gms | German Medical Science

GMS Medizin — Bibliothek — Information.

Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen (AGMB)

ISSN 1865-066X

Medizinbibliotheken in Deutschland als Unterstützerinnen Evidenzbasierter Medizin: Situation und Entwicklung

Health sciences libraries in Germany as supporters of evidence-based medicine: current situation and new directions

Fachbeitrag Evidenzbasierte Medizin und Systematic Review

  • corresponding author Helge Knüttel - Universitätsbibliothek Regensburg, Universität Regensburg, Deutschland
  • Martina Semmler-Schmetz - Bibliothek der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg, Mannheim, Deutschland
  • Maria-Inti Metzendorf - Cochrane Metabolic and Endocrine Disorders Group, Institut für Allgemeinmedizin, Medizinische Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Deutschland

GMS Med Bibl Inf 2020;20(1-2):Doc07

doi: 10.3205/mbi000464, urn:nbn:de:0183-mbi0004646

Published: September 1, 2020

© 2020 Knüttel et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 License. See license information at http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Dieser Artikel gibt einen Überblick über den Stand deutscher Medizinbibliotheken und ausgewählte Entwicklungen der Serviceleistungen, mit denen diese die Evidenzbasierte Medizin in Forschung, Ausbildung und klinischer Praxis unterstützen. Resultate einer Online-Umfrage und Aspekte des Zugangs zu medizinischer Evidenz werden mit Bezug zum deutschen Gesundheitswesen diskutiert. Ein wesentliches Hindernis für Fortschritt ist eine Trennung zwischen den Institutionen der Gesundheitsversorgung und der Wissenschaft. Neue Bibliotheksdienste, insbesondere auch solche im Feld der Evidenzbasierten Medizin, werden zunehmend in Anspruch genommen.

Schlüsselwörter: Zugang zu Information, Deutschland, Gesundheitswesen, Bibliothekswesen, Medizinbibliothek, Bibliotheksdienste

Abstract

This article gives an overview of the state of medical libraries in Germany and selected developments of their services supporting evidence-based medicine in research, education and clinical practice. Findings from an online survey and issues of access to health information are discussed with reference to the German health care system. A major barrier to progress stems from the separation that exists between institutions of health care practice and research. New library services provided by many German health sciences libraries, especially those supporting evidence-based medicine, are experiencing increasing take-up.

Keywords: access to information, Germany, health science, librarianship, health care libraries, library services


Einleitung

Ziel dieses Artikels ist es, im Kontext des deutschen Gesundheitswesens einen Überblick über die Bibliotheken zu geben, die in Deutschland die Praxis, Forschung und Ausbildung im Gesundheitswesen unterstützen. Der Text stützt sich auf eine Umfrage unter den deutschen Bibliotheken des Gesundheitswesens und auf die Berufserfahrung der Autor*innen, die alle Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen (AGMB) sind.


Das Gesundheitssystem in Deutschland

Die Bundesrepublik Deutschland ist mit 82 Millionen Einwohnern und als Mitglied der Gruppe der Sieben (G7) sowie der Europäischen Union (EU) eine führende Industrienation. Regierung und öffentliche Verwaltung sind auf vier Ebenen organisiert: Bund, Länder, Regionen und Kommunen.

Das deutsche Gesundheitssystem ist durch eine Machtverteilung zwischen diesen Ebenen und zahlreichen weiteren Beteiligten sowie durch eine ausgeprägte Selbstverwaltung bei der Finanzierung und Versorgung gekennzeichnet. Folglich sind die Beziehungen zwischen den verschiedenen Akteuren komplex [1]. Gesundheitsversorgung wird in Deutschland nahezu flächendeckend gewährleistet. Im Jahr 2014 waren rund 87% der Bevölkerung gesetzlich versichert, weitere 11% privatversichert und ein kleiner Teil über spezielle staatliche Systeme krankenversichert [2]. Bei Gesamtausgaben für die Gesundheitsversorgung in Höhe von 333,5 Milliarden Euro (11,1% des Bruttoinlandsprodukts) in 2015 waren die Pro-Kopf-Ausgaben die höchsten innerhalb der EU. Es gibt jedoch Anzeichen für eine Überversorgung und Bedenken hinsichtlich der Kosteneffizienz und Angemessenheit der Versorgung [3].

