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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Der "Frühe Patientenkontakt" im Studiengang Zahnmedizin : Das Konzept eines innovativen, interdisziplinären Studienprogramms in Greifswald

Community Dentistry and early patient contact at the department of dentistry at the University of Greifswald

Projekt Zahnmedizin

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  • corresponding author Anja Ratzmann - Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Poliklinik für Kieferorthopädie, Greifswald, Deutschland
  • author Tomas Gedrange - Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Poliklinik für Kieferorthopädie, Greifswald, Deutschland
  • author Bernd Kordaß - Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Poliklinik für Zahnmedizinische Propädeutik/Community Dentistry, Greifswald, Deutschland

GMS Z Med Ausbild 2006;23(2):Doc35

The electronic version of this article is the complete one and can be found online at: http://www.egms.de/en/journals/zma/2006-23/zma000254.shtml

Received: September 5, 2005
Published: May 15, 2006

© 2006 Ratzmann et al.
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Zusammenfassung

Das Lehrkonzept "Der Frühe Patientenkontakt" für den Studiengang der Zahnmedizin wird im Rahmen der Community Medicine/Dentistry an der Universität Greifswald durchgeführt. Die Lehreinheit erstreckt sich über die ersten vier vorklinischen Semester. Die wesentliche Zielstellung besteht darin, den Studierenden bereits zu Beginn des Zahnmedizinstudiums einen Patientenkontakt zu ermöglichen und somit das Zahnmedizinstudium frühzeitig patientennah zu gestalten. Sie lernen einen "Echt-Patienten" und dessen Lebenssituation über den Zeitraum von einem Jahr kennen. Anhand von begleitenden Vorlesungen und Seminaren wird das Prinzip der Community Medicine/Dentistry erläutert und die Studierenden werden mit bevölkerungsrelevanten Erkrankungen und Gesundheitsstrukturen bekannt gemacht. Dabei wird unter anderem die Lehrmethode "Problemorientiertes Lernen" angewendet. Das Lehrprojekt wird zu Beginn und zum Abschluss mittels eines speziellen Evaluationsbogens ausgewertet. Die Ergebnisse zeigen, dass die Studierenden den "Frühen Patientenkontakt" zu Beginn des Studiums mehrheitlich positiv bewerten. Das Projekt ermöglicht den Teilnehmern erste Erfahrungen im dialogischen Beziehungsaufbau und einen Einblick in die komplexe Persönlichkeitsstruktur eines "echten Patienten". Die Studierenden halten es für wichtig, bereits frühzeitig reale "Patientenwirklichkeiten" kennen zu lernen.

Schlüsselwörter: Community Medicine/Dentistry, früher Patientenkontakt, Psychosoziale Anamnese, Problemorientiertes Lernen

Abstract

The "Early Patient Contact" is a relatively new "Teaching Concept" enabling students to receive an insight early on their studies about patient contact and treatment possibilities. Within the one year visiting program the students had "Hands-on" experience with "real patients".

Through accompanying lectures using the "Problem-based learning method" (PBL) students were able to learn about the principles of Community Medicine/Dentistry within the Health Service, and about population relevant illnesses.

An evaluation form part of a Questionaire made evident that it is possible to provide considerable improvement of the medical/dental education as regards communication skills and understanding of the patients' perceptions, by letting the student establish contact with patients at the very beginning of the curriculum. The students found that experience of high importance.

Keywords: dental education, early patient contact, problem-based learning, community dentistry


Einleitung

Im Rahmen der Community Medicine/Community Dentistry wird seit vier Jahren die Lehreinheit "Der Frühe Patientenkontakt" für den Studiengang der Zahnmedizin an der Universität Greifswald angeboten [1]. Die grundlegende Zielstellung des "Frühen Patientenkontakts" besteht darin, das Zahnmedizinstudium möglichst frühzeitig patientennah zu gestalten, indem der patientenferne vorklinische Studienabschnitt und der patientenintensive klinische Studienabschnitt besser als bisher miteinander verknüpft werden. Die Lehreinheit soll zum einen den Studierenden den Einstieg in die spätere Patientenbehandlung erleichtern und zum anderen eine Erhöhung der Motivation im vorwiegend technisch-propädeutisch orientierten vorklinischen Studienabschnitt bewirken. Es soll vermittelt werden, dass die Studierenden nicht nur den "Mikrokosmos Mundhöhle" betrachten, sondern den Grundsatz erkennen, dass "an jedem Zahn auch ein Mensch (Patient) hängt".


