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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Welchen Effekt hat die Verwendung von Anglizismen in der Sprache der Medizinischen Ausbildung? Drei Hypothesen.

Leitartikel/editorial

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  • corresponding author Eckhart G. Hahn - Schriftleiter der GMS Z Med Ausbild und Vorsitzender der GMA, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Universitätsklinikum Erlangen, Medzinische Klinik 1, Erlangen, Deutschland External link

GMS Z Med Ausbild 2008;25(2):Doc85

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Received: May 13, 2008
Revised: May 13, 2008
Accepted: May 13, 2008
Published: May 15, 2008

© 2008 Hahn.
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Denglisch

Juristen, Germanisten, Philosophen, Theologen und (mit Einschränkung) Politiker sind vermutlich diejenigen, die ihre deutsche Muttersprache am wenigsten mit englischen Wörtern oder Wortgebilden, Akronymen oder Aponymen durchsetzen: sie wollen sich verständlich machen. Andere Berufsgruppen wie Informatiker, Soziologen und Mediziner benutzen Anglizismen und Denglisch (http://de.wikipedia.org/wiki/Denglisch) in großem Umfang. Ärzte sind es gewöhnt, ihre Fachsprache mit lateinischen, griechischen, französischen und englischen Fremdwörtern zu durchsetzen und gegenüber ihren Patienten muttersprachlich zu transponieren. Die medizinische Fachsprache hat wie das muttersprachliche Deutsch eine Jahrhunderte währende Entwicklung durchlaufen und Umgangssprachen wie Latein und Französisch absorbiert. Deutsch war dann die Lingua franca (http://de.wikipedia.org/wiki/Lingua_Franca) der Wissenschaft und speziell auch der Medizin bis zum zweiten Weltkrieg. Seitdem hat diese Rolle die englische Sprache übernommen, und die Muttersprache Deutsch entwickelt sich unter diesem Einfluss weiter und wird auch diese Phase mit ihrer Kraft und Tiefe überstehen – wie jede Weltsprache. Und irgendwann könnte Chinesisch die Rolle als Lingua franca übernehmen. Mandarin steht mit 867.2 Millionen Menschen als Muttersprache, Verkehrssprache und Amtssprache jetzt schon vor dem Englisch (http://de.wikipedia.org/wiki/Weltsprache). Aktuell muss man den angehenden Medizinern, auch den Ärzten, empfehlen, ihre Muttersprache Deutsch zu pflegen, Englisch als globale Wissenschafts- und Verkehrssprache auf einem möglichst hohen Niveau zu beherrschen und noch eine Sprache in einer basalen globalen Version zu lernen lernen [1].


Wandlungsprozess

Der Wandlungsprozess der deutschen Sprache wird derzeit durch eine Flut von Anglizismen und Denglisch (http://de.wikipedia.org/wiki/Denglisch) vorangetrieben, und von vielen Muttersprachlern wird dies als Strapaze und Angriff auf ihre kulturelle Ruhe empfunden. Bei der Betrachtung der vielen englischen Fremdwörter ist es jedoch nicht etwa der Sprachverfall und die Zerstörung der Muttersprache, die stört. Das Phänomen der conjuncture [2] gehört zu einer lebenden Sprache, die in einem ständigen Wandel ist. Vielmehr ist es die plötzliche und unreflektierte Übernahme von nicht völlig verstandenen Wörtern, Wortverbindungen, Akronymen und Aponymen, die in einer Fachmuttersprache oder in der Umgangsmuttersprache zu unscharfer Verständigung führen muss. Dies könnte häufig durch punktgenaue Übersetzung der Bedeutung bis zur Verbreitung in Wörterbüchern und Lexika und damit Aufnahme in den allgemeinen Wortschatz einer Sprache vermieden werden. Beispiel: eLernen statt eLearning. Allerdings bedeutet dies eine bewusste Anstrengung, zu der nicht alle bereit oder fähig sind.


Fachsprache: Deutsch oder Englisch?

