zu gestalten.

Schlüsselwörter: Arzt-Patientin-Beziehung, lernzielbezogener Unterricht, Medizinische Soziologie, psychosoziale Inhalte

Abstract

Background: Changes in requirements governing licensing regulations for physicians in Germany (ÄAppO) in 2002, has led to complex discussions within the German Society of Medical Sociology (DGMS). In order to support the process of curricular agreement, the DGMS workgroup entitled ‘teaching’ conducted a survey on how the doctor–patient relationship is taught in medical sociology.

Method: The survey was conducted in spring 2005 via e-mail. A standardized questionnaire including a total of thirty educational objectives comprised the survey, whereby each objective was evaluated by five criteria. Thirteen experts in the field of medical sociology variously representing eleven medical faculties responded. According to suggested methods of the Delphi survey, means and ranges were calculated.

Results: Of the thirty educational objectives surveyed, two were evaluated negatively by a majority of individuals. Twenty objectives showed variances in evaluation (i.e., controversial objectives). Eight objectives, for example, the social framing of the doctor–patient relationship, the elaborateness of language use, or the asymmetry of the doctor–patient relationship, were generally judged positively. Controversial objectives revealed some areas of contradiction. Some objectives – for example, exploring the social background of a patient – were evaluated as important items but were not frequently taught during regular sociology courses.

Conclusions: The results show an interesting picture of present teaching practices in eleven medical faculties and will likely stimulate further discussion in the field of medical sociology. The response rate and discussions held in recent years demonstrate the need to discuss questions of relevance to medical education before a wider audience, both within the DGMS and other disciplines. Educational objectives and didactic methods need to be further developed to bring teaching in step with actual practice as well as to make it more multifaceted.

Keywords: doctor-patient relationship, educational objectives, medical sociology, psychosocial aspects in medical education


Hintergrund

Die 2002 eingeführte neue Ärztliche Approbationsordnung (ÄAppO) führte bundesweit zu zahlreichen Reformierungen des Medizinstudiums. Davon war auch das Fach Medizinische Soziologie betroffen. Mit der Forderung, bereits im ersten Abschnitt des ärztlichen Studiums in Kursen, Seminaren und Vorlesungen eine an den Erfordernissen der ärztlichen Praxis orientierte Ausbildung zu garantieren, entstand in der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Soziologie e.V. (DGMS) eine vielschichtige Diskussion. Zunächst standen strukturelle Fragen, etwa die nach der Verankerung in der Studienordnung und damit nach den Rahmenbedingungen an den einzelnen Universitäten, im Vordergrund. In dieser Phase wurden ausführlich die Gesamtkonzepte einzelner Universitäten diskutiert. Dann wurde die Diskussion zunehmend inhaltlicher und es stellte sich die Frage, welche Themen bzw. Kompetenzen eigentlich zum Kern der Ausbildung gehören resp. gehören sollten [1], [2]. Eine besondere Aufmerksamkeit erlangte bald das Thema Arzt-Patientin-Beziehung. Mindestens zwei Gründe spielten hierbei eine Rolle. Zum einen sprach für diese Entscheidung die Tatsache, dass sich mit dieser Thematik die in der neuen ÄAppO geforderten berufspraktischen Fragestellungen besonders gut verbinden ließen. Zweitens sollte damit ein Selbstverständigungsprozess innerhalb der Fachgesellschaft eingeleitet werden mit dem Ziel, den Unterricht zur Arzt-Patientin-Beziehung noch praxisnäher und inhaltlich und methodisch facettenreicher zu gestalten.

Im Ergebnis der Diskussion wurde die Arbeitsgruppe Lehre der DGMS auf der Jahresversammlung 2004 in Hamburg beauftragt, in den nächsten Jahren diese Frage in das Zentrum ihrer inhaltlichen Arbeit zu stellen. Die Arbeitsgruppe nahm den Auftrag an. Um in den curricularen Austausch treten zu können, entschied sie sich für eine Befragung. Mit ihr sollten Erkenntnisse zu den Lernzielen des medizinsoziologischen Unterrichts zur Arzt-Patientin-Beziehung, den bevorzugten Veranstaltungsformen (Kurse, Seminare, Vorlesung) und den angewendeten didaktischen Methoden gewonnen werden. Die lernzielbezogene Ausrichtung der Befragung korrespondierte mit einer aktuellen Entwicklung. Am Berliner Reformstudiengang der Medizin war von einer ExpertInnengruppe, zu welcher auch ein Mitglied der Arbeitsgruppe Lehre der DGMS gehörte, gerade ein erster Entwurf zur „Neuformulierung der Ausbildungsziele/-struktur“ erarbeitet worden. An diesen Ergebnissen konnte angeknüpft werden.