Die Gesamtzahl der im Gesundheitsbereich tätigen Personen beträgt 5,6 Millionen, darunter 400.000 Ärzte (365.000 praktizierende, 150.000 niedergelassene) und 91.000 Zahnärzte (71.000 praktizierende) [1], [4]. Die ärztliche Ausbildung wird von 39 medizinischen und 30 zahnmedizinischen Fakultäten angeboten [5]. Das Pflegepersonal und verwandte Gesundheitsberufe haben inzwischen vielfältige Möglichkeiten akademische Abschlüsse zu erwerben, wobei die Mehrheit derzeit keine akademische Qualifikation besitzt.


Befragung deutscher Medizinbibliotheken

In einer webbasierten Umfrage, deren Beantwortung im November und Dezember 2019 drei Wochen lang möglich war, fragten wir nach den Dienstleistungen deutscher medizinischer Bibliotheken. Einladungen wurden als E-Mails an Mitglieder der AGMB (siehe unten), an Mitglieder der Arbeitsgruppe Informationsmanagement des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin und an die Mailingliste medbib-l für medizinische Bibliothekare und Bibliothekarinnen im deutschsprachigen Raum versandt. Die Umfrage basierte auf einer kürzlich in der Schweiz durchgeführten Befragung [6] und umfasste 25 Fragen zum institutionellen Umfeld der Bibliothek, zu den angebotenen Ressourcen, Dienstleistungen und zur Personalausstattung. Aus den 75 vollständig ausgefüllten Antworten wurden mit Hilfe von LimeSurvey (Version 3.17.17 + 190918) und Excel deskriptive Statistiken erstellt (siehe Tabelle 1 [Tab. 1] und Anmerkung zu Forschungsdaten).


Zugang zu Gesundheitsinformationen

Die Zersplitterung der Zuständigkeiten im deutschen Gesundheitssystem beeinträchtigt die Bereitstellung und effektive Nutzung von Information. Derzeit gibt es trotz des immensen Ressourcenaufwandes keine zentrale Strategie für die angemessene Versorgung mit evidenzbasierter Information. Die Bemühungen, das Wissen in einer Form bereitzustellen, die den Bedürfnissen der im Gesundheitssektor Tätigen und der allgemeinen Öffentlichkeit entspricht, bleiben in Deutschland deutlich hinter denen anderer Länder zurück [7]. Darüber hinaus wurden in den letzten Jahren die vorhandenen Ressourcen auf nationaler Ebene erheblich reduziert. Eine komplexe Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund (Gesundheitssektor) und Ländern (Kultursektor einschließlich Wissenschaft) führt zu einer Trennung zwischen der Gesundheitsversorgung und der Wissenschaft. Die Aufgabe der Informationsvermittlung liegt derzeit überwiegend in der Verantwortung des Wissenschaftssektors. Ein allgemeines Verständnis dafür, dass Evidenz Voraussetzung für eine gute Gesundheitsversorgung ist und somit eine essentielle Form der Daseinsfürsorge darstellt, fehlt. Folglich werden für die Bereitstellung von Gesundheitsinformation überwiegend Institutionen und finanzielle Mittel aus dem Wissenschaftssektor und nicht aus dem deutlich größeren Gesundheitssektor herangezogen.

Ein Beispiel für die dadurch verursachten Probleme ist ZB MED, die zweitgrößte medizinische Bibliothek der Welt. Sie ist eine tragende Säule des kooperativen Bibliothekswesens in Deutschland, das den Zugang zu Gesundheitsliteratur ermöglicht. Da ZB MED jedoch zum Wissenschaftssektor gehört, war ihre Existenz seit 2015 zunächst bedroht, als sie als Forschungseinrichtung (und nicht als Infrastruktureinrichtung) negativ durch die Leibniz-Gemeinschaft evaluiert wurde. Derzeit befindet sie sich in einer Übergangsphase und konzentriert ihre Aktivitäten auf die Erschließung neuer Forschungsbereiche wie der Datenwissenschaft. Die Rolle als wichtige Institution der nationalen Informations- und Literaturversorgung tritt in den Hintergrund.

