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GMS Medizin — Bibliothek — Information.

Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen (AGMB)

ISSN 1865-066X

50 Jahre Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen (AGMB): Vorsitzende der AGMB beantworten Fragen zur Rolle von Medizinbibliotheken im Wandel der Zeiten

50 years of the German Medical Library Association (AGMB): chairpersons of the AGMB answer questions about the role of medical libraries in the course of time

Fachbeitrag

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  • Bruno Bauer - Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien, Österreich
  • corresponding author Helmut Dollfuß - Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien, Österreich

GMS Med Bibl Inf 2020;20(3):Doc24

doi: 10.3205/mbi000481, urn:nbn:de:0183-mbi0004816

Published: December 22, 2020

© 2020 Bauer et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 License. See license information at http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Die Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen (AGMB) wurde 1970 gegründet, sodass sie 2020 ihr 50-jähriges Bestandsjubiläum begeht. Bedingt durch die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie konnte keine Jubiläumsfeier stattfinden. Deshalb wurden die früheren Vorsitzenden der AGMB Ulrich Korwitz, Dorothee Boeckh und Diana Klein sowie die aktuelle Vorsitzende Iris Reimann eingeladen, fünf Fragen zu ihren Motiven für ihr Engagement in der AGMB, insbesondere als Vorsitzende, zu beantworten und Einblicke in Höhen und Tiefen ihrer Arbeit für die AGMB zu geben. Weiters informieren sie über Veränderungen an Medizinbibliotheken in den vergangenen Jahrzehnten und skizzieren, welche Rolle Medizinbibliotheken in Zukunft übernehmen müssen, damit sie nicht obsolet werden. Zuletzt wagen sie eine Einschätzung, ob es die AGMB in 50 Jahren noch geben wird.

Schlüsselwörter: 50 Jahre AGMB, Interview, Dorothee Boeckh, Iris Reimann, Diana Klein, Ulrich Korwitz

Abstract

The German Medical Library Association (AGMB) was founded in 1970, so it had its 50th anniversary in 2020. Due to the effects of the Covid-19 pandemic, no anniversary celebration could take place. For this reason, former chairmen and chairwomen of the AGMB Ulrich Korwitz, Dorothee Boeckh and Diana Klein as well as the current chairwoman Iris Reimann were invited to answer questions about their motives for getting involved in the AGMB, especially as chairpersons, and to report on heights and depths of their work for the AGMB. They also provide information about changes in medical libraries in the past decades and will give an outline on the role of medical libraries in the future. Finally, they will try to assess whether the AGMB will still exist in 50 years.

Keywords: 50 years AGMB, interview, Dorothee Boeckh, Iris Reimann, Diana Klein, Ulrich Korwitz


Interview

1 Engagement in der AGMB

B. Bauer: Sie sind seit vielen Jahren Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen. Was waren die Gründe, sich in der AGMB, insbesondere auch als Vorsitzender bzw. Vorsitzende, zu engagieren?

U. Korwitz [Mitglied in der AGMB seit 1983, AGMB-Vorsitzender 1998–2003; Jahrestagungen während der Funktionsperiode in Hannover 1999, Wien 2000, Hamburg 2001, Köln 2002 und Dresden 2003]: Die Mitgliedschaft gleich nach Berufsstart an der medizinischen Bibliothek in Lübeck (ZHB) war eine Selbstverständlichkeit für mich. Durch die Teilnahme an den Jahrestagungen war es möglich, stets auf dem Laufenden zu bleiben – gerade im sich schnell entwickelnden Umfeld medizinischer Bibliotheken eine unabdingbare Notwendigkeit. Damals lag der Fokus auf dem Aufbau von Informationsvermittlungsstellen (IVS) und Auftragssuchen beim DIMDI und beim STN (Scientific & Technical Information Network, Anm. Red.). Der Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen war hierzu mehr als hilfreich. Das galt auch für Fragen des Bestandsaufbaus, z.B. Approval Plans.

Als Vorsitzender der AGMB setzte ich mich zusammen mit den anderen Vorstandsmitgliedern bei der fachlichen Organisation der Jahrestagungen für ein qualitativ hochwertiges Programm ein und für die notwendig gewordene Gründung eines eingetragenen Vereins (AGMB e.V.) im Jahr 2000.

D. Boeckh [Mitglied in der AGMB seit 1987, AGMB-Vorsitzende 2003–2007; Jahrestagungen während der Funktionsperiode in Mannheim 2004, Graz 2005, Jena 2006 und Ulm 2007]: Herr Stadler (seinerzeit noch Boehringer Mannheim) und ich kannten uns als Mannheimer Bibliothekare im „Medizingeschäft“ schon lange, und mehr als einmal habe ich ihn in seiner Firmenbibliothek aufgesucht, um über die Fortschrittlichkeit dort zu staunen. Lange vor uns ging er selbstverständlich mit Computern um. Als er 1992 in Magdeburg Vorsitzender wurde, besuchte er mich bald danach in meiner Bibliothek, um mir die aktive Mitarbeit im AGMB-Vorstand schmackhaft zu machen. Seine Argumentation war sinngemäß „Wenn wir zu zweit aus Mannheim und aus zwei verschiedenartigen Bibliothekstypen im Vorstand sind, dann können wir was bewegen“. Das fand ich sinnvoll. Und ja, warum eigentlich nicht?

Dieser Besuch hatte zur Folge, dass ich bis 2001 als Schriftführerin der AGMB meine Fähigkeiten im Protokollschreiben trainieren konnte, nach und nach einen tiefen Einblick in die internen Angelegenheiten, die Mitglieder mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen, die Organisation von Tagungen mit Befindlichkeiten von Sponsoren und Ausstellern hatte und 2000 aktiv an der Vereinsgründung beteiligt war.

2001 hatte ich mein Amt dann abgegeben – einerseits, weil ich grundsätzlich etwas gegen „lebenslange“ Ämter habe, andererseits, weil ich unter anderem durch das Neubauprojekt unserer Bibliothek, das 2001 seinen Abschluss fand, ausgebrannt war. Ich brauchte eine Atempause.