Was den curricularen Austausch in der Fachgesellschaft betrifft, konnten bisher auf zwei Jahrestagungen Teilergebnisse vorgestellt und diskutiert werden. Im September 2005 wurden Ergebnisse zu den Lernzielen präsentiert, im Jahr darauf Ergebnisse zur didaktischen Umsetzung derselben. Es muss kritisch eingeschätzt werden, dass über diesen Weg nur ein sehr begrenzter Teil von Interessierten in die Diskussion einbezogen werden konnte. Der vorliegende Beitrag will deshalb die Ergebnisse zusammenführen und einer breiteren Öffentlichkeit vorstellen mit dem Ziel, damit eine erweiterte curriculare Diskussion zu ermöglichen. Im Folgenden wird zunächst das methodische Vorgehen erläutert. Dann werden ausgewählte Ergebnisse vorgestellt. Der Beitrag endet mit einer Ergebnisdiskussion und Schlussfolgerungen.


Daten und Methoden

Befragungszeitraum und Stichprobe: Die Befragung wurde im Frühjahr 2005 durchgeführt. Dazu wurde im Sinne einer Totalerhebung der Gesamt-Email-Verteiler der DGMS genutzt. Von der Aufforderung, an der Befragung teilzunehmen, fühlten sich von den insgesamt ca. 150 Mitgliedern (fast) nur langjährig in der Lehrpraxis Tätige angesprochen. Insgesamt antworteten 16 Personen. Darunter waren drei LehrstuhlinhaberInnen und vier LehrstuhlvertreterInnen. Geantwortet hatten weiterhin drei unbefristet und langjährig in der Lehre Beschäftigte. Hinzu kamen ein akademischer Rat und zwei Personen mit mehrjährigen Lehrerfahrungen, welche jedoch zum Befragungszeitpunkt an keiner medizinischen Hochschule tätig waren. Die drei verbleibenden Personen waren Psychologen und vertraten entweder das Fach Medizinische Soziologie mit oder unterrichteten an inhaltlichen Schnittstellen.

Zusammenfassend lässt sich bezüglich der "Stichprobe" feststellen, dass der beschriebene Response, der Erfahrungshintergrund, die institutionell-organisatorische und regionale Verortung der Befragten dafür spricht, die Befragung – hinsichtlich der realisierten "Stichprobe" - als Expertenbefragung [3], [4] zu klassifizieren bzw. zu werten. Um den Selbstverständigungsprozess innerhalb der Fachgesellschaft zu fördern, werden in die weiteren Auswertungen "nur" die Antworten der SoziologInnen (n= 13) einbezogen.

Abbildung 1 [Abb. 1] zeigt die geographische Verteilung der an der Befragung teilnehmenden ExpertInnen. Eine gewisse Klumpung bestand in Berlin (n=3) und Freiburg (n=2).

Instrument: Der für die Befragung verwendete standardisierte Fragebogen basiert – wie schon weiter oben erwähnt - auf einem von einer ExpertInnengruppe erarbeiteten Entwurf zur „Neuformulierung der Ausbildungsziele/-struktur“ des Reformstudiengangs der Berliner Medizinischen Fakultät. Aus dem darin enthaltenen Pool von insgesamt 136 Lernzielen wurden die 30 Lernziele ausgewählt, die einen inhaltlichen Bezug zur Arzt-Patientin-Beziehung aufwiesen. Diese 30 Lernziele haben, der Taxonomie des Berliner Katalogs folgend, den Fragebogen nach Kenntnissen, Fähigkeiten und Haltungen strukturiert (siehe Abbildung 2 [Abb. 2], Abbildung 3 [Abb. 3], Abbildung 4 [Abb. 4]).