Ein zweites Beispiel ist das DIMDI, das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information, ehemals eine Institution im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG). Lange bevor institutionelle Online-Zugänge verbreitet waren, übernahm das DIMDI eine führende Rolle bei der Bereitstellung des Zugriffs auf zahlreiche Literaturdatenbanken und stellte leistungsfähige, datenbankübergreifende Suchmöglichkeiten sowie eine Volltextlieferung zur Verfügung. Dieses Angebot bestand über Jahrzehnte, während der sich die Rahmenbedingungen beständig und grundlegend veränderten. Als Konstante blieb, dass mangels verfügbarer Alternativen für viele das DIMDI der einzige Zugang zu zentralen Quellen medizinischer Literatur blieb. In jüngeren Jahren waren es vor allem die auch für Universitäten oft unerschwinglich teuren Pauschallizenzen von Datenbanken, die für umfangreiche, systematische Recherchen den Pay-per-Use-Zugang via DIMDI wertvoll machten. Dieser Aufgabenbereich wurde vom Wissenschaftsrat als „solide und notwendig im deutschen Gesundheitswesen“ bezeichnet [8], in der Folge jedoch zunehmend reduziert und 2017 mit Zustimmung des BMG trotz Protesten vollständig eingestellt. Es bestünde „nicht länger die Notwendigkeit, durch ein staatliches Angebot die Informationsversorgung zu sichern”. 2020 wurde das DIMDI schließlich aufgelöst, in das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eingegliedert und fokussiert sich nun unter dem Namen BfArM Dienstsitz Köln vornehmlich auf die Herausgabe amtlicher Klassifikationen und den Betrieb regulatorischer Register.

Im Allgemeinen ist der Zugang zu medizinischer Evidenz an Universitäten mit medizinischen Fakultäten am besten gewährleistet. Uns sind nur anekdotische Berichte aus anderen Krankenhaustypen bekannt, was darauf hindeutet, dass das Informationsangebot dort variiert; manchmal wird es als praktisch nicht existent beschrieben. In der ambulanten Versorgung wird von Ärzt*innen und anderen Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens grundsätzlich erwartet, dass sie sich eigenständig Zugrifff auf medizinische Evidenz organisieren. Dasselbe gilt im Wesentlichen auch für die Bevölkerung.

Im Jahr 2014 hat die Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen die Initiative „Projekt DEAL“ gestartet, die darauf abzielt, das wissenschaftliche Publikationssystem durch bundesweite „Publish-and-Read“-Vereinbarungen mit Verlagen in ein Modell des vollständigen Open Access zu überführen und somit wissenschaftliche Information frei verfügbar zu machen. Beginnend mit den größten wissenschaftlichen Verlagen wurden Dreijahresverträge mit Wiley (2019) und Springer Nature (2020) abgeschlossen, während die Verhandlungen mit Elsevier derzeit zum Stillstand gekommen sind. Die Ziele der Initiative werden in der Wissenschaft überwiegend befürwortet, aber der Prozess birgt bislang viele Unsicherheiten für alle Beteiligten. Bedauernswerterweise sind außeruniversitäre Krankenhäuser, andere Gesundheitseinrichtungen und die Primärversorgung von den Publish-and-Read-Verträgen ausgeschlossen.


Medizinbibliotheken, Bibliothekare und Informationsspezialisten

Bibliothekar*innen und Informationsspezialist*innen, die in medizinischen und gesundheitswissenschaftlichen Bibliotheken im deutschsprachigen Raum tätig sind, können der 1970 gegründeten Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen (AGMB e.V.) beitreten. Die AGMB fördert das medizinische Bibliotheks- und Informationswesen und unterstützt die berufliche Weiterbildung sowie die nationale und internationale Zusammenarbeit der medizinischen Bibliotheken. Jährliche Konferenzen und Workshops bieten ihren 400 Mitgliedern die Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch und zur Diskussion aktueller Entwicklungen.

Universitäts- und Hochschulbibliotheken sind für die Versorgung der meisten medizinischen Fakultäten und Fachhochschulen für Gesundheitsfachberufe mit Information und Literatur zuständig. Oft verfügen sie über eine medizinische Zweigbibliothek, in einigen Fällen gibt es jedoch nur eine Fachreferentin oder einen Fachreferenten. Darüber hinaus stellen die Universitätskliniken häufig kleinere Abteilungsbibliotheken, Ressourcen für die Weiterbildung und/oder Patientenbibliotheken zur Verfügung. In außeruniversitären Krankenhäusern ist die Situation ähnlich heterogen. Vor allem größere Krankenhäuser können über wissenschaftliche Bibliotheken verfügen; einige Krankenhäuser bieten Bibliotheksdienste sowohl für Ärzt*innen als auch für Patient*innen an, während andere nur über Patientenbibliotheken verfügen. Den etwa 2.000 Krankenhäusern in Deutschland [1] stehen nur etwa 100 Krankenhausbibliothekar*innen gegenüber, die Mitglieder der AGMB sind, wobei vermutet wird, dass fast alle existierenden Krankenhausbibliothekar*innen in der AGMB organisiert sind.