Die wurde mir gewährt, aber schon 2003 in Dresden erfuhr ich am Vorabend der Mitgliederversammlung im lockeren Austausch mit den Kollegen an meinem Tisch zur Person des nächsten Vorsitzenden „Wir haben da an dich gedacht …“ – und hatte anschließend eine schlaflose Nacht.

Ich habe den Vorsitz also nicht aktiv angestrebt, um bestimmte Ziele zu erreichen, sondern er ist mir tatsächlich „einfach so passiert“.

D. Klein [Mitglied in der AGMB seit 2002, AGMB-Vorsitzende 2007–2011; Jahrestagungen während der Funktionsperiode in Magdeburg 2008, Hamburg 2009, Mainz 2010 und Köln 2011]: Als ich 2002 im Bereich Medizin eingestiegen bin, war der Austausch innerhalb der AGMB für mich von großer Bedeutung. Auch die vielen interessanten Beiträge aus der Zeitschrift der AGMB, damals noch „Medizin, Bibliothek, Information“, haben mir in dieser Zeit sehr weitergeholfen. Die Gemeinschaft in der AGMB habe ich als offen erlebt, die Kolleginnen und Kollegen haben mich sofort aufgenommen und zur Mitarbeit ermuntert. Ich fand es auch sehr positiv, dass die AGMB länderübergreifend agiert und Mitglieder aus Deutschland, Österreich und Schweiz umfasst.

Daraus ergab sich der Wunsch, der AGMB etwas zurückzugeben und mit beizutragen, dass die AGMB weiter bestehen bleibt. In dieser Phase war damals auch in der Diskussion, ob die AGMB sich anderen bibliothekarischen Verbänden anschließen sollte. Denn zeitweise war es schwierig, neue Kandidatinnen und Kandidaten für die Vorstandswahlen zu finden. Auch die Suche nach Tagungsorten für die Jahrestagung war in manchen Jahren sehr mühsam. Jetzt im Nachhinein bestätigt sich aus meiner Sicht, dass es richtig war, die AGMB weiterhin als eigenständigen Verein fortzuführen.

I. Reimann [Mitglied in der AGMB seit 2006/2007, AGMB-Vorsitzende seit 2015; Jahrestagungen während der Funktionsperiode in Göttingen 2016, Wien 2017, Oldenburg 2018, Göttingen 2019 und Online-Tagung 2020]: Nach meinem postgradualen Fernstudium Bibliothekswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin übernahm ich als Berufsanfängerin im Oktober 2006 die Medizinische Bibliothek der RWTH Aachen. Mein Vorgänger im Amt wies mich ein und empfahl mir gleich am Anfang eine Mitgliedschaft in der AGMB. Da ich die Tagung 2006 knapp verpasst hatte, musste ich fast ein Jahr bis zu meiner ersten Tagung warten. 2007 war es dann soweit in Ulm. Die ersten Hemmungen, weil man neu war und kaum jemanden kannte, wurden einem schnell genommen. Das Gesamtpaket überzeugte: qualitativ hochwertige Vorträge, ein spannendes Rahmenprogramm rund um die Stadt, in der die Tagung stattfand, und schließlich der kollegiale Austausch. Die jährliche AGMB-Tagung wurde schnell zu einem beruflichen Highlight des Jahres, ausgerichtet und organisiert von Kolleginnen und Kollegen. Mir war schnell klar, dass ich von dem, was mir die AGMB und vor allem die Tagung gab, auch etwas zurückgeben wollte. Zuerst musste ich mich jedoch auf den Job in Aachen konzentrieren, es war ja noch alles neu. Dann richteten wir 2012 die Tagung selbst in Aachen aus, eine äußerst wichtige Erfahrung für meine zukünftige Vorstandstätigkeit. Denn hier lernte ich, worauf es organisatorisch bei der Tagung ankommt und konnte bei späteren Begehungen zukünftiger Tagungsstätten darauf genau achten. 2013 war ich schließlich soweit, für den Vorstand zu kandidieren, zwei Jahre später übernahm ich – etwas ungeplant – den Vorsitz. Bereut habe ich es nicht, auch wenn es nach 7 Jahren langsam Zeit für einen Wechsel wird.

2 Höhen und Tiefen in der AGMB

B. Bauer: Was waren die Höhepunkte in der Funktionsperiode, in der Sie den Vorsitz der AGMB innehatten? Gab es auch Enttäuschungen?

U. Korwitz [AGMB-Vorsitzender 1998–2003]: Höhepunkte waren die Jahrestagungen und deren akribische Vorbereitung, auch durch Vorbesichtigungen vor Ort. Es war immer spannend zu erleben, wie das Tagungsprogramm sich zusammenfügte und ein organisches Ganzes entstand.

Auch so etwas Formales wie die Vereinsgründung war eine spannende Erfahrung. Die vormalige Organisationsform war nicht mehr hinreichend gewesen für die Verwaltung von Einnahmen durch Firmenausstellungen und Ausgaben für Kongressflächen und Social Events während der Tagungen. Die Tagungen nahmen eine beachtliche Größe an und waren auch für die Firmen, die ausstellten, eine wichtige Zeitmarke im Geschäftsjahr.

Enttäuschungen gab es nicht: Die AGMB wuchs und gedieh. Sorgen gab es nur vorübergehend, wenn im Sommer noch nicht genug Vorträge für die anstehenden Tagungen gewonnen worden waren.

D. Boeckh [AGMB-Vorsitzende 2003–2007]: Das ist ganz schön lange her! An ein paar Ereignisse kann ich mich erinnern, es fehlen bestimmt viele, die ebenso wichtig waren:

Die „Task Force zur Finanzierung von Bibliotheken an Kliniken und Lehrkrankenhäusern“, aus der 2004 immerhin drei Positionspapiere hervorgegangen sind [1], war eine gute Initiative.

Dass wir 2004 die Tagung in Mannheim ausgerichtet haben, war sicher einer der Höhepunkte; wenn die Vorsitzende zum Ortskomitee gehört, ist manches einfacher.

