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Vierzig Jahre Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen: Gründung und Anfänge
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Published: | December 21, 2010 |
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Eröffnungsvortrag
Meine Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
wenn ich in die Runde blicke, sehe ich sehr viele, die sich ein Leben vor dem Internet wahrscheinlich gar nicht vorstellen können. Ich kann Ihnen versichern, dass es ein solches Leben gab, und es war oft genau so interessant, turbulent und anstrengend wie heute. Allerdings, ein Motto wie das der heutigen Tagung, „Alles, einfach, sofort“, wäre damals sogar im Traum nicht vorstellbar gewesen; es war eher ein Albtraum, dass wir damals trotz aller Bemühungen wenig mehr als das Gegenteil davon erreichten. Erlauben Sie mir, dass ich Sie für einige Minuten in diese Zeit zurückversetze, die Zeit, in der unsere Arbeitsgemeinschaft ihren Anfang nahm.
Meine Rede zum fünfundzwanzigsten Jubiläum der Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen habe ich mit einem Zitat aus der Ansprache von Prinz Bernhard der Niederlande zur Eröffnung des Third International Congress on Medical Librarianship in Amsterdam im Jahre 1969 eingeleitet, in dem er ausführt, dass die Bibliothekare nun auch wohl in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit in der Gegenwart von Wissen und Information angekommen seien. Ich hatte dieses Zitat gewählt, weil es etwas über die Stimmung dieser Umbruchzeit aussagt, aber auch, weil dieser Kongress oft, und auch von mir, als die Keimzelle der Arbeitsgemeinschaft bezeichnet worden ist.
Aber auch Keimzellen entstehen nicht aus dem Nichts; im Lauf der Zeit schwindet die Kenntnis von Gegebenheiten und Voraussetzungen, und deshalb möchte ich Sie sogar noch ein bisschen weiter in die Vergangenheit führen.
Anfang der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts herrschte Krisenstimmung im Dokumentations- und Informationswesen, ganz besonders auf dem stark wachsenden und literaturintensiven Gebiet der Medizin, und nach Ansicht vieler Fachleute drohte hier der Zusammenbruch. Ein Ausschuss des Senats der USA legte dazu dem Plenum einen dramatischen Appell vor, in dem auf die immer länger werden Verzugszeiten hingewiesen wurde, bis medizinische Wissenschaftler sich über die neuesten Forschungsergebnisse informieren könnten; es seien mittlerweile zwei bis fünf Jahre. Sogar die wohl wichtigste Bibliographie, der Quarterly Cumulative Index Medicus, erscheine mit zwei Jahren Verzugszeit. Bisher waren alle Versuche der Beschleunigung und Automatisierung fehlgeschlagen.
Was den Fachleuten bisher nicht gelungen war, bewirkte jetzt der Druck der Politik. Die folgende Reformation der Informationstechnik erreichte, allerdings nach einigen weiteren Rückschlägen, im Jahre 1964, dass der Index Medicus computergestützt produziert und abgefragt werden konnte, und damit war der große Durchbruch da.
Auch in Deutschland war man alarmiert. Um den Anschluss an die nun raschere Entwicklung besorgt, nahm die Bundesregierung die Gründung eines medizinischen Informations- und Dokumentationsinstituts in Angriff, dem meines Wissens übrigens ein Bibliothekar später seinen einprägsamen Namen DIMDI gab, und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), verantwortlich für die entsprechende Literaturversorgung, erarbeitete Empfehlungen zur Gründung der Zentralbibliothek der Medizin, der späteren Deutschen Zentralbibliothek für Medizin, die 1967 verabschiedet wurden. Vorher hatte offensichtlich Furcht vor den zu erwartenden hohen Kosten diesen Schritt hinausgezögert. Diese Empfehlungen führten 1969 zum Abkommen zwischen der DFG und dem Land Nordrhein-Westfalen, die Gründung nunmehr vorzunehmen, und zwar durch Ausbau des schon seit 1949 existierenden Sondersammelgebiets Medizin an der Medizinischen Abteilung der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln.
Gleichzeitig versuchte die DFG, die medizinischen Fachreferenten an den deutschen Hochschulen zur Zusammenarbeit zu animieren, wobei sie unter anderem an die Probleme der neuen oder in Gründung befindlichen Hochschulen dachte. Im Vordergrund standen dabei Probleme der Aufstellungssystematik und der sachlichen Literaturerschließung. Ein erstes Treffen fand auf ihre Einladung hin im Dezember 1966 in Frankfurt statt, auf dem bereits der Vorschlag zur Einrichtung einer ständigen Arbeitsgruppe gemacht wurde. Auf einer weiteren Sitzung in Bremen wurde die Empfehlung ausgesprochen, die Aufstellungssystematik der National Medical Library der USA allgemein anzuwenden. Eine ständige Arbeitsgruppe kam wieder nicht zustande.