Zu den in Abbildung 2 [Abb. 2] aufgelisteten 30 Lernzielen sollten sich die Befragten auf fünf Ebenen äußern. In der ersten Frage sollten sie mittels einer 4-stufigen-Skala die Bedeutung des jeweiligen Lernziels für den Aufbau einer gelungenen Beziehung zwischen ÄrztInnen und PatientInnen einschätzen. Mit der zweiten Frage wurden sie gebeten, sich – wieder mittels einer 4-stufigen Skala - zur Bedeutung des medizinsoziologischen Unterrichts bei der Herausbildung solcher Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Haltungen zu äußern. Die Fragen drei bis fünf sollten die Lehrpraxis erfassen. Frage drei hatte die Verankerung der Lernziele im eigenen Unterricht zum Gegenstand, Frage vier die Veranstaltungsformen (Kurs, Seminar Vorlesung), in welchen die Lernziele unterrichtet werden, und Frage fünf die verwendeten didaktischen Methoden (Fälle, Vortrag, Textlektüre, Gruppenarbeit, Film/Video). Zusätzlich bestand die Möglichkeit für freie Kommentare.

Antwortverhalten: Der Umfang der Antworten variierte je nach den Lehrerfahrungen der Befragten. Die Frage nach der Bedeutung der einzelnen Lernziele für die Etablierung einer gelungenen Beziehung zwischen ÄrztInnen und PatientInnen (1) und jene nach dem Beitrag der Medizinsoziologie hieran (2) konnte von allen (n=13) beantwortet werden. Die Fragen zur gegenwärtigen Unterrichtspraxis blieben naturgemäß den aktuell Unterrichtenden (n=11) vorbehalten. Von der Möglichkeit, die Items zu ergänzen resp. zu korrigieren, wurde in keinem Fall Gebrauch gemacht.

Statistische Auswertung: Nach EDV- gestützter Erfassung der Daten wurden in Anlehnung an die für Delphiverfahren empfohlenen Methoden [3], [5] arithmetische Mittel und Streuungsmaße (Differenz zwischen dem kleinstem und dem größten Wert) berechnet.

Um aus den Angaben der ExpertInnen die inhaltlichen Gemeinsamkeiten resp. Differenzen zu identifizieren, wurden mit Hilfe dieser beiden Werte drei Gruppen gebildet:

1.
Lernziele mit positivem Gruppenkonsensus (Mittelwert von <= 1,5 + Spannweite <= 1),
2.
Lernziele mit positiver Richtung aber Konsensus-Differenzen (Mittelwert von <=2 + Spannweite von >=2 ) sowie
3.
Lernziele mit mehrheitlich negativem Gruppenkonsensus (Mittelwert von >2).

Die Darstellung der Ergebnisse folgt im Aufbau den in der Befragung gestellten Fragen. Wie bereits weiter oben erwähnt, basieren die folgenden Ergebnisse auf den Antworten der SoziologInnen (n=13, n=11).


Ergebnisse

Die drei Lernzielgruppen

Die Gruppe der Lernziele mit Gruppenkonsensus umfasst insgesamt acht Lernziele, die Gruppe der Lernziele, die zwar mehrheitlich positiv bewertet wurden, bei denen es aber auch zu negativen Bewertungen kam (Lernziele mit erkennbaren Konsensus-Differenzen), wird durch 20 Items gebildet. Ein negativer Gruppenkonsens bestand bei zwei Lernzielen.

Lernziele mit positivem Gruppenkonsensus - akzeptierte Lernziele

Die acht konsensualen Lernziele werden nach Mittelwert und Spannweite (Streuungsmaß) und nach der Häufigkeit ihrer Realisierung in Tabelle 1 [Tab. 1] dargestellt. Als übereinstimmend hoch positiv bewertete Lernziele können sie als gegenwärtige Kernthemen medizinsoziologischen Unterrichts zur Arzt-Patientin-Beziehung bezeichnet werden. Dazu gehören im Einzelnen: "die sozialen Einflussfaktoren und Folgen von Krankheiten“ (K8), "der Einfluss von Geschlecht, Kultur, Sprache auf die Arzt-Patientin-Beziehung“ (K7), “das ärztliche Selbstverständnis und die gesellschaftlichen Erwartungen an Ärztinnen und Ärzte“ (K6) und "Chancen und Risiken der asymmetrischen Form der Arzt-Patientin-Beziehung“ (K9). Kollektiv hoch positiv bewertet werden weiter "eine Sozialanamnese durchführen können“ (F6), "Konflikte auf soziale und ethische Dilemmata hin analysieren“ (F13), "Patienten einer Risikogruppe zuordnen können“ (F15) und "soziale Einflussfaktoren priorisieren können“ (F12).