Dass wir als AGMB die Öffentlichkeit gesucht und uns face-to-face mit einem Forscher über die Sinnhaftigkeit von Bibliotheken auseinandergesetzt haben, war ein ungewöhnlicher und spannender Vorgang: Als Vertretung der Medizin-Bibliotheken fühlten wir uns durch einen – absichtlich provozierenden – Artikel über „Uni-Schmarotzer“ [2] (mit-)angegriffen. Wir reagierten zunächst mit einem Artikel [3], später in einer Podiumsdiskussion auf dem Bibliothekartag 2005 in Düsseldorf.

2005 in Graz eine Tagung in Österreich zu organisieren, ohne sich den Unmut aller deutschen Kolleginnen und Kollegen zuzuziehen, die nicht ins Ausland reisen durften, habe ich als besondere Herausforderung empfunden.

Hier hatten wir nach meiner Erinnerung erstmalig in der Mitgliederversammlung eine Aussprache darüber, dass die AGMB kein Selbstläufer ist, sondern aktiver Gestaltung und Mitwirkung durch die Mitglieder bedarf.

Dass „unsere“ Zeitschrift – seit den Anfängen der AGMB in verschiedenen Formaten und mit einigen Titeländerungen am Start – 2006 einen Wandel vom Print- und Online-Medium zu dem uns heute vertrauten e-only-Format durchlief und gleichzeitig die Einbindung in die Plattform GMS möglich war, fiel auch in meine Amtszeit. In diesem Zusammenhang waren vor allem Sie, Herr Bauer, aktiv [4].

Die vielleicht schwierigste Aufgabe war schon relativ zu Beginn meiner Amtszeit der Nachruf auf Peter Stadler, der plötzlich verstorben war. Ich war nicht nur persönlich betroffen. Ich wollte seiner Person gerecht werden und sie den AGMB-Mitgliedern noch einmal nahe bringen – wissend, dass sowohl seine Angehörigen als auch seine Vorgesetzten und Boehringer-Kollegen den Text ebenfalls lesen würden [5].

D. Klein [AGMB-Vorsitzende 2007–2011]: Einer der Höhepunkte waren für mich die neuen Formate, die wir damals in die Tagungsstruktur eingebracht hatten. Die AGMB-Tagung lebt vom direkten Austausch unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern und deshalb hatten wir im Vorstand überlegt, wie wir diesen Austausch noch verbessern können. Als wir zum ersten Mal die „Treffpunkte“ und die 5-Minuten-Kurzvorträge angeboten hatten, waren wir sehr gespannt auf die Reaktionen. Das positive Feedback hatte uns sehr gefreut.

Ein weiterer Höhepunkt war – passend zum aktuellen Anlass – das 40-jährige Jubiläum der AGMB im Jahr 2010. Unsere „40 Jahre AGMB“-Tasse hat noch immer ihren festen Platz in meinem Büro. Besonders gefreut hat mich, dass beim 40-jährigen Jubiläum Franz Josef Kühnen als Gründungsmitglied der AGMB den Eröffnungsvortrag gehalten hat. Ulrich Korwitz hatte damals dankenswerterweise Herrn Kühnen als Redner werben können. So hatten wir noch die letzte Gelegenheit nutzen können, mit einem persönlichen Zeitzeugen an die Anfangszeiten der AGMB anzuknüpfen.

Enttäuschend war, dass die Zahl der Krankenhausbibliotheken und insbesondere der Pharmabibliotheken in der AGMB in dieser Zeit weiter abgenommen hat, da viele dieser Bibliotheken geschlossen wurden. Eine Task Force der AGMB hatte in den Vorjahren mehrere Papiere zur Unterstützung der Position der Krankenhausbibliotheken erstellt, aber trotzdem ließ sich dieser Trend nicht aufhalten.

I. Reimann [AGMB-Vorsitzende seit 2015]: Einer der Höhepunkte waren definitiv die Umfrage und die Plenumsdiskussion zur Zukunft der AGMB 2019. Positiv hat mich das sehr große Interesse unserer Mitglieder überrascht, die sich nicht nur zahlreich an der Umfrage, sondern auch aktiv an der Plenumsdiskussion in Göttingen beteiligten. Auch als aktive Gestalterin ist aber letztendlich jede Tagung ein Höhepunkt. Die produktive und kollegiale Zusammenarbeit mit den jeweiligen Ortskomitees, die Erleichterung, die nach den ersten Minuten nach der Eröffnung der Tagung einsetzt, weil wieder einmal alles mehr oder weniger reibungslos funktioniert, sind Facetten, auf die man gern zurückblickt. Die schönsten Erinnerungen habe ich dabei an die Tagung an der Veterinärmedizinischen Universität Wien 2017. Zwar verpasste ich die Tram-Fahrt am Sonntag, dafür fand sich aber am Montag die Zeit, dass der Vorstand auch mal an der Führung über den Campus teilnehmen konnte. Der Festvortrag zur „Ethik in Versuchslabor, Stall und Wohnung“ warf Fragen auf, die mich noch lange danach beschäftigten und schließlich war auch die Zusammenarbeit mit dem hiesigen Ortskomitee derart angenehm, dass ich daran immer noch gern zurückdenke.

Schade finde ich immer wieder, dass zwar das Interesse unserer Mitglieder an der Tagung sehr hoch ist, aber letztendlich aktiv sich nur die üblichen Verdächtigen und einige wenige Neulinge beteiligen. Hier würde ich mir ein größeres Engagement aller Mitglieder wünschen. Persönlich enttäuscht hat mich eine singuläre Antwort in der Evaluation der Tagung 2019 in Göttingen auf die Frage, was diesmal nicht so gut gefallen hat, in der die wenig professionell wirkende Bekleidung und die persönliche Haltung des Vorstandes genannt wurde. Wenn man bedenkt, dass der Vorstand seine Aufgaben ehrenamtlich und zwar neben der eigentlichen Tätigkeit ausübt, stellt sich unweigerlich die Frage, was man mit solch einer Bemerkung bezwecken wollte.

3 Veränderungen in Medizinbibliotheken

B. Bauer: Wenn man die Publikationsorgane der AGMB der letzten fünf Jahrzehnte durchblättert, zeigt sich sehr eindrucksvoll, dass Medizinbibliotheken stets als Pioniere bei der Implementierung von Innovationen an Bibliotheken hervorgetan haben. Wie haben Sie die Veränderungen an Ihrer Bibliothek während ihrer bisherigen beruflichen Laufbahn erlebt?