So war die Situation, als der Third International Congress on Medical Librarianship im Mai 1970 in Amsterdam stattfand. An deutschen Bibliothekaren nahmen unter einigen anderen teil Robert Schorer, der als Leiter der Medizinischen Abteilung der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln und designierter Leiter der in Gründung stehenden Zentralbibliothek der Medizin über seine Bibliothek und die geplante Aufgabenerweiterung referierte, weiter Richard Polacsek, Leiter der neuen Universitätsbibliothek Ulm, sowie H. Fink von der Bayer AG Leverkusen, dort Leiter der Abteilung Dokumentation und Statistik. Er referierte u.a., sehr kennzeichnend für die Zeit, darüber, dass die Computersearch die Handsearch schon aus Kostengründen nicht voll ersetzen könne; auch gebe es Schwierigkeiten, sich bei dringenden Anfragen in die Warteschlange bei der Benutzung der üblichen Großrechner einzureihen. G. Böggemeyer von der Universitätsbibliothek Münster sprach über Erfahrungen mit der Dezimalklassifikation auf dem Gebiet der Medizin, ein Thema, das auch die spätere Arbeitsgemeinschaft noch länger begleiten sollte.
Die in Amsterdam anwesenden Kollegen wurden sich am Rande des Kongresses einig, dass ein ständiger Zusammenschluss von Bibliothekaren an medizinischen Bibliotheken nunmehr dringend erforderlich und an der Zeit sei, und sie konnten Herrn Schorer dafür gewinnen, zur Vorbereitung der Gründung einer Arbeitsgemeinschaft einzuladen. Es war anscheinend weniger der Eindruck des Kongresses selbst, der diesen Anstoß gab, denn dieser fand wenig Echo und hatte erst elf Jahre später in Belgrad seinen Nachfolger. Es war offenbar die Überzeugung, dass man jetzt nach den fehlgeschlagenen Versuchen den für die Gründung notwendigen Kristallisationskern hatte – die neue Zentralbibliothek der Medizin.
Zu einer ersten Sitzung lud Herr Schorer dann für November 1969 ein – sie kam wegen seines plötzlichen Todes am 9. September 1969 nicht zustande. Ich selbst hatte von diesen Vorgängen bis dahin nur sehr oberflächlich Kenntnis. Zur Zeit Leiter der Benutzungsabteilung der UStB Köln, hatte ich gerade Berufungsverhandlungen mit dem Senat einer der neuen Universitäten erfolgreich abgeschlossen. In diesem Moment bot mir Professor Krieg, damaliger Direktor der UStB Köln, im Einvernehmen mit dem Kultusministerium Nordrhein-Westfalen und der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die künftige Leitung der Zentralbibliothek der Medizin an, die mit der Aufnahme in den Landesetat am 1.1.1970 den Betrieb aufnehmen sollte. Nach kurzem Zögern entschied ich mich für diese der beiden reizvollen Aufgaben. Zu meinen ersten Amtshandlungen gehörte noch am 9. Januar 1970, zu einer Tagung mit interessierten Kollegen einzuladen. Ich war schnell zu der Überzeugung gelangt, dass ein ständiges Diskussionsforum auch im Interesse der jetzt erweiterten Bibliothek liege. Die Sitzung fand am 3. Februar 1970 in Köln statt. Auf der Tagesordnung standen die Vorstellung des ebenfalls vor kurzem gegründeten DIMDI und die Erschließung medizinischer Dissertationen, vor allem aber der geplante Zusammenschluss. Empfohlen wurde die Gründung einer Arbeitsgemeinschaft, nicht die als strenger empfundene Version eines „Vereins“ mit Beitragspflicht, gegen die sich die überwiegende Mehrheit aussprach. Es wurde eine Satzungskommission eingesetzt und die Gründung noch für 1970 in Aussicht genommen. Sie fand am 17.11.1970 statt, ebenfalls in Köln. Gegründet wurde die „Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen“. Sie eröffnete die Möglichkeit des freien Beitritts für Personen und Institutionen, dies, um möglichst vielen Interessenten aus dem heterogenen Kreis von Bibliothekarinnen und Bibliothekaren, Dokumentarinnen und Dokumentaren an Hochschulen, Krankenhäusern, pharmazeutischen Firmen, Dokumentationsstellen und sonstigen Einrichtungen die Mitarbeit zu ermöglichen. Von einer Beschränkung auf die Fachreferenten der Hochschulbibliotheken war nicht mehr die Rede. Dass die Arbeitsgemeinschaft sich auch den Kolleginnen und Kollegen deutschsprachiger Nachbarländer öffnete, war schon der Mitarbeit von Hans Wagner geschuldet, der, österreichischer Staatsbürger, Fachreferent an der Universität Bremen, wo er die Bibliothek einer zu gründenden, aber nie zustande gekommenen medizinischen Fakultät aufbauen sollte, schon lange auf die Arbeitsgemeinschaft hingearbeitet hatte. Ihr hielt er auch später als Direktor der Bibliothek des Bundesministeriums für Soziale Verwaltung und des Bundesministeriums für Gesundheit und Umweltschutz in Wien die Treue.