Fragt man nach der Verankerung dieser Lernziele im Unterricht (Frage 3) zeigt sich, dass die auf der Kenntnisebene liegenden Lernziele ausnahmslos unterrichtet werden. Deutliche Differenzen zwischen erkannter Relevanz und praktischer Umsetzung (n=6 "ja“; 46%) treten dagegen bei einigen fähigkeitsbezogenen Lernzielen, etwa der "Erhebung einer Sozialanamnese“ (F6) und "der Analyse konkreter Konflikte auf soziale und ethische Dilemmata hin“ (F13), auf.

Lernziele mit positiver Richtung aber deutlichen Konsensus-Differenzen – strittige Lernziele

Die Lernziele mit Konsensus-Differenz, mit also auch negativen Bewertungen, bilden mit insgesamt zwanzig Lernzielen die größte Gruppe (siehe Tabelle 2 [Tab. 2]).

Vergleicht man die Lernziele hinsichtlich ihres Kenntnis-, Fähigkeits- oder Haltungsbezugs, ist zunächst festzuhalten, dass in dieser Gruppe alle haltungsbezogenen, immerhin drei Viertel der fähigkeitsbezogenen, aber lediglich die Hälfte der kenntnisbezogenen Lernziele enthalten sind.

Betrachtet man die Differenzen in der Bewertung der jeweiligen Lernziele, lassen sich solche mit größerer und geringerer Varianzdifferenz ausmachen. Zu den Lernzielen mit geringerer Differenz gehören: "die APB als Prozess und in seinen verschiedenen Formen darstellen“ (K3), "über Techniken soziale Barrieren überwinden können“ (F10), "sich der Grenzen von Informationen und der eigenen Grenzen bewusst sein“ (H3) oder auch "eine Situation herstellen können, in der Zusammenarbeit möglich ist“ (F5). Als Lernziele mit größeren Varianzdifferenzen sind zu nennen: "Zeichen kennen, die Menschen an sich tragen und welche soziale Informationen enthalten“ (K4), "Denk- und Verhaltensmechanismen kennen, die bei Menschen in einer face-to-face-Situation ablaufen“ (K5), "Regeln ärztlichen Handelns kritisch reflektieren“ (F11) oder auch "partnerschaftlich mit anderen Menschen umgehen können“ (F8).

Was die Verankerung dieser Lernziele im Unterricht betrifft, ergibt sich ein widersprüchliches Bild. Zwar werden unter den ExpertInnen strittige Lernziele auch seltener (n=7) unterrichtet: “Zeichen kennen, die Menschen an sich tragen und welche soziale Informationen enthalten“ (K4) oder "Informationen dem Gegenüber angemessen weiter geben können“ (F1). Seltener wird aber auch das von vielen als wichtig eingeschätzte Lernziel "über Techniken soziale Barrieren überwinden können“ (F10) unterrichtet. Umgekehrt werden aber auch Lernziele, die strittig sind, dennoch von der Mehrzahl der Befragten unterrichtet. Dies betrifft die Lernziele: “Denk- und Verhaltensmechanismen in face-to-face-Situationen“ (K5), "Entscheidungsprozesse gemeinsam mit Patienten gestalten“ (F7) und die drei haltungsbezogenen Lernziele: "sich der Grenzen von Informationen und der eigenen Grenzen des Verständnisses bewusst sein“ (H3), "eigene Wissensgrenzen akzeptieren“ (H2) wie auch "bereit sein, bei Patientinnen Selbstbestimmung und Selbstverantwortung zu fördern“ (H4).

Lernziele mit mehrheitlich negativem Gruppenkonsensus - abgelehnte Lernziele

Der negative Gruppenkonsens drückt sich dadurch aus, dass zwei Lernziele zur Arzt-Patientin-Beziehung: "die Fähigkeit, die eigene Gesundheit zu reflektieren“ (F1) und "die Fähigkeit, Feedbackregeln anwenden zu können“ (F2) von der Majorität der Befragten als für den medizinsoziologischen Unterricht in theoretischer wie auch praktischer Hinsicht als unbrauchbar abgelehnt werden. Auf sie wird im Weiteren nicht mehr eingegangen.