Die Auseinandersetzungen darüber kann man getrost dem öffentlichen Disput und den einschlägigen Organisationen überlassen (z. B. dem Verein Deutsche Sprache e.V., http://www.vds-ev.de). Mir ist aber aufgefallen, dass viele Muttersprachler die Anglizismen und denglischen Komponenten aus ganz unterschiedlichen Gründen in der Fachsprache einsetzen: manche als Fachwort (ohne gute Entsprechung im Deutschen, z.B. Management); manche als Modewort (zur Unterstreichung der eigenen Überlegenheit, z.B. assessment); manche als Fremdwort ohne Verständnis für die Bedeutung (aus Bequemlichkeit, auch um über die Banalität des Mitgeteilten hinwegzutäuschen [3], z.B. outcome); und die Eindeutschung mit falscher Konnotation (fehlende Fremdsprachkenntnisse, z.B. Datenkorruption, http://de.wikipedia.org/wiki/Denglisch) [4]. Es ist plausibel, dass Zweitsprachler hinsichtlich der Komponenten sprachlicher Kompetenz [5] die lexikalischen (im Wortschatz abrufbaren), semantischen (in der Bedeutung verstandenen), syntaktischen (grammatikalisch verdeutschten), sprachlautlichen und prosodischen (modulierter Betonung im Kontext der Emotionen) nicht beherrschen und deshalb mit der Verkehrssprache und der Wissenschaftssprache in ihrem eigenen Fach den internationalen Wettbewerb nicht bestehen können: sie wirken unbeholfen im Diskurs mit englischen Muttersprachlern, „wie Babys“ [6]. Möglicherweise werden gerade deswegen Anglizismen und Denglisch in die Muttersprache übernommen, was dieses Defizit aber nicht ausgleicht (siehe Hypothese 1 weiter unten). Mangelnde Englischkenntnis verbunden mit geringer Sprachsorgfalt kann aber auch zu schweren ärztlichen Fehlern führen: zwischen Mai 2006 und März 2007 hatten Ärzte des St. Hedwig-Krankenhauses in Berlin-Mitte bei 47 Patienten Kniegelenke falsch eingesetzt. Modelle, die zur Befestigung mit Knochenzement gedacht sind, waren mit Prothesen verwechselt worden, für die kein Zement notwendig ist. Die Ärzte hatten die englische Aufschrift „Non-Modular Cemented“ (nicht modifizierbare Prothese, die zementiert werden muss) irrtümlich als „nicht zementpflichtig“ übersetzt. Nach Angaben der Klinik sei dieser Fehler auch einem Vertreter der Herstellerfirma nicht aufgefallen, der den ersten Operationen beigewohnt habe. Im März 2007 seien die Prothesen dann mit deutschsprachigen Aufklebern ausgeliefert worden, weitere Fehler sind dann nicht mehr passiert. Bei etwa der Hälfte der Patienten wurde das künstliche Kniegelenk ausgetauscht (http://www.tagesspiegel.de/berlin/;art270,2356094).


Hypothesen

Diese und andere Beobachtungen haben zu meiner Hypothese 1 geführt: die Häufigkeit der Verwendung von Anglizismen und denglischen Konstruktionen in der Muttersprache steht im umgekehrten Verhältnis zur Beherrschung der englischen Sprache. Eine systematische Untersuchung darüber und über ärztliche oder pflegerische Fehler durch mangelnde Sprachsorgfalt gibt es nicht.

Als Herausgeber der GMS Zeitschrift für Medizinische Ausbildung habe ich weitere Beobachtungen gemacht und Hypothesen entwickelt. Halten Sie es für möglich, dass folgender Satz in einem eingereichten Manuskript erscheint: „eLearning und computer based teaching unterstützen die Vorbereitung von OSCEs, gemessen durch ein assessment mit multiple choice und short answer questions“? Alles klar? Ich stelle mir die Frage: versagt hier die deutsche Sprache oder könnte es auch heißen "eLernen und rechnergestützte Lehre unterstützen die Vorbereitung auf OSKE, gemessen durch Prüfungen mit Wahlfragen und Kurzantwortfragen".