U. Korwitz [AGMB-Vorsitzender 1998–2003]: Es gab massive technologische Entwicklungen: von Literatur- und Faktenrecherchen durch Fachpersonal in den medizinischen Bibliotheken zu CD-ROM-basierten Recherchesystemen für Nutzerinnen und Nutzer und dem Übergang zu Recherchen im Internet. Dazu ab Ende der achtziger Jahre die Bereitstellung von Volltexten (Zeitschriftenaufsätzen) durch Zentralsysteme bei ZB MED wie Adonis und über das DIMDI im Pay-per-view sowie das Aufkommen der Open-Access-Bewegung mit der Schaffung eines Publikationsservices für wissenschaftlichen Zeitschriften und Kongressberichte durch die ZB MED. Nicht zu vergessen die Entwicklung der linguistikbasierten Rechercheportale MEDPILOT und GREENPILOT, später zusammengefügt zu LIVIVO. Dazu kamen aber auch betriebswirtschaftliche Aspekte wie die fortlaufende Strategieentwicklung und die Notwendigkeit einer optimierten Organisations- und Personalentwicklung.

D. Boeckh [AGMB-Vorsitzende 2003–2007]: Tatsächlich überblicke ich einen längeren Zeitraum der jüngeren Bibliotheksgeschichte, weil ich schon seit 1978 in Medizinbibliotheken gearbeitet habe.

Rückblickend hatte ich durch die Entwicklungen der letzten 25 Jahre das Glück, nacheinander in zwei völlig verschiedenen Berufswelten zu arbeiten, ohne den Beruf zu wechseln und den ebenso rasanten wie spannenden Wandel einer traditionell arbeitenden Bibliothek in eine High-Tech-Institution mitzuerleben.

Wir Älteren fanden uns plötzlich Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre aus der eben noch geführten Diskussion, ob die Bibliothek tatsächlich eine elektrische Schreibmaschine mit Kugelkopf braucht, in die Situation katapultiert, Anträge auf EDV-Ausstattung mit Hard- und Software zu stellen. Dass die IT-Kenntnisse der Bibliothekare meiner Generation sich zu dieser Zeit im Wesentlichen in dem Wissen erschöpften, dass Computer mit Einsen und Nullen arbeiten, kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Gegenstand der EDV-Vorlesungen der End-1970er-Jahre für künftige Bibliothekare waren Großrechnerverbünde wie das Ohio College Library Center. Von PCs, Software, Datenbanken war nicht die Rede. Von eigenen Webseiten für Bibliotheken, Social Media-Kanälen, QR-Codes, E-Journals, ... gab es noch nicht einmal annähernd eine Idee.

Der erste PC mit einem externen CD-ROM-Laufwerk, auf dem die MEDLINE-CDs gelesen werden konnten, war in unserer Mannheimer Medizinbibliothek 1990 eine Sensation – und der „Renner“ (gesponsert von der Abteilung für Medizinische Statistik und einem Arzt, nicht etwa von der Verwaltung beschafft).

Erst ab 1996 hatten wir einen Internet-Anschluss – und damit den Kontakt zur großen weiten Welt mit E-Mail, Datenbanken, kollegialen Diskussionslisten etc. Wenig später wurde die Bibliothek in das neu aufgebaute Fakultätsnetz eingeklinkt und sofort entstanden Ansprüche auf elektronische Dokumentlieferung (die wir alsbald zusammen mit der UB entwickelten), Zugriff auf die ersten E-Journals (anfänglich präsentierten wir lizenzierte Titel noch in Listenform), Zugriff auf Literaturdatenbanken mit Zugriff auf Volltexte (Pubmed wurde „erfunden“), ...

Ab 1998 waren die technische und die Software-Entwicklung so rasant, dass wir praktisch nur noch reagierten – nicht nur, um selbst irgendwie Schritt zu halten und unseren Nutzern adäquate Services bieten zu können, die sich nicht mit dem Buch im Regal oder aus der Fernleihe erschöpften, sondern auch im täglichen Kampf um die Zuweisung neuer, dringend benötigter Mittel für Hard- und Software. In dieser Zeit kam ich von der AGMB-Tagung jedes Jahr mit jeder Menge „Hausaufgaben“ zurück, weil einige Kollegen immer schon viel weiter waren mit ihrem Online-Service-Angebot.

Während wir Anfang der 1990er Jahre zögerlich mit der (zunächst) Offline-Katalogisierung für den Südwestverbund begannen, ahnte noch niemand, mit welchen Instrumenten wir heute arbeiten und dass wir in nicht allzu ferner Zeit unsere mühsam aufgebauten, umfangreichen Zeitschriften-Printbestände weitgehend vernichten würden, weil gigantische elektronische Archive existieren.

Wer’s nicht miterlebt hat, kann es sich nicht vorstellen. Für die Digital Natives unter den Kolleg*innen erzähle ich schon lange Märchen aus 1001er Nacht ...

Es galt, unendlich viel in allerkürzester Zeit zu lernen, um alte und neue Inhalte adäquat für die beziehungsweise mit den neuen (Software-)technischen Möglichkeiten aufbereiten und zur Verfügung stellen zu können.

Allein die Vorstellung, dass unsere kostbaren, regelkonformen Katalogisate „irgendwo“ in digitaler Form aufbereitet und aufbewahrt werden sollten, statt physisch im analogen heimischen Zettelkatalog, erforderte eine gewaltige geistige Flexibilität. „Sie haben dann keine Katalogschränke mehr bei sich stehen“ – diese Aussage zu einem Zeitpunkt, zu dem eben noch nicht auf jedem Schreibtisch ein (vernetzter) PC stand, war ebenso verwirrend wie revolutionär und – nach einer Weile, als das Verständnis und damit das Vertrauen in fremde Server wuchs – verheißungsvoll.