Veranstaltungsformen und didaktische Methoden des Unterrichts zur Arzt-Patientin-Beziehung

Über die Lehrformen (Kurse, Seminare, Vorlesung) und die jeweilige didaktische Umsetzung (Fälle, Text, Referat u.a.) geben die Tabellen 3-5 [Tab. 3] [Tab. 4] [Tab. 5] Auskunft. Die Antworten werden als absolute Häufigkeiten dargestellt.

Veranstaltungsformen: Betrachtet man Tabelle 3 [Tab. 3] zeigt sich, dass die weiter oben als Kernthemen bezeichneten Lernziele auch entsprechend ausführlich unterrichtet werden. Besonders auffällig ist dies bei "soziale Einflussfaktoren und soziale Folgen von Krankheiten“ (K8). Dies ist ein Thema, welches von der Mehrzahl der Befragten sowohl in Vorlesung, Seminar und Kurs unterrichtet wird. Auch wenn im Umfang geringer, gilt diese Aussage auch für die Lernziele: "das ärztliche Selbstverständnis“ (K6), "Einfluss des Geschlechts, der Kultur, der Sprache auf die APB“ (K7) und "die Chancen und Risiken der asymmetrischen Form der Arzt-Patientin-Beziehung“ (K9) zu. Auch sie werden oft in allen drei Lehrformen unterrichtet. Wir sehen aber auch, dass für einige Lernziele bestimmte Lehrformate bevorzugt werden. So scheinen für Lernziele wie "das ärztliche Selbstverständnis“ (K6), "der Einfluss von Geschlecht, Kultur etc.“ (K7) oder auch "Chancen und Risken der asymmetrischen Form“ (K9) Seminare besonders gut geeignet zu sein. Wieder anders ist es bei dem Thema "Sozialanamnese“ (F6). Hier scheint den Unterrichtenden der Kurs eine besonders geeignete Form zu sein, die Vorlesung wird für diese Thematik von niemandem eingesetzt.

Vergleicht man, wie häufig insgesamt Vorlesung, Seminar und Kurs als Lehrformate genannt wurden, so scheint der gegenwärtige medizinsoziologische Unterricht zur Arzt-Patientin-Beziehung offenbar am häufigsten in Seminaren stattzufinden. Mit zwei Ausnahmen: den "strukturellen Rahmen“ (K1) und "die APB als Prozess kennen“ (K3). Für diese beiden Themen wird besonders gern der Kurs genutzt.

Didaktische Konzepte: Die Ergebnisse zeigen, dass im medizinsoziologischen Unterricht zur Arzt-Patientin-Beziehung alle aufgeführten didaktischen Methoden vertreten sind (siehe Tabelle 3-5 [Tab. 3] [Tab. 4] [Tab. 5]). Deutlich wird aber auch, dass Vorträge und Textlektüre die häufigsten Methoden sind, gefolgt von der Arbeit mit Fällen, letztere im Übrigen am häufigsten bei den prominentesten Lernzielen. Fragt man weiter nach didaktischen Unterschieden zwischen fähigkeits-, kenntnis- oder eher haltungsorientiertem Unterricht, so fällt auf, dass die Methodenvielfalt bei den Lernzielen bezüglich der Herausbildung von Fähigkeiten (siehe Tabelle 4 [Tab. 4]) geringer ist als bei denen zu den Kenntnissen (siehe Tabelle 3 [Tab. 3]). Auffällig sind aber auch die Differenzen innerhalb der Methoden selbst. Bei den fähigkeitsbezogenen Lernzielen steht oft die Gruppenarbeit, gefolgt vom fallbezogenen Unterricht, im Vordergrund. Bei den Lernzielen zur Etablierung von Kenntnissen sind es dagegen Vorträge und Texte, welche den Unterricht didaktisch dominieren.