Das Gerüst der verabschiedeten Satzung ist in der heutigen Fassung immer noch im Wesentlichen erhalten. Dass sich an der „Vereinsform“ etwas ändern musste, sobald die AG über Geld und Vermögen verfügte, war damals schon vielen klar; diese Gegebenheit trat aber erst viel später ein. Ein gewisser Zwist über mehr oder weniger „Vereinsleben“ schwelte aber in den ersten Jahren noch weiter.
Der auf der ersten Tagung gewählte Vorstand setzte sich zusammen aus mir als Erstem Vorsitzenden, dem schon erwähnten Herrn Wagner, Bremen, und Herrn Helal, damals an der Universitätsbibliothek Bochum, später Direktor der Universitätsbibliothek Essen.
Auf dieser Sitzung habe ich auch erste Überlegungen vorgetragen, die formale und sachliche Erschließung in der Zentralbibliothek der Medizin nach den Regeln der National Library of Medicine der USA vorzunehmen. Dies stieß bei mehreren Teilnehmern auf starke Bedenken, die sich für die allgemeine Verwendung der damals in der Entwicklung befindlichen RAK aussprachen – für Bibliothekare, die in größere Systeme integriert waren, nur zu verständlich. Als ich etwas später, vor der Umstellung der Erschließungssysteme auf EDV, nochmals ähnliche Gedanken äußerte, bat mich Günther Pflug, Generaldirektor der Deutschen Bibliothek, mit dem ich auf freundschaftlichen Fuß stand, doch nicht die kaum gefestigte RAK in Gefahr zu bringen. Kürzlich, nach mehr als dreißig Jahren, habe ich eine Notiz gelesen, in der von einer Annäherung der RAK an die Anglo-American Cataloging Rules die Rede ist ...
Im Herbst 1972 billigte der Bibliotheksausschuss der Deutschen Forschungsgemeinschaft die „Empfehlungen für den Ausbau der Zentralbibliothek der Medizin in den Jahren 1972 bis 1975“. Dort heißt es auf der ersten Seite: „Die 1967 formulierten Entwicklungsziele sind in den vergangenen drei Jahren in fast allen wesentlichen Punkten erreicht worden, und die Bibliothek nimmt heute im Gesamtgefüge des wissenschaftlichen Bibliothekswesens der Bundesrepublik einen festen Platz als zentrales Reservat für medizinische Spezialliteratur ein. Auf ihre Initiative ist auch die Gründung einer Arbeitsgemeinschaft für medizinisches Bibliothekswesen zurückzuführen, die die Zusammenarbeit der Bibliotheken mit medizinischen Beständen in vielfältiger Weise fördert“. Dies war sozusagen das Adelsprädikat für unsere Arbeitsgemeinschaft durch das Gremium, das damals das einflussreichste im deutschen wissenschaftlichen Bibliothekswesen war. Dass die erwähnte „Initiative“ weit tiefere Wurzeln hatte, haben Sie meinen Worten entnehmen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich habe Sie tief in die bibliothekarische Vorzeit vor dem Siegeszug des Internet mit seinen ungeheuren Möglichkeiten geführt. Sie werden kaum noch Gelegenheit haben, zu einem weiteren Jubiläum noch einen Zeitzeugen aus ihren Gründungstagen zu hören. Ich weiß als Historiker, dass Zeitzeugenschaft wegen ihrer notwendigen Subjektivität oft mit Misstrauen betrachtet wird. Sehen Sie meine Darlegungen als einen Versuch an, die Atmosphäre der Gründungszeit ein wenig einzufangen und den Vorgängen von damals etwas Kontur zu geben, damit sie nicht ganz im Nebel der Vergangenheit verschwinden.
Ich gratuliere der Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen zu dem reichen Programm der diesjährigen „Jubiläumstagung“ und werte es als Beweis ihrer Lebendigkeit und Lebenskraft. Ich wünsche ihr, dass sie sich weiter in ihren Vorträgen und Diskussionen den immer neuen Problemen stellt, und schließe mit dem alten Wunsch
sie möge leben, wachsen und gedeihen.