Darüber hinaus sind medizinische Bibliotheken u.a. in außeruniversitären Forschungseinrichtungen und Gesundheitsbehörden zu finden. Direkt vom BMG geförderte Einrichtungen (wie das BfArM, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), das Paul-Ehrlich-Institut und das Robert-Koch-Institut) sind seit langem Teil des deutschen Gesundheitssystems. Die meisten von ihnen verfügen über kleine Spezialbibliotheken, die sich auf die Bereitstellung traditioneller Bibliotheksdienste konzentrieren. Einige haben zögernd begonnen, Informationsdienste und Forschungsunterstützung anzubieten, ausgewiesene Informationsmanager, die professionelle Informationsdienste anbieten, sind jedoch selten.

Drei Institutionen, die im deutschen Gesundheitssystem eine wichtige Rolle spielen, unterscheiden sich von der oben beschriebenen Situation. Bei diesen Institutionen handelt es sich um das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) und den Gemeinsamen Bundesausschuss, ein oberstes Entscheidungsgremium für die Versorgung durch die gesetzliche Krankenversicherung.

Sie sind vom BMG unabhängig und arbeiten auf einem hohen Grad der Selbstverwaltung. Sie verfügen über professionelle Informationsmanagement-Abteilungen, in denen Informationsspezialist*innen Dienstleistungen auf dem neuesten methodischen Stand anbieten, die mit angloamerikanischen Standards vergleichbar sind.

Im Gegensatz zu anderen Ländern, wie z.B. Großbritannien, in dem die Leitlinienerstellung Aufgabe des NICE (National Institute for Health and Care Excellence) ist, das eine große Informationsmanagement-Abteilung unterhält, ist in Deutschland die Erstellung von klinischen Leitlinien die Aufgabe der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften. Leitlinien werden häufig ehrenamtlich von Ärzt*innen erstellt, die in diesen Gesellschaften organisiert sind. Auch wenn sie dabei von der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften in Deutschland) unterstützt werden, beschäftigen weder die medizinischen Fachgesellschaften noch die AWMF ausgewiesene Informationsspezialist*innen. Daher werden in den letzten Jahren zunehmend an Universitätsbliotheken tätige medizinische Bibliothekar*innen zur Unterstützung von Leitlinienteams eingebunden. Im Rahmen der nationalen Förderung großer Leitlinienprojekte sind jedoch mittlerweile explizit Mittel für die Informationsbeschaffung vorgesehen.

Die Personalsituation in öffentlichen Einrichtungen in Deutschland ist durch eine lange Geschichte detaillierter Gesetze und Tarife geprägt, die eine strenge hierarchische Struktur vorgeben. Die Mitarbeiter*innen werden aufgrund ihrer formalen Qualifikationen einer bestimmten Laufbahn-/Gehaltsgruppe zugeordnet und haben wenig Möglichkeiten für einen Aufstieg in eine höhere Gehaltsgruppe. Die Ausbildung von Bibliothekaren und Bibliothekarinnen erfolgt auf drei Ebenen: eine Lehre mit dualer Ausbildung, ein Bachelor in Bibliotheks- und Informationswissenschaft oder ein fachbezogener, akademischer Abschluss, gefolgt von einem bibliotheks- oder informationswissenschaftlichen Master (oder einem Bibliotheksreferendariat). Kürzlich erklärte der Rat für wissenschaftliche Informationsinfrastrukturen (RfII), dass die Betonung formaler Abschlüsse im öffentlichen Tarif- und Entgeltsystem Barrieren für den Erwerb forschungsbezogener Kompetenzen durch die Mitarbeiter*innen schafft. Der Rat konstatierte einen Mangel an Forschungsaktivitäten und unterstützung in den deutschen Forschungsbibliotheken und forderte mehr wissenschaftlich qualifiziertes Personal in zentralen Infrastruktureinrichtungen wie Bibliotheken, um die gewünschte Einbettung in die Forschung zu erreichen [9]. Aktuelle Entwicklungen deuten darauf hin, dass die medizinischen Bibliotheken die Bewegung in Richtung Verbesserung anführen könnten.