Vergleicht man Seminar und Kurs, wird in beiden mit den vorgegebenen Unterrichtsmethoden gearbeitet, allerdings auch hier unterschiedlich häufig. So bleibt die Gruppenarbeit offenbar vor allem den Kursen vorbehalten. Dagegen konzentrieren sich in den Seminaren Fälle, Textlektüre und Vortrag. Interessant ist wieder die Häufung von Methoden und Veranstaltungsformen beim Lernziel "soziale Einflussfaktoren und soziale Folgen“ (K8). Wir sehen hier, dass vier KollegInnen einen sehr differenzierten Unterricht anbieten: Sie unterrichten dieses Thema in allen Lehrformaten und nutzen dazu Fälle, Vorträge, Textlektüre, Videos und auch die Möglichkeit der Kleingruppenarbeit.


Diskussion und Schlussfolgerungen

Die vorliegende Arbeit berichtet über eine Befragung zum Unterricht zur Arzt-Patientin-Beziehung in der Medizinischen Soziologie. 13 FachvertreterInnen oder langjährig in der medizinsoziologischen Lehre Tätige von insgesamt 11 Medizinischen Fakultäten haben sich hier zu Lernzielen, Veranstaltungsformen und didaktischen Methoden des Unterrichts in Bezug auf das genannte Thema geäußert. Die vorliegenden Ergebnisse geben Einblicke in die gegenwärtige Lehrpraxis und ermöglichen Orientierungen für weiterführende Diskussionen in der Medizinischen Soziologie.

So kann grundsätzlich zweierlei festgehalten werden. Zum einen zeigt die Teilnahme an der Befragung wie auch die Diskussionsforen der letzten Jahrestagungen, dass nach neuen Möglichkeiten gesucht werden sollte, sich in der Fachgesellschaft über den Kreis der FachvertreterInnen resp. der langjährig in der Lehre Tätigen hinaus auszutauschen. Zum anderen zeigen die Ergebnisse, auf welchen Ebenen und mit welcher Zielstellung die Diskussion geführt werden könnte resp. sollte. Dazu soll im Folgenden ausführlicher Stellung genommen werden.