Auch während meines Postdiplomstudiengangs zum „Master of Medical Education“ in Bern ist mir aufgefallen, wie eine Unzahl englischer Fachbegriffe in die Sprache der Medizinischen Ausbildung bei deutschen Muttersprachlern Eingang fand. Es fällt offensichtlich Lernenden in der Medizinischen Ausbildung schwer, zwischen Muttersprache Deutsch und Zweitsprache Englisch hin und her zu wechseln (Kodierungswechsel), und es fällt ihnen leichter, die neuen englischen Fachbegriffe mit der deutschen Muttersprache zu vermischen und daraus Anglizismen zu machen. Einige sind auf den Denkprozess zur Übertragung in die Muttersprache Deutsch eingegangen, so auch ich, und es gab deswegen sehr kontroverse Diskussionen mit humorvollem Unterton. In der Medizinischen Ausbildung („Medical Education“) und in der Medizinischen Weiterbildung („Postgraduate Medical Education“) werden angelsächsische Fachwörter (z.B. eLearning, Computer Based Learning, Triple Jump Exercise, 360-Degree Feedback, MiniClinical Exercise, Blueprint, Blended Learning, Outcome Research und vieles mehr) mitten in deutsche Sätze gestellt, und häufig genug als Akronyme oder Aponyme. Auch in der Ausbildungsforschung wird dies praktiziert. Deshalb meine Hypothese 2: die Verwendung von Anglizismen bei der Formulierung von Forschungsfragen führt zu Ungenauigkeiten und Unschärfen, behindert das innovative Planen und Denken in der Ausbildungsforschung und verschlechtert die Validität und Reliabilität von Ausbildungsforschungsergebnisse an den deutschsprachigen Medizinischen Fakultäten. Hypothese 3: die aktuelle Verwendung von Anglizismen in der Medizindidaktik verschlechtert das Verständnis für Ausbildungsmethoden und führt zu einer verminderten Akzeptanz seitens der Hochschullehrer und des Hochschullehrernachwuchses. Bei entsprechenden Untersuchungen müsste man natürlich auch das Niveau des Englischen als Zweitsprache berücksichtigen. Kaum jemand kommt in Deutschland unter den Medizinern über das Basale Globale Englisch [1], [6] hinaus; oft ist es eher Basales Einfaches Englisch (Basic Simple English, http://www.de.wikipedia.org/wiki/Bad_Simple_English), gerade über dem Niveau der Lingua franca im Sinne der Pidgin-Sprache (http://de.wikipedia.org/wiki/Lingua_Franca).

Auch für diese Hypothesen habe ich keine Untersuchungen gefunden. Ein Grund dafür ist möglicherweise, dass sich Mediziner mit qualitativer Forschung schwer tun und die Hilfe von Erziehungswissenschaftlern benötigen würden. Da aber auch andere Disziplinen (Soziologen, Informatiker, Molekularbiologen, Ökonomen) ähnliche Entwicklungen zeigen, hatte ich auf Ergebnisse von da her gehofft - Fehlanzeige. Dies ist besonders verwunderlich, weil auch Gruppen außerhalb des deutschsprachigen Raums mit anderen Muttersprachen und Englisch als Zweitsprache die oben beschriebenen Probleme haben.


Empfehlungen

Angesichts des Fehlens belastbarer Forschungsergebnisse über den Effekt von Anglizismen und Denglisch auf die Medizinische Ausbildung fällt es schwer, allgemeine Empfehlungen zu geben. Die neuronale Bildgebung, ergänzt durch direkte Ableitungen aus dem Temporallappen [5], [7], [8], [9] zeigt, dass monolinguale und bilinguale Personen sich dadurch unterscheiden, dass Muttersprache und Zweitsprache im Hirn verschieden organisiert und verschieden repräsentiert sind. Auch aus der jüngsten neurolinguistischen Literatur lassen sich daraus keine belastbaren Empfehlungen entnehmen. Starke Argumente gibt es für die Verwendung der Muttersprache als individuelle und nationale Wissenschaftssprache und der Englischen Sprache als internationale Wissenschaftssprache (http://www.psychosoziale-gesundheit.net/wortschrift/pdf/faust4_deutsch.pdf) [10], [11]. Diese Argumente lassen sich zwanglos auf die wissenschaftliche medizinische Ausbildung und die medizinische Ausbildungsforschung übertragen. Insofern ist dem Nachwuchs die nachhaltige Pflege der Muttersprache und das Erlernen der englischen Sprache auf möglichst hohem Niveau zu empfehlen. Da es im Zeichen der Globalisierung zunehmend Menschen mit zwei Muttersprachen geben wird, sollte deren Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit auch im Bereich der Wissenschaft der medizinischen Ausbildung beobachtet werden.