Die fehlende physische Präsenz galt alsbald für viele Medien; aus analog wurde digital, aus physisch vorhanden wurde virtuell verfügbar – für Bibliotheken, die ihre Geschäftsgänge seit Ur-Zeiten kaum verändert hatten, geradezu ein Quantensprung auf allen Ebenen.

Die beteiligten Bibliotheksmitarbeiter wurden dabei „mitgerissen“ – alles anders, alles neu, alles beängstigend schnell. Und wer am Anfang noch hoffte, das Tempo der Entwicklung der „neuen Medien“ würde sich irgendwann (bald) wieder verlangsamen und beherrschbar werden, weiß heute, dass es mitnichten langsamer geht oder gar anhält. Das Gegenteil ist der Fall.

Heute agieren wir ganz selbstverständlich in unseren High-Tech-Bibliotheken als wäre nichts gewesen – als versierte Informationsmanager, die dem WWW wohlgeordnete Informationen entnehmen bzw. sie dort zur Verfügung stellen, die Technik (mehr oder manchmal auch weniger) beherrschen, souverän mit Datenbanken jonglieren, sich an immer neue Versionen unterschiedlichster Software wagen.

Eins machen wir aber immer noch: Wir suchen und finden Information, bereiten sie auf, machen sie nutzbar und stellen sie unseren Nutzern zur Verfügung – wenn auch auf völlig anderen Wegen als anno dazumal. Und wir versuchen immer noch, ordnend in das große Ganze einzugreifen, eines der ureigensten Ziele von Bibliotheken.

Die Mannheimer Medizin-Bibliothek, in der ich seit 1985 gearbeitet habe, ist rückblickend – wie alle anderen Bibliotheken – in einer relativ kurzen Zeitspanne aus dem traditionellen analogen Bibliotheksbetrieb mit zigtausenden von Büchern und Zeitschriftenbänden in die digitale Moderne mit Hunderttausenden elektronischen Dokumenten gesprungen – „schnell, weit, hoch“. Erfolgreich!

Sie ist heute schlank im Print-Bestand, bestens ausgestattet mit Hard- und Software, vollvernetzt im technischen und inhaltlichen Sinne, mit vollumfänglichem Service für ihre Nutzer.

Der Weg war oft holprig, immer rasant – und er ist noch nicht zu Ende.

D. Klein [AGMB-Vorsitzende 2007–2011]: Als größte Veränderungen fallen mir spontan die Ablösung der Print-Zeitschriften durch die E-Journals, die Entwicklungen bei den E-Books und die aktuellen Entwicklungen bei Open Access ein.

Noch als Doktorandin in der Biologie hatte ich die ersten elektronischen Zeitschriftenartikel gesehen und bestaunt. Was uns damals exotisch vorkam, wurde im Laufe meiner Zeit im Bibliothekswesen gerade im Bereich der Medizin sehr schnell zum Standard. Der Umstieg auf e-only Versionen erfolgte bei uns vor Ort in der Medizin schon sehr früh, während damals in manch anderen Fächern noch eindeutig die Printversion bevorzugt wurde, zumindest auf Nutzerseite. Auch die Entscheidung, die Zeitschriftenbände in das Magazin umzustellen oder zu entsorgen, wurde in den medizinischen Bibliotheken hier vor Ort sehr viel früher getroffen als in vielen anderen Fächern.

Bei den E-Books ist dieser Wandel von der Print- zur Online-Version, anders als bei den E-Journals, bei weitem nicht so schnell und längst nicht so umfassend verlaufen. Auch bei den E-Books war das Angebot im Fach Medizin in unserer Bibliothek schon früh gut nachgefragt. Dennoch werden die Printversionen nach wie vor sehr gut genutzt, auch wenn die Nutzung in den letzten Jahren leicht abgenommen hat. Und es werden nicht nur die Printversionen gut genutzt, für die wir mangels Angebot oder wegen zu hoher Preise keine Campuslizenz bieten können, sondern auch die Printversionen, die wir parallel online anbieten.

Während im Bereich der E-Journals in der Medizin bei uns die größten Veränderungen im Zeitraum von 2000 bis 2010 abliefen, waren im Bereich Open Access die größten Veränderungen in den letzten 10 Jahren zu verzeichnen. Auch hier war und ist das Fach Medizin bei uns vor Ort immer in der ersten Reihe dabei. Die Bibliothek hat hier vor Ort inzwischen erfolgreich eine neue Aufgabe als Manager von Open-Access-Dienstleistungen innerhalb der Universität übernommen. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schätzen diese Serviceleistungen und für einige von ihnen ist dies inzwischen der einzige direkte Kontakt, den sie zur Bibliothek haben.

Eine weitere große Veränderung im Laufe meines Berufslebens betrifft die Situation bei den Fachdatenbanken. Der Wechsel von den CD-ROM-Versionen zu den Internetversionen liegt inzwischen schon sehr viele Jahre zurück, so dass uns der direkte Zugang zu Pubmed und anderen Fachdatenbanken völlig selbstverständlich erscheint. Uns als Bibliothekarinnen und Bibliothekaren in der Medizin ist meiner Meinung nach aber oft nicht bewusst, dass viele andere Fächer auch heute noch keine Fachdatenbanken zur Verfügung haben, die in der Qualität und Aktualität mit Medline etc. mithalten können und wie im Fall von Medline noch dazu über Pubmed frei verfügbar sind. Ich bin gespannt, wie lange sich diese Datenbanken noch gegenüber Suchmaschinen behaupten können.

I. Reimann [AGMB-Vorsitzende seit 2015]: Veränderungen sind sehr stark von Menschen abhängig, die sie anstoßen und mithelfen, sie zu realisieren und gegen Widerstände voranzutreiben. In den letzten Jahren hatte ich die Chance, mit einer Kollegin zusammenzuarbeiten, die anders als ihre Vorgängerinnen sehr vorwärtsgerichtet denkt, sich nicht nur auf das Tagesgeschäft beschränkt, sondern aktiv überlegt, wie sie mit mir gemeinsam unsere Bibliothek noch näher an die Nutzer*innen bringen kann. Die prämierten Projekte des Wettbewerbes „Leuchtturmprojekte an Medizinbibliotheken“ geben dafür eine wertvolle Orientierung. Widerstände galt und gilt es immer zu überwinden; dass Beharrlichkeit und vor allem auch Begeisterung für das, was man entwickeln möchte, hier sehr hilfreich und überzeugend sein können, waren schöne Erfahrungen, die ich in den letzten Jahren machen durfte.