1.
Die in der Befragung kollektiv hoch positiv bewerteten acht Lernziele sind offenbar Kernthemen des medizinsoziologischen Unterrichts zur Arzt-Patientin-Beziehung. Das zeigen auch die Lehrbücher [6], [7], [8]. Auch hier werden Fragen der sozialen Rahmung der Arzt-Patientin-Beziehung, der elaborierten Sprache, der Asymmetrie oder auch der ärztlichen Macht behandelt und damit eine inhaltliche Fokussierung auf Wirkkräfte und Bestimmungsfaktoren, oder – wie Gerhardt [9] es nennt - Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge vorgenommen. Bezüglich dieser zentralen Lernziele scheinen Diskussionen zu weiteren inhaltlichen Konkretisierungen weniger notwendig. Interessanter wäre hier ein Erfahrungsaustausch zu den verwendeten didaktischen Methoden, den praktischen Beispiele, den hergestellten interdisziplinären oder integrierten Bezüge oder auch bezüglich deren vertieften Weiterführung im Längsschnittcurriculum.
2.
Zwei Drittel der aufgeführten Lernziele (siehe Tabelle 2 [Tab. 2]) wurden zwar generell positiv aber auch deutlich differierend bewertet. In der Diskussion um diese strittigen Lernziele bietet sich ein vor allem inhaltliches Vorgehen an. Über den Austausch der Pro- und Contrapositionen zu den insgesamt 20 Lernzielen könnte sukzessive eine ausführliche inhaltliche Debatte in Gang gesetzt werden mit dem Ziel, bisher vorhandene Deutungsvarianzen zu reduzieren und neue inhaltliche Schwerpunkte zu etablieren. Um ein Beispiel zu geben. Wenn in einem medizinsoziologischen Seminar Studierende dazu befähigt werden sollen, "eine Situation herstellen zu können, in der Zusammenarbeit möglich ist“ (F5), werden die einen handlungsbezogen vorgehen und z.B. die Intersubjektivität von Beziehungen oder die Bedeutung von Ritualen als Form der Kommunikation behandeln. Andere wiederum werden die Gelegenheit nutzen, auf die Perspektivendifferenz, die unterschiedlichen Wirklichkeiten von PatientInnen und ÄrztInnen zu sprechen zu kommen und möglicherweise sogar Übungen einbauen, in welchen eine aus soziologischer Sicht gemeinsame Wirklichkeit hergestellt wird. Eine weitere Gruppe wiederum wird hier vielleicht Fragen von Shared Decision Making unterrichten. Ähnliche inhaltlich differente Vorstellungen dürften bezüglich solcher Lernzielen wie: "Denk- und Verhaltensmechanismen kennen, die bei Menschen in einer face-to-face-Situation ablaufen „(K5), "Techniken kennen zur Überwindung sozialer Barrieren“ (F10), "Regeln ärztlichen Handelns kritisch reflektieren“ (F11) oder auch "partnerschaftlich mit anderen Menschen umgehen können“ (F8) bestehen. U.E. würde diese Debatte die Chance in sich tragen, die von der neuen ÄAppO geforderte stärkere Einbeziehung ärztlicher Praxis - etwa durch die Fokussierung auf soziales Handeln oder Interagieren [10], [11] - um weitere inhaltliche Facetten zu bereichern.
3.
Weiter scheinen uns solche Widersprüche, wie beispielsweise die zwischen Lernzielakzeptanz und Unterrichtspraxis, diskussionswürdig. Es wäre interessant zu erfahren, was dazu führt, dass "eine Sozialanamnese erheben“ (F6) oder "konkrete Konflikte auf soziale und ethische Dilemmata hin analysieren und kommunizieren können“ (F13) für viele ExpertInnen wichtige Lernziele sind, dennoch aber nicht von allen Befürwortern unterrichtet werden. Was sind hier die Gründe? Liegt dies an mangelnder Zeit, an mangelndem Interesse, der Verortung des Unterrichts in der Vorklinik, an thematischen Unsicherheiten oder anderen Gründen?
4.
Ein weiterer Diskussionsstrang könnte die Frage verfolgen, welche Lernzielebenen (ob eher Kenntnisse oder Fähigkeiten/Fertigkeiten oder/und Haltungen) in der medizinsoziologischen Ausbildung besonders wichtig sind. Einen Einstieg in diese Debatte könnte die Frage ermöglichen, warum die Majorität der ExpertInnen einen eher kenntnisbezogenen und nicht fähigkeitsbezogenen Unterricht präferierten? Ebenso interessant wäre es zu erfahren, warum haltungsbezogene Lernziele wie etwa "sich der Grenzen von Informationen und der eigenen Grenzen des Verständnisses bewusst sein“ (H3), "eigene Wissensgrenzen akzeptieren“ (H2) oder "bereit sein, bei Patientinnen Selbstbestimmung und Selbstverantwortung zu fördern“ (H4) zwar unterrichtet, zugleich aber nicht für wichtig gehalten werden?
5.
Diskussionsanschlüsse erlauben schließlich die Ergebnisse zu den didaktischen Methoden und den Veranstaltungsformen. Die Pluralität von didaktischen Methoden lässt auf einen vielfältigen Erfahrungsfundus schließen. Warum also sollte der Einsatz von Fallbeispielen oder der Textanalyse nicht einmal ausführlicher diskutiert werden?

Die Ergebnisse der hier präsentierten Befragung beruhen auf einer relativ kleinen Gruppe von ExpertInnen der Medizinischen Soziologie. Das Thema "Arzt-Patientin-Beziehung“ ist jedoch ein Thema, das viele, wenn nicht gar alle Fächer, die im Medizinstudium vertreten sind, betrifft. In Zukunft sollte zusätzlich zu der verstärkten Diskussion in der Gesellschaft für Medizinische Soziologie eine fächerübergreifende Auseinandersetzung über Inhalte, Unterrichtsformen, didaktische Methoden und Prüfungsinstrumente erfolgen. Hier bietet sich die Gesellschaft für medizinische Ausbildung (http://www.gesellschaft-medizinische-ausbildung.org) als interdisziplinäre wissenschaftliche Gesellschaft an. Erste Schritte wurden mit der Erarbeitung des Basler Consensus Statements "Kommunikative und soziale Kompetenzen im Medizinstudium“ bereits gemacht [12].


Anmerkung

1 Der Begriff Arzt-Patientin-Beziehung wird in diesem Beitrag synonym für die Arzt/Ärztin-Patient/Patientin-Beziehung, alle Geschlechterkonstellationen der APB also, verwendet.


Literatur

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