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GMS Medizin — Bibliothek — Information.

Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen (AGMB)

ISSN 1865-066X

Auf dem Weg zum ersten Postgraduierten-Kurs für Medical & Health Librarianship

Towards the first postgraduate course in Medical & Health Librarianship

Case Report Evidenzbasierte Medizin und Systematic Review

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  • corresponding author Gerhard Bissels - Schweizer Institut für Informationswissenschaft, Fachhochschule Graubünden, Chur, Schweiz
  • Irma Klerings - Department für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation, Donau-Universität Krems, Krems, Österreich

GMS Med Bibl Inf 2020;20(1-2):Doc11

doi: 10.3205/mbi000468, urn:nbn:de:0183-mbi0004683

Published: September 1, 2020

© 2020 Bissels et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 License. See license information at http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Nach jahrelanger breiter Diskussion unter medizinischen Bibliothekaren hat das Schweizer Institut für Informationswissenschaft an der Fachhochschule Graubünden sich entschlossen, ein Postgraduierten-Programm „Medical & Health Librarianship“ als englischsprachigen Fernstudiengang in modularer Struktur aufzubauen.

Schlüsselwörter: postgraduales Studium, medizinisches Bibliothekswesen

Abstract

After broad debate within the medical librarian community over the last five years, the University of Applied Sciences of the Grisons (Chur, Switzerland) is preparing the launch of a modular, English-language, distance-learning postgraduate programme of “Medical & Health Librarianship”.

Keywords: postgraduate education, medical information specialists


Die wachsende Bedeutung medizinischer Informationsspezialisten

Jahr für Jahr werden mehr systematic reviews publiziert, wie man mit einer simplen Medline-Suche leicht selbst feststellen kann. Der Beitrag der information specialists zu einem systematic review wird mittlerweile oft durch Ko-Autorenschaft anerkannt [1], [2], und die Methodik wird ständig komplexer, wie ein Vergleich der verschiedenen Auflagen des Suchmethodik-Kapitels des Cochrane Handbook zeigt [3].

Neben den systematic reviews hat sich zudem eine wachsende Zahl anderer Arten von Evidenzsynthesen etabliert. Nannten Grant und Booth 2009 noch 14 unterschiedliche Typen [4], so führte Booth 2016 schon deren 49 auf [5], die für die unterschiedlichsten Zwecke gefordert werden. Daneben hat sich in den angelsächsischen Ländern noch eine ganz andere Art von Evidenzsynthesen etabliert: „Clinical librarians“ versorgen klinische Teams für Entscheidungen des Klinikalltags mit der bestmöglichen Evidenz innert der gegebenen Zeit – im Extremfall sogar im Verlauf einer Operation.

Während im angelsächsischen Sprachraum, in Skandinavien, und auch in Spanien und Italien Bibliotheken seit den 90er Jahren auf die wachsenden Anforderungen der evidence-based medicine mit dem stetigen Aufbau von Kompetenzen und dem Ausbau ihres Dienstleistungsangebots zur Evidenzsynthese reagiert und zum Teil grosse Teams von information specialists aufgebaut haben, hinkt der deutsche Sprachraum dieser Entwicklung weit hinterher. Immerhin, in der Schweiz haben alle Bibliotheken medizinischer Fakultäten in den letzten fünf Jahren ihre Angebote in diesem Bereich ausgebaut und z.T. in nennenswertem Umfang Stellen geschaffen. Allerdings fehlen Bibliothekarinnen und Bibliothekare mit entsprechenden Fachkenntnissen im deutschen Sprachraum, so dass man, um die nötige Expertise ins Haus holen zu können, eben international rekrutiert und nötigenfalls auf Deutschkenntnisse verzichtet.


Bedarf an einem fachspezifischen Ausbildungsgang

Aber auch im englischen Sprachraum wird der Ausbau EBM-relevanter Bibliotheksangebote bei der Durchführung systematischer Recherchen, bei der Beratung von Studierenden, Promovierenden und anderen Forschenden und im klinischen Bereich durch das Fehlen eines passenden Ausbildungsgangs behindert. In den englischsprachigen Ländern führt ja nur ein einziger Weg zu einem Bibliotheksberuf: BA oder BSc in irgendeinem Fach, danach ein einjähriges Praktikum in einer Bibliothek, und dann ein einjähriger MA oder MSc in Library & Information Science oder einem verwandten Fach (wobei der Master auch in Teilzeit über zwei Jahre neben einer Bibliotheksanstellung absolviert werden kann). Lehre und BSc in Information Science gibt es dort nicht. Aber egal ob im angelsächsischen System oder dem der deutschsprachigen Länder – nach wie vor absolvieren Bibliothekare einen Masterstudiengang, in dem ihnen ein breites Spektrum bibliothekarischen Wissens vermittelt und wird und nach wie vor die Entwicklung und Erschliessung eines Bestandes im Mittelpunkt steht.