Neue Serviceangebote in Bibliotheken

In unserer Umfrage erkundigten wir uns nach den Dienstleistungen der medizinischen Bibliotheken in Deutschland. Die Antworten geben ein gemischtes Bild über den aktuellen Stand der kooperativen Services zur Unterstützung von Lehre, Forschung und klinischer Praxis. In Kombination mit anderen Entwicklungen deuten sie auf ein Berufsfeld hin, das sich in Bewegung befindet (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]). Neben Vorlesungen, Kursen oder Seminaren im Rahmen des medizinischen Curriculums und optionalen Fortbildungsveranstaltungen bieten Bibliotheken aus akademischen oder Forschungseinrichtungen eine Vielzahl von Beratungs- und Unterstützungsleistungen an. Während die meisten Einrichtungen bei der Entwicklung von Suchstrategien beraten, ist die Entwicklung und Durchführung von Recherchen („Auftragsrecherchen”) für Forscher*innen, die systematische Übersichtsarbeiten, klinische Leitlinien und ähnliche Evidenzsynthesen erstellen, weniger verbreitet [10]. Ein Service „Klinische Bibliothekarin/Klinischer Bibliothekar” (clinical librarian), der schwerpunktmäßig eine professionelle Recherche nach Evidenz für die Entscheidungsunterstützung in der täglichen Praxis der Krankenversorgung bietet [11], sowie die Unterstützung bei der kritischen Bewertung klinischer Evidenz (critical appraisal) [12] sind selten. Auch eigene Forschung im Bereich der Bibliotheks- und Informationswissenschaft spielt in deutschen Medizinbibliotheken eine geringe Rolle.


Forschungsdatenmanagement

Die Universitätsbibliotheken in Deutschland haben in den letzten Jahren Services für das Forschungsdatenmanagement (FDM) aufgebaut, die mit den Entwicklungen an anderen Universitäten weltweit vergleichbar sind. In der Regel arbeiten die Bibliotheken mit Universitätsrechenzentren und zentralen Forschungsabteilungen zusammen und bilden auf regionaler Ebene Kooperationsnetzwerke. In unserer Umfrage gaben etwa 60% der Bibliotheken aus Einrichtungen der Medizin- oder Gesundheitsforschung an, dass ihre Organisation FDM-Beratung oder Unterstützung für FDM anbietet. In der Hälfte dieser Fälle bietet das medizinische Bibliotheksteam Unterstützung an. Im Vergleich zu anderen Dienstleistungen ist dieser Anteil niedriger, was sich eventuell darauf zurückführen lässt, dass es sich um einen komplexen, technisch aufwändigen und schnell entwickelnden Bereich handelt. Es gibt jedoch viele Möglichkeiten für medizinische Bibliotheken, sich im FDM zu engagieren. In den nächsten Jahren wird es im Zuge der Einrichtung der nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) wichtig werden, diese neuen forschungsunterstützenden Dienste den Forschenden und Studierenden zu vermitteln.


Neuerungen in der Lehre

Die Gesetze und Regelungen der deutschen medizinischen Curricula werden derzeit überarbeitet, um Struktur und Inhalte an die aktuellen Anforderungen des ärztlichen Berufs anzupassen [13]. Die Vermittlung von naturwissenschaftlichen Grundkenntnissen mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Evidenzbasierten Medizin wird mittlerweile stärker betont. Eine bundesweite Einführung von strukturierten Promotionsprogrammen zur Vermittlung wissenschaftlicher Kompetenzen soll die Qualität der Promotion in der Medizin verbessern. Dies stellt sowohl Herausforderungen als auch Chancen für wissenschaftliche medizinische Bibliothekare und Bibliothekarinnen in Deutschland dar. Sie lehren seit vielen Jahren sowohl freiwillige als auch verpflichtende Kurse zur Informationskompetenz. Angesichts der neuen Anforderungen an ihre Nutzergruppen sind die akademischen medizinischen Bibliotheken gefordert, über ihre traditionellen Fachkenntnisse hinauszugehen und mit Forschenden und Kliniker*innen zusammenzuarbeiten, um neue Kurse zu wissenschaftlichem Schreiben und speziell zu evidenzbasierter Medizin zu implementieren.