Aufbau des Lehrkonzeptes

Es handelt sich um ein fakultatives Lehrangebot. Der Kurs erstreckt sich modular über die ersten vier Semester des vorklinischen Studienabschnittes. Bereits im ersten Semester werden die Studierenden mit der Gesundheitssituation der Bevölkerung der Region vertraut gemacht. Dazu wird eine Vorlesungsreihe "Community Medicine" zu Themengebieten wichtiger Zivilisationskrankheiten, wie z.B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Tumorerkrankungen, Gefäßerkrankungen, Diabetes mellitus, Suchterkrankungen etc., angeboten. Zusätzlich werden Grundprinzipien der oralen Prävention einschließlich gegenseitiger Mundhygieneübungen im Präventionskurs erlernt. Zur Vorbereitung und Begleitung der Patientenkontakte nehmen alle Studierenden am Kurs "Medizinische Psychologie - Einführung in die ärztliche Gesprächsführung" teil. Dieser Kurs soll Kenntnisse über unterschiedliche Ausdrucksformen der Krankheitsbewältigung sowie über den Einfluss der Arzt-Patienten-Beziehung auf Krankheitsverhalten und -erleben vermitteln. Weiteres Ziel des Seminars ist die Förderung und Entwicklung kommunikativer Fähigkeiten, die für den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient von Bedeutung sind [2] [3] [4].

Im Anschluss wird das Erlernte im Patientenbesuchsprogramm, dem wichtigsten Teil des Projektes, in der Realität erprobt. Dazu suchen die Studierenden die Patienten in ihrer häuslichen Umgebung auf und betreuen diese über einen Zeitraum von einem Jahr, d.h. bis zum Ende des vierten Semesters. Dabei wird ein Patient von zwei Studierenden betreut.

Ein wesentliches Element des Besuchsprogramms ist die Aufnahme des intraoralen Zahnstatus des betreuten Patienten, auf dessen Basis im Anschluss ein individuelles Mundhygieneprogramm erstellt wird. Die Mundhygienemaßnahmen werden dann mit den Patienten geübt.

Begleitend zum gesamten Patientenbesuchsprogramm erfolgt die Aufarbeitung des erlangten Wissens nach der Lernmethode des "Problemorientierten Lernens- PoL" in speziellen Tutorien [5] [6] [7] [8] [9]. Das wesentliche Merkmal dieser Methode ist das Arbeiten mit konkreten Fallbeispielen aus der klinischen Praxis, die in Kleingruppen von 7 - 9 Studenten unter Anleitung eines Tutors durchgearbeitet und gelöst werden. Das problemorientierte Lernen knüpft unmittelbar an das Vorwissen der Studierenden an, geht auf ihr Wissensbedürfnis ein und motiviert zu eigenverantwortlichem Lernen. Es lässt sich als einen interaktiven, auf bestimmte Problemstellungen ausgerichteten Lernprozess beschreiben. Die erworbene Lernstrategie des PoL soll die Studierenden unterstützen, den künftigen (lebenslangen) Lernprozess selbstständig gestalten zu können, da das sich stetig wandelnde Berufsfeld der (Zahn-)Medizin eine kontinuierliche Fort- und Weiterbildung erfordert.

Unterstützend zum Selbststudium wird im dritten Semester der Kurs "Einführung in die wissenschaftliche Recherchetechnik" angeboten. Hier wird der Umgang mit medizinischen und naturwissenschaftlichen Datenbanken erlernt, um auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand recherchieren zu können. Das Besuchsprogramm und die Tutorien werden fortgesetzt und in ergänzenden Vorlesungen spezielle Fragestellungen aus dem Kurs aufgegriffen.