Überhaupt keine Argumente lassen sich für die ungezügelte Vermischung von Muttersprache und Englisch finden. Der Effekt auf die Qualität der medizinischen Ausbildung und der medizinischen Ausbildungsforschung kann in Hypothesen formuliert und überprüft werden (s. o. Hypothesen 1-3), ist aber nicht bekannt. Die Plausibilität der Argumente gegen die plötzliche Übernahme von Anglizismen wurde oben dargestellt. Diese Zeitschrift wird deshalb die Nutzung beider Sprachen nebeneinander, aber nicht als Denglisch fördern, bis entsprechende Untersuchungen die Überlegenheit der einen oder anderen Sprech-/Schreibweise belegen. Könnte dies auf die Formel hinauslaufen: „Deutsch denken und Englisch publizieren“ (http://www.psychosoziale-gesundheit.net/wortschrift/pdf/faust4_deutsch.pdf)? Das Herausgebergremium der GMS Z Med Ausbild hat bisher gegen eine durchgehend englische Publikationsweise votiert. Die GMA-Mitglieder sind aufgefordert, zu diesem Thema ihre Gedanken, Argumente oder Forschungsergebnisse mitzuteilen.

Der GMA-Ausschuss für Methodik in der Ausbildungsforschung mit weiteren GMA-Ausschüssen könnte zu diesem Thema Empfehlungen entwickeln oder Fortbildungsmaterial zur Verfügung stellen. Damit könnte die deutschsprachige medizinische Ausbildung und Ausbildungsforschung im nationalen Niveau gesteigert werden und im globalen Wettbewerb bestehen. Gemessen werden könnte dies durch Publikationen aus dem deutschsprachigen Raum und Zitationsraten auf diesem Gebiet.


References

1.
Grzega J. Towards Global English Via Basic Global English (BGE). Socioeconomic and Pedagogic Ideas for a European and Global Language (with Didactic Examples for Native Speakers of German). J E LX 2005;2:65-164. Zugänglich unter: http://www1.ku-eichstaett.de/SLF/EngluVglSW/ELiX/grzega-054.pdf. External link
2.
Raible W. Wohin steuert unsere Sprache? In: Österreichische Forschungsgemeinschaft (Hrsg). Der Mensch und seine Sprache(n). Wien: Böhlau Verlag. 2001:1-23.
3.
Adam K. Die Sprachkrankheit mit Namen BSE - warum es sich lohnt, als Wissenschaftler Deutsch zu reden. Frank Allge Z. 2000;42:III.
4.
Ickler T. Die Disziplinierung der Sprache - Fachsprachen in unserer Zeit. Tübingen: Gunter Narr Verlag. 1997:338-350.
5.
Wittmann M, Pöppel E. Neurobiologie des Lesens. In: Franzmann B, Hasemann K, Löffler D, Schön E (Hrsg). Handbuch Lesen. München: Saur-Verlag; 1999.
6.
Ammon U. Ist Deutsch noch internationale Wissenschaftssprache? Berlin:De Gruyter; 1998.
7.
Fletcher P, Tyler L. Neural correlates of human memory. Nat Neurosci. 2002;5(1):8-9.
8.
Kovelman I, Shalinsky MH, Berens MS, Petittoa LA. Shining new light on the brain's "bilingual signature": A functional Near Infrared Spectroscopy investigation of semantic processing. Neuroimage. 2008;39(3):1457-1471.
9.
Clahsen H, Felser C. How native-like is non-native language processing? Trends Cogn Sci. 2006;10(12):564-570.
10.
Krämer W. Anachronistisch oder lebensnotwendig? Ein Plädoyer für Deutsch als Wissenschaftssprache. Forschung Lehre. 2002;10:538-539.
11.
Mocikat, R. Ein Plädoyer für die Vielfalt. Die Wissenschaftssprache am Beispiel der Biomedizin. Forschung Lehre. 2007;2:90.