4 Zukunft von Medizinbibliotheken

B. Bauer: Wie werden „Medizinbibliotheken“ in Zukunft aussehen? Werden sie aufgrund technologischer Entwicklungen überflüssig oder werden sie neue Aufgaben übernehmen?

U. Korwitz [AGMB-Vorsitzender 1998–2003]: Solange die medizinischen Bibliotheken immer ihre Nutzerinnen und Nutzer im Fokus behalten, mache ich mir keine Sorgen über die Zukunftsfähigkeit medizinischer Bibliotheken. Sie sorgen für optimale Zugänglichkeit zu Literatur- und Fakteninformation, auch durch Lizenzverhandlungen, für die Langfristspeicherung von Forschungsdaten, für die Publikation im Open-Access bzw. Beratung dazu und immer weiter für die Schulung junger Ärztinnen und Ärzte in Fragen der Informationskompetenz. Dazu kommt die Bereitstellung von Arbeitsplätzen, ein Faktor, dessen Bedeutung sich gerade in der jetzigen pandemiegeprägten Zeit zeigt.

D. Boeckh [AGMB-Vorsitzende 2003–2007]: Ich erinnere mich an einen Vortrag 1993 in Essen. Ulrich Korwitz ließ uns damals eintauchen in eine virtuelle Welt, in der Bibliotheksnutzer mit einer Art „Datenhelm“ durch die Räume und Regale wandeln und ihre Literatur auf Knopfdruck auf den helminternen Bildschirm projiziert bekommen – so jedenfalls in meiner Erinnerung.

Heute ist dies keine visionäre Sicht mehr. Die technischen Möglichkeiten existieren.

Medizinbibliotheken „wandeln“ sich nun schon seit den 1990er Jahren stetig. Nach der besagten Vision 1993 wurde dies noch deutlicher sichtbar auf der AGMB-Tagung 1994 in Heidelberg durch Oliver Obsts Vortrag, der nach meiner Erinnerung mit „In 8 Sekunden um die Welt“ betitelt war und die – seinerzeit noch wenig bis gar nicht mit dem Internet vertraute – Zuhörerschaft leicht schwindlig zurückließ.

Ein Jahr später hatten die meisten von uns einen PC auf dem Schreibtisch, kurze Zeit später auch einen Internetzugang.

Ob die Bibliothek als Ort überflüssig wird, lässt sich nicht vorhersagen. Reale Lernorte – ein Diskussionsthema über viele Jahre – scheinen momentan sehr begehrt, was für das physische Vorhandensein spricht.

Ob (Medizin-)Bibliotheken überhaupt noch notwendig sind, wurde schon früher gefragt. Nicht erst seit es das Internet gibt, in dem für die unbedarfte Öffentlichkeit vermeintlich alle Inhalte frei zur Verfügung stehen, taucht dieses Thema mit schöner Regelmäßigkeit immer und immer wieder auf.

Irgendwo muss es tatsächlich auch noch gedruckte Werke geben – okay, das kann auch ein Speicher sein. Alles virtuell? Möglich, aber nicht in Selbstbedienung – das hat der coronabedingte Lockdown uns dieses Jahr deutlich vor Augen geführt.

Beratung durch Menschen, die sich mit dem Internet, der Literatursuche, Datenbanken und noch so manch anderem auskennen, war gefragt. E-Mail und Beratungs-Telefon wurden als Service der Bibliothek aus dem Home-Office gerne – und in dieser besonderen Situation tatsächlich mit dankbarem Feedback! – in Anspruch genommen. Und auch das (Lehr-)Buch als physisches Buch schien den Nutzern unverzichtbar; der Zugang zum gedruckten Buch wurde nachdrücklich eingefordert – E-Books wurden oft nur als Notlösung bei geschlossener Bibliothek akzeptiert.

Also ja: Auch in der Zukunft gibt es erstmal noch Bibliotheken als (kleine?) physische Orte – mit minimalem physischen Bestand, viel Elektronik, viel Beratung sprich: mit Menschen, die sich auskennen und die man fragen kann.

„Alexa“ ist (noch) nicht die Lösung …

Neue Aufgaben: immer! Immer mehr, immer neu, immer weiter. Wie war das Motto eines Bibliothekartages vor Jahren? „Nur was sich ändert, bleibt“. Das haben sich nicht nur medizinische Bibliotheken auf die Fahnen geschrieben. Wir machen – und schulen – heute schon vieles, was wir uns vor zwanzig Jahren noch nicht als Arbeitsgebiete für Bibliotheken hätten vorstellen können. Man denke nur an Altmetrics, Reference Manager-Tools, Digitalisierungsprojekte, Forschungsdatenmanagement, Bibliometrie, Webarchive, Kataloganreicherung, Publikationswesen, Plagiaterkennung, …

Bibliotheken beziehungsweise ihre Mitarbeiter sind prädestiniert dafür, im stetig wuchernden Informationsdschungel ordnende Strukturen für den Wissenschaftsbetrieb zu schaffen, den Überblick zu behalten, Redundanzen zu erkennen und zur Qualitätssicherung beizutragen. Daraus werden immer wieder neue Arbeitsfelder erwachsen, die sehr gut bei der Institution „Bibliothek“ im heutigen Sinne angesiedelt sein können – auch wenn sie später vielleicht nicht mehr so heißt.

D. Klein [AGMB-Vorsitzende 2007–2011]: Das wüsste ich auch sehr gerne! Wir sehen ja tatsächlich schon Bereiche, in denen viele bisherige Bibliotheken geschlossen wurden, wie z.B. bei Krankenhaus- und Pharmabibliotheken. Ich gehe davon aus, dass sich dieser Trend fortsetzen wird. Dennoch kann ich mir vorstellen, dass es weiterhin Medizinbibliotheken geben wird, wenn auch mit anderen Aufgaben und Schwerpunkten.