Im vierten Semester wird das Lehrkonzept durch ein zweiteiliges Hospitationsprogramm ergänzt. Es beinhaltet die Hospitation in lokalen zahnärztlichen Praxen, örtlichen Schulen und Kindergärten sowie die Durchführung von Maßnahmen zur Gruppenprophylaxe. Dadurch wird der Einblick in den "normalen" Praxisalltag aus verschiedenen Perspektiven ermöglicht und gleichzeitig werden präventive Maßnahmen praktisch umgesetzt. Die mit Hilfe eines von den Studierenden erarbeiteten Dokumentationssystems erhobenen Informationen bilden die Grundlage für eine Abschlussarbeit, die am Ende des vierten Semesters von jedem Studierenden vorgelegt werden muss. Er beschreibt darin anonymisiert die wichtigsten Informationen zu Lebensumständen, sozialem Lebensumfeld sowie Krankheitsbildern und -verläufen des von ihm betreuten Patienten. Damit soll schon frühzeitig das Erheben und schriftliche Umsetzen einer umfassenden Anamnese als grundlegende ärztliche Fähigkeit geübt werden.


Evaluation des "Frühen Patientenkontakts (FPK)"

Das Lehrprojekt wird zu Beginn und zum Abschluss mittels eines speziellen Evaluationsbogens ausgewertet.

Die Evaluationsbögen enthalten Fragen zu verschiedenen Teilaspekten (Community Dentistry, PoL, Arzt-Patientenbeziehung) des Lehrprojektes. Die Themenkomplexe in beiden Evaluationsbögen sind identisch, um einen Vorher/Nachher- Vergleich zu ermöglichen. Dabei werden im Wesentlichen Fragestellungen zum Lehrkonzept, zu bereits vorhandenen Erfahrungen hinsichtlich Community Dentistry, PoL, Gesundheitswesen und Lerngewohnheiten der Studierenden behandelt. Weiterhin werden die Erwartungen der Studierenden zu den genannten Aspekten eruiert. Der Abschlussbewertungsbogen wurde um Fragen zum "Ablauf des FPK und der Tutorien" erweitert.

Die Zielrichtung der Evaluationsmaßnahme ist praxisorientiert, d.h. die Bewertung des Projekts steht im Vordergrund [10]. Derzeit liegen die Ergebnisse von vier aufeinander folgenden Studienjahren vor. Da in diesem Beitrag vorrangig das Lehrkonzept dargestellt werden soll, stellte sich die grundsätzliche Frage, ob ein solches fakultatives Lehrangebot von den Studierenden angenommen wird. Daher wurden exemplarisch zwei Fragen aus den Abschlussbewertungsbögen der vier Studienjahre (Frage 1: Ich befürworte den FPK am Anfang des zahnmedizinischen Studiums, Frage 2: Der FPK in der Zahnmedizin ist erst nach dem Physikum sinnvoll.) zur graphischen Darstellung ausgewählt. Die statistische Auswertung wurde als deskriptive Statistik mit dem SPSS- Programm (Statistical Package for Social Science) vorgenommen. Das gewählte Verfahren stellt eine geschlossene, summative Evaluation des Projektes dar.

Die Ergebnisse zeigen, dass die Studierenden den "Frühen Patientenkontakt" zu Beginn des Studiums mehrheitlich positiv bewerten (siehe Abbildungen 1-4 [Abb. 1] [Abb. 2] [Abb. 3] [Abb. 4]). Die Motivation im Kurs war gut (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]). Das didaktische Konzept des "problemorientiertes Lernens" konnte erfolgreich vermittelt werden (siehe Tabelle 2 [Tab. 2]). Einen wesentlichen Schwerpunkt des FPK stellt die Community Dentistry dar. Durch die Vorlesungen und Tutorien sollten die Studierenden bevölkerungsrelevante Erkrankungen, deren mögliche Verursachungsfaktoren sowie deren Ausprägung und Verteilung in einer bestimmten Region kennen lernen und einen Einblick in den engen Zusammenhang zwischen Medizin und Zahnmedizin bekommen. Die Ergebnisse zeigen, dass diese Lehrinhalte vermittelt werden konnten (siehe Tabelle 3 und 4 [Tab. 3] [Tab. 4]). Auffällig ist, dass die erste Staffel bei fast allen Fragen schlechter abschneidet, als die nachfolgenden Studienjahre. Eine mögliche Erklärung aus unserer Sicht ist, dass es sich bei diesem Kurs um das Pilotprojekt handelte. Das Lehrprojekt wird unter Berücksichtigung der gesammelten Erfahrungen und Evaluationen ständig weiterentwickelt und verbessert.