Medical information specialists, die Forschung, Lehre und/oder klinische Praxis unterstützen, haben aber meist nichts mit Bestandesentwicklung oder Erschliessung zu tun. Stattdessen brauchen sie Kenntnisse in systematischer Literaturrecherche und ein Verständnis medizinischer Grundlagen. Dieses Fachwissen wird bisher an grösseren medizinischen Bibliotheken, wie etwa der zum University College London gehörenden Royal Free Hospital Medical Library, innerhalb des Teams an neue Mitarbeitende weitervermittelt [6]. Wer seine Laufbahn im medizinischen Feld nicht an einer solchen Bibliothek mit eigenem Induktionsprogramm und anschliessendem Mentoring Programm beginnt, hat es schwer, sich das nötige Fachwissen anzueignen. Das Angebot an Kursen beschränkt sich auf ein- oder mehrtägige Einführungskurse, etwa an nationalen Cochrane-Zentren, sowie vertiefende Kurse zu einzelnen Aspekten; hier ist das York Health Economics Consortium (YHEC) in Europa der wichtigste Anbieter [7]. Ein universitäres Aus- oder Weiterbildungsangebot – sei es als Wahlmodul innerhalb eines der bestehenden bibliothekswissenschaftlichen Programme, ein Weiterbildungsangebot (CAS), oder gar ein eigenständiger Postgraduierten-Kurs – fehlt bisher, zumindest in Europa.

Die jährliche Tagung der Schweizer Medizinbibliothekare in Bern (16.09.2016) [8] nahm das Thema fachspezifische Ausbildung mit einer Reihe von Vorträgen und anschliessender Podiumsdiskussion auf. Es folgte eine internationale Expertenrunde, ebenfalls in Bern (17.–19.5.2017). Danach war klar, dass Bedarf an einem Postgraduierten-Programm besteht und dass ein solches Programm nur als englischsprachiger Fernstudiengang für ein internationales Publikum angeboten werden kann.


Die Entwicklung eines Postgraduierten-Kurses für medizinische Informationsspezialisten

Obwohl anfänglich ZB MED und TH Köln gemeinsam mit der damaligen HTW Chur die Führung bei der Entwicklung eines solchen Programms übernehmen wollten (Dietrich Nelle, der Interimsdirektor von ZB MED, nahm an der Berner Runde teil), war es seit 2019 die HTW Chur und jetzige FH Graubünden allein, die die Entwicklung eines Kurses vorantrieb. Wobei „allein” nur auf die organisatorische Seite zutrifft; inhaltlich war die Anteilnahme und Unterstützung der Fachkolleg(inn)en aus aller Welt von Anfang an überwältigend. Schon vor der Berner Podiumsdiskussion hatten ca. 50 Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt ihre Vorstellungen und Anforderungen an einen Kurs auf einem virtuellen Pinboard festgehalten [9]. Die nächste Phase der Diskussion wurde in einem Themenheft des Journal of EAHIL dokumentiert [10]. Eine Online-Umfrage der HTW Chur, finanziert von der Biomed-Bibliothekskommission der Schweizer Akademie der Medizinischen Wissenschaften, unterstützte diese Sammlung von Ideen mit breit erhobenen Daten [11].

Die FH Graubünden erarbeitet daher derzeit ein modular aufgebautes Postgraduierten-Programm in „Medical & Health Librarianship“. Die Inhalte werden von einschlägigen Fachleuten aus aller Welt beigesteuert und online auf Englisch angeboten. Das Programm wendet sich an Absolventen sowohl von informationswissenschaftlichen wie medizinischen oder naturwissenschaftlichen Studiengängen, aber auch an Medizinbibliothekare, die ihr Wissen in einzelnen Bereichen vertiefen wollen. Das erste Modul, in Systematischer Literaturrecherche, soll 2020 lanciert werden.