Ich bin davon überzeugt, dass in den nächsten Jahren und Jahrzehnten neue Entwicklungen kommen, die wir uns jetzt nicht mit all ihren Konsequenzen vorstellen können. Wenn Sie diese Frage 1970 den Teilnehmern der Gründungsversammlung der AGMB gestellt hätten, hätte wohl keiner unsere Situation heute auch nur annähernd zutreffend vorhergesagt. Wie sehr z.B. das Internet heute sämtliche Tätigkeitsfelder in Medizinbibliotheken prägt, war damals überhaupt nicht absehbar.

Im Moment ist es ja vor allem die Künstliche Intelligenz, die in aller Munde ist. Ich glaube schon, dass diese vielleicht schon in ein paar Jahren viele Aufgaben übernehmen kann, die in den heutigen Bibliotheken noch von Menschen durchgeführt werden. Ich halte es aber für sehr wahrscheinlich, dass es weiterhin Aufgaben geben wird, bei denen wir mit unseren Fähigkeiten als Menschen noch gefragt sind.

Was mir immer mehr Sorgen bereitet, ist die Tatsache, dass wir im Umgang mit elektronischen Medien immer mehr beobachtet werden. Wann immer wir Informationen suchen, lesen, nutzen: Das Nutzerverhalten wird genau registriert und analysiert. Das ist inzwischen auch im wissenschaftlichen Kontext ein wichtiger Faktor, der den großen Konzernen auf dem Wissenschaftsmarkt ganz neue Macht verleiht. Diese Problematik wurden von Bibliotheken bisher bereits vereinzelt thematisiert, aber aus meiner Sicht ist das ein Bereich, in dem wir als Bibliothekarinnen und Bibliothekare zukünftig stärker tätig werden müssen, damit unsere Nutzer auch in Zukunft wissenschaftliche Informationen möglichst frei nutzen können.

I. Reimann [AGMB-Vorsitzende seit 2015]: Ich denke nicht, dass Medizinbibliotheken überflüssig werden. Die Bereitstellung digitaler Inhalte über den eigenen Rechner, hier vor allem auch die Fachjournale, erleben wir ja inzwischen seit fast 30 Jahren. Dennoch kommen die Wissenschaftler*innen und Ärzt*innen weiterhin in die Bibliothek, suchen unseren Rat, fragen unsere Dienstleistungen nach. Jedoch wird sich die Art des Service weiter verändern. An den Medizinbibliotheken in Deutschland erleben wir aktuell eine starke Nachfrage nach systematischen Literaturrecherchen, nicht nur nach der Beratung, sondern es wird explizit gewünscht, dass diese von den Bibliothekar*innen übernommen werden. In anderen Ländern gehört das bereits seit längerem zum Tagesgeschäft. In Deutschland fehlten jedoch bisher an vielen Bibliotheken die personellen Ressourcen und z.T. auch die Zugänge auf wichtige lizenzpflichtige Datenbanken. Hier müssen wir aufpassen, dass wir uns nicht selbst ausbremsen und bei unseren Trägereinrichtungen Ressourcen entsprechend einfordern und begründen.

Ein wichtiges Angebot meiner Bibliothek sind auch immer noch die Fernleihbestellungen. Wir werden sehen, welche Auswirkungen die Verhandlungen rund um DEAL langfristig nach sich ziehen werden. Solange der Anteil an reinen und benötigten Subskriptionszeitschriften überwiegt, wird auch die Nachfrage nach nicht vorhandenen Zeitschriften gegeben sein, zumal in den medizinischen Fakultäten die Heterogenität extrem ausgeprägt ist, so dass gerade kleineren Fächern nicht adäquat die Zeitschriften zugänglich sind, die sie benötigen. Hier zeigt sich im Alltag immer wieder, welche wichtige Rolle bei der Beschaffung die Expertise der Bibliothekar*innen immer noch spielt.

Letztendlich beweisen aber gerade die Medizinbibliotheken im Alltag, wie sie sich nicht erst seit heute, oft auch in einem kaum merklichen, dynamischen Prozess, an die veränderten Anforderungen anpassen können. Dem Netzwerk AGMB kommt dabei eine sehr große Bedeutung zu. Daher blicke ich zuversichtlich in die Zukunft der Medizinbibliotheken.

5 AGMB in 50 Jahren

B. Bauer: Wird es die AGMB in 50 Jahren noch geben? Wie muss sie sich weiterentwickeln, damit sie für zukünftige Generationen von Medizinbibliothekarinnen und -bibliothekaren weiterhin eine wichtige Rolle spielen kann?

U. Korwitz [AGMB-Vorsitzender 1998–2003]: Erfahrungsaustausche, auch in Form von Gesprächen bei Coffee Breaks und Social Events, werden immer notwendig sein. Insoweit glaube ich deshalb schon an die Zukunft der AGMB. Social Media vermögen das nicht zu ersetzen. Und dies immer in Hinblick auf die Weiterentwicklung von Services für unsere Zielgruppen. Nicht umsonst lautet das Motto unserer großen Schwester, der US Medical Library Association: „We serve!“

D. Boeckh [AGMB-Vorsitzende 2003–2007]: Die AGMB wird es in dieser Form nur dann geben, wenn es noch Medizinbibliotheken gibt. Sie wird auf jeden Fall anders agieren, vielleicht anders heißen, anders sein …

Sie wurde ursprünglich schon mit dem Ziel gegründet, einem sehr speziellen Kreis von Fachpersonal ein Forum zum Austausch, zum Teilen von Wissen, zum wertfreien Feedback, zur Lösungsfindung zu geben. Unser „Aus der Praxis für die Praxis“ war immer sehr nützlich für die tägliche Arbeit. Das wird auch weiterhin funktionieren.

Wir alle lernen gerade neu, was es heißt, sich nicht mehr persönlich, sondern virtuell zu begegnen. Vielleicht ist das die Zukunft? Vielleicht aber auch nur eine Übergangsform.

Solange Menschen nötig sind, um Maschinen zum Arbeiten zu bringen und Informationen weltweit zu bündeln, auszuwerten, neu zu verteilen, zur Verfügung zu stellen, solange braucht es (ähnliche) Spezialisten, wie Bibliothekare sich heute verstehen.