Diskussion und Schlussbetrachtung

Die Ergebnisse dieser Evaluationen ermutigen, den persönlichen Kontakt zwischen Studierenden und Patienten in der vorklinischen Ausbildung beizubehalten. Das Projekt ermöglicht den Teilnehmern erste Erfahrungen im dialogischen Beziehungsaufbau und einen Einblick in die komplexe Persönlichkeitsstruktur eines "echten Patienten". Die Studierenden halten es für wichtig, bereits frühzeitig reale "Patientenwirklichkeiten" kennen zu lernen. Nach den Erfahrungen, die bislang in Greifswald über vier Jahre gemacht wurden, hat sich der "Frühe Patientenkontakt" im Studium der Zahnmedizin bewährt. So zeigen erste Ergebnisse einer retrospektiven Evaluation aus dem klinischen Studienabschnitt, dass die Studierenden sich durch die Teilnahme am „Frühen Patientenkontakt" besser auf die Patientenkontakte vorbereitet fühlten. Auch wird durch den frühzeitigen Bezug zum Patienten eine bessere Motivation der Studierenden insbesondere im vorklinischen Studienabschnitt erreicht. Durch die Erhebung des intraoralen Befundes und der anschließenden Auseinandersetzung mit der Mundhygienesituation des "eigenen" Patienten wird ein patientenbasierter Zusammenhang zwischen den zahntechnischen Kursinhalten und der klinischen Praxis hergestellt. Die Abschlussarbeiten zeigen, dass die Teilnehmer die technisch-propädeutischen Kursinhalte durch den Patientenbezug aus einem mehr klinischen Blickwinkel betrachten.

Im Kontext mit den Überlegungen zur Neufassung der Zahnmediziner-Approbationsordnung (ZAppO) können die Erfahrungen im "Frühen Patientenkontakt" sehr nützlich sein, da eine stärkere Annäherung und Vernetzung mit dem Studiengang Medizin einerseits und eine besonders praxisnahe Ausbildung andererseits angestrebt wird. Der personelle und organisatorische Aufwand für den "Frühen Patientenkontakt" übersteigt das, was gewöhnlich geleistet werden muss. Es bleibt daher abzuwarten, ob sich der Trend bestätigt, dass sich Studierende, die am "Frühen Patientenkontakt" teilgenommen haben, in den klinischen Semestern besser auf den Patienten vorbereitet fühlen. Diese Fragestellung wird derzeit anhand einer retrospektiven Evaluation im klinischen Studienabschnitt untersucht.


Literatur

1.
Ratzmann A, Wiesmann W, Althoff A, Kordaß B. Der frühe Patientenkontakt - Ein neues Lehrkonzept in der präklinischen Ausbildung. DZZ. 2002;Supplement 2002:D 6.
2.
Goeppert S. Medizinische Psychologie. Vol. 1. Freiburg: Rombach. 1996:S12-32.
3.
Schultz-von-Thun F. Miteinander reden. 1. Störungen und Klärungen. Allgemeine Theorie der Kommunikation. Reinbek: Rowohlt; 1981.
4.
Watzlawick P, Beavin JH, Jackson DD. Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern: Huber; 1969.
5.
de Goeij AF. Problem-based learning: what is it? What is it not? What about the basic sciences? Biochem Soc Trans. 1997;25(1):288-293.
6.
Bligh J. Problem-based learning in medicine: an introduction. Postgrad Med J. 1995;71(836):323-326.
7.
Pfaff M. Problemorientiertes Lernen. Anleitung mit 20 Fallbeispielen. Weinheim: Chapman & Hall; 1996.
8.
Boud D, Feletti G. The challenge of problem-based learning. London: Kogan Page; 1991.
9.
Norman GR, Schmidt HG. The psychological basis of problem-based learning: a review of the evidence. Acad Med. 1992;67(9):557-565.
10.
Wottawa H, Thierau H. Lehrbuch Evaluation. Bern: Huber; 1990.