Konzept des ersten CAS-Moduls: Systematic Searching

Kursinhalt – 1. Modul: Systematische Literaturrecherche (15 ECTS)

Die Systematische Literaturrecherche ist eine methodische Basis für die Erstellung von Evidenzsynthesen. Sie bezeichnet einen mehrteiligen Informationsbeschaffungsprozess, dessen Ziel es üblicherweise ist, möglichst die gesamte Evidenz zu finden, die zu einer bestimmten Fragestellung verfügbar ist.

Information specialists, die solche Recherchen durchführen, brauchen daher eine Bandbreite an Kenntnissen, die von der klassischen Suchstrategie in einer Referenzdatenbank bis hin zu Wissen über Studiendesigns und den Aufbau von systematic reviews reichen. Ziel dieses Moduls ist es, den Studierenden dieses Wissen in Lehrveranstaltungen zu vermitteln, die den gesamten Prozess der Systematischen Literaturrecherche abdecken: Planung des Suchprozesses, Auswahl passender Informationsquellen und Suchmethoden, Durchführung einer systematischen Datenbanksuche, Verwendung von verschiedenen komplementären Suchmethoden, kritische Bewertung von Suchstrategien, Dokumentation von Suchen und ihre Beschreibung in wissenschaftlichen Arbeiten.

Da es sich bei der Systematischen Literaturrecherche um ein Tätigkeitsfeld handelt, das kontinuierlich im Wandel begriffen ist, liegt der Fokus des Moduls nicht nur auf dem „Handwerkszeug“. Ziel ist es auch, Kenntnisse zu vermitteln, die für die Bewertung und Integration von (neuen) Methoden und Technologien in den systematischen Prozess wichtig sind.


Ausblick auf die nächsten Ausbauschritte

Natürlich ist die systematische Recherche nur ein Teil medizinischer Bibliotheksarbeit. In den nächsten Jahren möchten wir ein Programm aufbauen, das die im „Competencies Framework“ der MLA [12] und den korrespondierenden Dokumenten von CILIP und ALIA HLA aufgeführten Kompetenzen abdeckt, sowie weitere, auf die wir aufmerksam geworden sind, u.a. durch eine informelle Befragung von regionalen Bibliotheksmanagern des NHS, die David Stewart freundlicherweise durchgeführt hat. Derzeitiges Ziel sind die folgenden Inhalte – aber weitere werden sicherlich dazukommen:

  • Systematic Searching
  • Clinical Librarianship
  • Information Management
  • Instruction & Instructional Design
  • Leadership & Management
  • Evidence-Based Practice & Research
  • Health Information Professionalism
  • Knowledge Management
  • Disaster and International Health

Das erste Modul, „Systematic Searching”, wird organisatorisch innerhalb des bestehenden Churer MAS-Programms unterkommen. Chur arbeitet an einer Erweiterung seiner Postgraduierten-Angebote, so dass wir hoffen, recht bald weitere Module lancieren zu können. Wünschenswert wäre im „Endausbau” ein MSc in Medical & Health Librarianship als Alternative zu den generischen bibliothekswissenschaftlichen Master-Studiengängen.

Mit unserem Angebot von medizinbibliothekarischen Studienmodulen wenden wir uns ganz bewusst nicht an eine klar definierte Klientel, sondern stellen uns auf Interessenten mit ganz unterschiedlichem Hintergrund ein – sei es aus dem Bereich Bibliothek, Information und IT, sei es aus der Medizin, den Pflege- oder den Lebenswissenschaften. Auch was die professionellen Rollen angeht, die unsere Absolventen anstreben, werden wir ein breites Spektrum im Blick behalten. Das Churer Studienangebot entspricht damit den Kernforderungen, die der deutsche „Rat für Informationsinfrastrukturen” 2019 in seinem richtungsweisenden Papier „Digitale Kompetenzen – Dringend gesucht!” aufgestellt hat [13]. Die modulare Struktur wird gleichzeitig die Zusammenarbeit mit anderen Anbietern ermöglichen. Wir freuen uns gleichermassen auf den Aufbau unserer eigenen Module wie auf die Zusammenarbeit mit anderen!