Und so lange macht es auch Sinn, dass diese Spezialisten sich untereinander intensiv austauschen, gemeinsam neue Ideen entwickeln, aus Fehlern anderer lernen, …

Nachdem wir jetzt seit knapp 25 Jahren im Computerzeitalter bzw. Neue-Medien-Zeitalter sind, ahnen wir, dass eine Vorhersage über 50 Jahre unmöglich ist. Aus heutiger Sicht mit dem Blick auf mögliche elektronische Entwicklungen sind 50 Jahre ein unvorstellbar langer Zeitraum.

Wissen wir doch im Rückblick, wie schnell und unaufhaltsam diese Entwicklungen fortschreiten, seit wir Zugriff auf das Internet haben – und dass es lange gedauert hat, bis wir uns vom bloßen Reagieren auf die Aktionsebene gekämpft hatten, um heute – auch und gerade durch das kollegiale Zusammenwirken z.B. in der AGMB – zu den Gestaltern zu gehören.

Wenn die Entwicklung der modernen Medien mitsamt der Globalisierung auch der Informationslandschaft so rasant bleibt, was anzunehmen ist, werden wir als Gleichgesinnte bzw. Gleich-Betroffene gut daran tun, vernetzt zu bleiben – als Verein (gewisse Rechtsformen wird man auch künftig bedienen müssen, vor allem, wenn man Geld bewegen will), als Think Tank, auf Meta-Portalen, bei (virtuellen) Treffen – und eventuell wird das Ganze, weil es keine bessere Beschreibung gibt, auch in 50 Jahren noch AGMB heißen.

D. Klein [AGMB-Vorsitzende 2007–2011]: Das hängt natürlich davon ab, ob es noch Medizinbibliotheken gibt. Wenn ja, dann sehe ich auch noch Bedarf für die AGMB. Das medizinische Bibliothekswesen stellt innerhalb des Bibliothekswesens zum einen eine vergleichsweise große Sparte dar und hat zum anderen auch viele Besonderheiten, die in den anderen Fächer so nicht existieren. Deshalb denke ich, dass es auch zukünftig gute Gründe gibt, nicht in anderen bibliothekarischen Verbänden aufzugehen oder zumindest eine eigene Sektion innerhalb eines anderen Verbandes zu bilden. Ich denke aber, dass die AGMB sich zukünftig mehr als bisher auch international orientieren muss und wird.

I. Reimann [AGMB-Vorsitzende seit 2015]: Da würde ich gern in die Zukunft schauen können, denn diese Frage interessiert mich aktuell sehr. Dem hohen Interesse unserer Mitglieder an der AGMB und vor allem an der Jahrestagung stehen die Schwierigkeiten gegenüber, Ausrichter für eine Tagung vor Ort zu finden bzw. Kandidat*innen für den Vorstand. Beide Aufgaben müssen schließlich neben den eigentlichen Tätigkeiten geleistet werden und sind hinsichtlich Work-Life-Balance nicht zu unterschätzen.

Die Umfrage im letzten Jahr über die Zukunft der AGMB stimmt recht optimistisch. Vielen ist der kollegiale Austausch am wichtigsten, die fachliche Weiterbildung aber auch der enge Kontakt zu den Ausstellern während der Tagung wurden genannt. Wenn wir es hier schaffen, geeignete Alternativen zu finden, so eine Vor-Ort-Tagung in einem Jahr nicht möglich ist, dann sollte das die AGMB auch in Zukunft leisten können. Wertvolle Erfahrungen konnten wir in diesem Punkt bereits in diesem Jahr mit unserer Online-Tagung gewinnen. Kritische Stimmen über die Zukunft der AGMB bezogen sich hauptsächlich auf die bisher wenig unterstützte Systematische Literaturrecherche und die damit verbundene Evidenzbasierte Medizin. Durch die Gründung der AG Evidenzbasierte Medizin als Teil der AGMB konnten wir diesen Kritikpunkt aber inzwischen erfolgreich aufgreifen. Das damit wieder gestiegene Interesse einzelner Mitglieder konnte man gut an deren Teilnahme an der diesjährigen Tagung feststellen.

Wichtig ist, als Verein nicht nur den Status Quo aufrechtzuerhalten und vor allem im Kontakt mit den Mitgliedern zu bleiben. Solange deren Wünsche sich in der Vereinsarbeit widerspiegeln, könnte es die AGMB auch noch in 50 Jahren geben.


Anmerkung

Die Idee für diesen Beitrag stammt von Bruno Bauer, der auch die Interviews mit den Vorsitzenden der AGMB initiierte und durchführte. Der Artikel wurde von Helmut Dollfuß fertiggestellt, nachdem Herr Bauer am 1. Dezember verstarb.

Mit Herrn Eike Hentschel, AGMB-Vorsitzender 2011–2015, konnte aus Termingründen leider kein Interview geführt werden.


Literatur

1.
AGMB. Stellungnahmen. Verlautbarungen der AGMB. Verfügbar unter: https://agmb.de/de_DE/stellungnahmen-akkordeon External link
2.
Brennicke A. Der Schwund übernimmt die Bibliotheken: Ansichten eines Profs: Uni-Schmarotzer, Teil 4. Laborjournal. 2003;12:24-5.
3.
Boeckh D, Obst O. Ansichten medizinischer Bibliotheken: Entgegnung auf „Der Schwund übernimmt die Bibliotheken" von Axel Brennicke. Laborjournal. 2004;11(1-2):40-1. Verfügbar unter: https://www.laborjournal.de/rubric/ansicht/ansicht/brenn_03_12.pdf External link
4.
Bauer B. medizin - bibliothek - information: „Alles bleibt besser!" [Editorial]. GMS Med Bibl Inf. 2005;5(3):Doc10. Verfügbar unter: http://www.egms.de/de/journals/mbi/2005-5/mbi000010.shtml External link
5.
Boeckh D. Peter Stadler zum Gedächtnis. medizin - bibliothek – information. 2004;4(2):7. Verfügbar unter: https://media02.culturebase.org/data/docs-agmb/mbi-2004-2.pdf External link