Fazit

In diesem narrativen Überblick, der auf einer aktuellen Umfrage und unserer beruflichen Erfahrung basiert, beleuchten wir den Stand und ausgewählte aktuelle Entwicklungen an medizinischen Bibliotheken in Deutschland. Das deutsche Gesundheitssystem verbraucht enorme finanzielle Ressourcen. Ein wesentliches Hindernis für den Fortschritt ist die Trennung zwischen den Akteuren der Gesundheitsversorgung und der Wissenschaft. Die Bereitstellung von Information ist überwiegend Aufgabe des Wissenschaftssektors, weshalb sich der Zugang zu evidenzbasierter Information für die Praxis des Gesundheitswesens in Deutschland derzeit als unzulänglich darstellt. Gleichzeitig beschränken sich die aktuellen, groß angelegten Bemühungen zur Verbesserung des Zugangs zu wissenschaftlicher Information (z.B. Projekt DEAL) auf den akademischen/wissenschaftlichen Bereich und kommen dem Gros der Gesundheitsversorgung und der Bevölkerung kaum zugute.

Neue Bibliotheksdienste werden zunehmend in Anspruch genommen. Hierzu gehören, neben der zunehmenden Einbindung medizinischer Bibliotheken in die Lehre, Services zur Forschungsunterstützung, wie z.B. Einzelberatungen für Studierende und Wissenschaftler*innen, Auftragsrecherchen für systematische Übersichtsarbeiten und Leitlinien sowie die Unterstützung von Open Access und das Forschungsdatenmanagement. Einige Aktivitäten, die in anderen Ländern lange etabliert sind, wie z.B. Clinical-Librarian-Services, Unterstützung bei der kritischen Würdigung klinischer Evidenz (critical appraisal) und eigenständige Forschung im Bereich der Bibliotheks- und Informationswissenschaft, sind in Deutschland noch selten.

Trotz der aufgezeigten strukturellen Hindernisse deuten die aktuellen Entwicklungen darauf hin, dass die medizinischen Bibliotheken in Deutschland daran arbeiten, ihre Dienstleistungen an die sich entwickelnden Bedürfnisse ihrer Trägerinstitutionen und Nutzer*innen anzupassen. Die Problematik der Unterversorgung mit evidenzbasierter Information in der Gesundheitsversorgung bleibt aktuell.


Abkürzungen

  • AGMB: Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen
  • AWMF: Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften
  • BfArM: Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte
  • BMG: Bundesministerium für Gesundheit
  • BZgA: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
  • DIMDI: Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information
  • EU: Europäische Union
  • FDM: Forschungsdatenmanagement
  • IQTIG: Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen
  • IQWiG: Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen
  • NICE: National Institute for Health and Care Excellence
  • NFDI: Nationale Forschungsdateninfrastruktur
  • RfII: Rat für wissenschaftliche Informationsinfrastrukturen
  • ZB MED: Deutsche Zentralbibliothek für Medizin – Informationszentrum Lebenswissenschaften

Anmerkungen

Hinweis

Dieser Artikel ist eine leicht modifizierte Übersetzung des im Health Information and Libraries Journal am 25. Februar 2020 auf Englisch erschienenen Originalartikels [14]. Wir haben insbesondere die Abschnitte über die Leitlinienerstellung und das DIMDI den neuen Entwicklungen angepasst.

Forschungsdaten

Die Umfrage und die Antworten auf die Umfrage in wiederverwendbaren Formaten sind unter einer Open-Access-Lizenz erhältlich [15], [16].

Danksagung

Gerhard Bissels, Sabine D. Klein und Isabelle de Kaenel erlaubten uns, unsere Umfrage auf ihre Umfrage für die Schweiz zu stützen; Gerhard Bissels ermöglichte es, die Umfrage an der Fachhochschule Graubünden zu hosten. Wir danken Brigitte Doß für die kritische Durchsicht der deutschen Fassung des Manuskripts.

Interessenkonflikte

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

1.
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2.
Busse R, Blümel M, Knieps F, Bärnighausen T. Statutory health insurance in Germany: a health system shaped by 135 years of solidarity, self-governance, and competition. Lancet. 2017 Aug;390(10097):882-97. DOI: 10.1016/S0140-6736(17)31280-1 External link
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