Abkürzungen

  • ALIA HLA: Australian Library and Information Association Health Libraries Australia
  • BA: Bachelor of Arts
  • BSc: Bachelor of Science
  • CAS: Certificate of Advanced Studies
  • CILIP: Chartered Institute of Library and Information Professionals
  • EAHIL: European Association for Health Information and Libraries
  • EBM: Evidenzbasierte Medizin
  • ECTS: European Credit Transfer System
  • FH: Fachhochschule
  • HTW: Hochschule für Technik und Wirtschaft
  • MA: Master of Arts
  • MAS: Master of Advanced Studies
  • MLA: Medical Library Association
  • MSc: Master of Science
  • NHS: National Health Service
  • TH: Technische Hochschule
  • YHEC: York Health Economics Consortium
  • ZB MED: Deutsche Zentralbibliothek für Medizin (ZB MED) – Informationszentrum Lebenswissenschaften

Anmerkung

Interessenkonflikte

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

1.
Metzendorf MI. Why medical information specialists should routinely form part of teams producing high quality systematic review: A Cochrane perspective. J Eur Assoc Health Inf Libr. 2016;12(4):6-9. Available from: http://eahil.eu/wp-content/uploads/2016/12/journal-4-2016-ok-web-with-supplementary-material-1.pdf#page=8 External link
2.
Metzendorf MI, Featherstone RM. Ensuring quality as the basis of evidence synthesis: leveraging information specialists' knowledge, skills, and expertise. Cochrane Database Syst Rev. 2018 Sep;4:ED000125. DOI: 10.1002/14651858.ED000125 External link
3.
Higgins JPT, Thomas J, Chandler J, Cumpston M, Li T, Page MJ, Welch VA, editors. Cochrane Handbook for Systematic Reviews of Interventions. Version 6.0. Cochrane; 2019 (updated July 2019]. Available from: https://www.training.cochrane.org/handbook External link
4.
Grant MJ, Booth A. A typology of reviews: an analysis of 14 review types and associated methodologies. Health Info Libr J. 2009 Jun;26(2):91-108. DOI: 10.1111/j.1471-1842.2009.00848.x  External link
5.
Booth A. Fifty Shades of Review [Video]. 2016 Nov 23 [accessed 2020 Mar 23]. Available from: https://www.youtube.com/watch?v=ulwSc7RlxoQ External link
6.
Anagnostelis B. Developing specialist skills: A training and mentoring scheme for new professional staff joining the Royal Free Hospital Medical Library. J Eur Assoc Health Inf Libr. 2016;12(4):20-22. Available from: http://eahil.eu/wp-content/uploads/2016/12/journal-4-2016-ok-web-with-supplementary-material-1.pdf#page=22 External link
7.
York Health Economics Consortium. Training Courses. York: University of York; 2020 [accessed 2020 Mar 23]. Available from: https://yhec.co.uk/training/ External link
8.
Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften. Tagungen «Meet & Greet». Bern: Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften; 2020 [accessed 2020 Mar 23]. Available from: https://www.samw.ch/de/Portraet/Kommissionen/Biomedizinische-Bibliotheken/Tagungen-MeetandGreet.html External link
9.
Education of Medical Librarians - lino. [accessed 2020 Mar 23]. Available from: http://linoit.com/users/Gerhard_from_Bern/canvases/Education%20of%20Medical%20Librarians External link
10.
Bissels G. Education and training for medical librarians. J Eur Assoc Health Inf Libr. 2016;12(4):1-77. Available from: http://ojs.eahil.eu/ojs/index.php/JEAHIL/issue/view/85/12_4 External link
11.
Mumenthaler R. Results of the survey on further education for medical librarians. J Eur Assoc Health Inf Libr. 2017;13(1):4-9. Available from: http://ojs.eahil.eu/ojs/index.php/JEAHIL/issue/view/83/13_1 External link
12.
Medical Library Association. Professional Competencies. Chicago: Medical Library Association; 2020 [accessed 2020 Mar 23]. Available from: https://www.mlanet.org/p/cm/ld/fid=1217 External link
13.
RfII – Rat für Informationsinfrastrukturen. Digitale Kompetenzen – dringend gesucht! Empfehlungen zu Berufs- und Ausbildungsperspektiven für den Arbeitsmarkt Wissenschaft. Göttingen; 2019. URN: urn:nbn:de:101:1-2019080711032249706218 External link